Sonntag, 22. Dezember 2019

„Tauet, ihr Himmel, von oben, ihr Wolken, regnet den Gerechten“

Das Christentum wäre eine feine Sache, wenn die Christen nicht wären. Wenn sie nicht so wären, wie sie sind. Wie die allermeisten von ihnen sind. Nämlich wenig bis gar nicht christlich. Wenn alle Christen wirklich das glaubten, was zu glauben sie gelegentlich beteuern, wenn sie sich wirklich an das hielten, was ihr Glaube ihnen zu tun und zu lassen vorgibt, dann wäre das Christentum auch für Nichtchristen eine überzeugende Sache, und nur die wirklich Niederträchtigen und sehr Dummen schlössen sich ihm nicht an.
So aber …
Die Vorgaben sind klar. Du sollst Gott lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit deinem ganzen Denken und mit deiner ganzen Kraft. Das klingt radikal, extrem und fundamental und ist es auch. Aber es dürfte nicht so schwer fallen. Wenn Gott der ist, für den man ihn hält, der völlig Gute und bedingungslos Liebende, der Barmherzige, bei dem nichts unmöglich ist, wie sollte man ihn da nicht lieben wollen? Wie sollte man da nicht diese Liebe für das Höchste und Wichtigste halten, an dem alles zu messen ist? Wie sollte man da nicht sich dieser Liebe überlassen und sein Leben mit ihr erfüllen wollen?
Dazu gehört auch: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Stelle nicht dich, deine Bedürfnisse und Wünsche, deine Ängste und Launen über ihn und das, was ihn betrifft. Behandle ihn so, wie du von ihm behandelt werden möchtest. Nimm ihn so ernst, wie du dich ernst nimmst und von anderen ernst genommen werden willst. Behandle ihn nicht schlechter, als du dich behandeln würdest, wenn du an seiner Stelle wärst.
Also: Nicht morden, nicht ehebrechen, nicht stehlen, nicht lügen und betrügen, allen mit Respekt und Rücksichtnahme begegnen. Weiters: Den Hungernden zu essen und den Dürstenden zu trinken geben, die Fremden und Obdachlosen aufnehmen, die Nackten kleiden, sich um die Kranken und Gefangenen kümmern. Ist das so schwer?
Und doch gibt es solche, die sich Christen nennen, und die nicht nur nicht so leben, sondern geradewegs das Gegenteil tun. Die die Armen schikanieren oder schikaniert sehen wollen. Die gegen „Ausländer“ hetzen. Die Obdachlose verachten. Die ihre Kinder schlagen oder seelisch beschädigen. Die Menschen weggesperrt sehen wollen. Die die Bedürftigkeit erst geprüft haben wollen, bevor jemand etwas vom gemeinsamen Reichtum abbekommen darf.
Auch solche die sich Christen nennen, wirken zum Teil freiwillig und freudig an der Weltunordnung mit, die Ausbeutung, Zerstörung und Verdummung bewirkt. Sie wählen Politiker und Parteien, die nichts daran ändern werden. Eine einschneidende Änderung des Lebensstils zur Schonung der Umwelt kommt für sie nicht in Frage. Sie fliegen zum Spaß in ferne Länder oder machen Kreuzfahrten. Sie verbrauchen sinnlos Wasser und Energie und erzeugen Unmengen an Müll. Sie nehmen es hin, dass für ihren Lebensstil andere die Zeche zahlen. Wie sie es ja auch hinnehmen (oder sogar daran mitarbeiten), dass es Kriege gibt und jemand davon profitiert, dassd andere krepieren, verstümmelt werden, im Elend hausen.
Christen schauen weg. Christen beruhigen ihr Gewissen. Christen sind selbstgerecht und schamlos. Christen sind Komplize und Profiteure, sind an vorderster Front, wenn es um Unrecht und Unheil geht, nicht um dagegen zu sein, sondern weil sie mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit ganzen Denken und mit voller Kraft dafür sind.
Gewiss, es gibt Ausnahmen. Ohne sie wäre das Christentum nur ein schlechter Witz. Und viele Christen sind so in die herrschenden Verhältnisse eingespannt, dass sie weder verstehen, was sie tun, noch es ändern zu können vermeinen. Aber das Evangelium kennt keine Ausnahmen und keine Einschränkungen.
Einer: „Ich will dir nachfolgen, Herr. Aber lass mich zuerst heimgehen und meinen Vater begraben.“ Jesus: „Lass die Toten ihre Toten begraben. Du aber folge mir nach.“ Ein anderer: „Ich will dir nachfolgen, Herr. Aber zuvor lass mich von meiner Familie Abschied nehmen.“ Jesus: „Keiner, der die Hand an den Pflug gelegt hat und nochmals zurückblickt, taugt für das Reich Gottes.“
Jesus zu allen: „Wer mein Jünger sein will, der verleugne sich selbst, nehme täglich sein Kreuz auf sich und folge mir nach. Denn wer sein Leben retten will, wird es verlieren; wer aber sein Leben um meinetwillen verliert, der wird es retten. Was nützt es einem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt, dabei aber sich selbst verliert und Schaden nimmt? Denn wer sich meiner und meiner Worte schämt, dessen wird sich der Menschensohn schämen, wenn er in seiner Hoheit kommt und in der Hoheit des Vaters und der heiligen Engel.“
Nun, Hand aufs Herz, wer kann sich, daran gemessen, wirklich als Jünger Christi bezeichnen, als faktischer, nicht nur nomineller Christ?

Sonntag, 15. Dezember 2019

„Freut euch im Herrn zu jeder Zeit“

Ihr redet von Weihnachten, aber Ihr meint es ja gar nicht. Ihr meint nicht das Fest der Geburt des Sohnes Gottes, der am Kreuz starb und am dritten Tage auferstand, um uns von unseren Sünden zu erlösen, der zum Vater ging und wiederkehren wird, um die Toten und die Lebenden zu richten und alles zu vollenden. Ihr meint nicht das Fest der Geburt unseres Herrn und Erlösers, sondern diese Sache mit den Rentieren und Elfen, mit Weihnachtsmann und Weihnachtsbaum, mit Lichterketten, Christbaumkugeln, Zuckerstangen, Strümpfen, Deko und Grün und Rot und anderem Kulturmüllimport, mit Punsch und Gans, mit Kunstschnee und nerviger Musik, und mit Hektik und Streit und vor allem mit Geschenken, Geschenken, Geschenken.
Das säkulare Weihnachten, das mit dem echten Weihnachten nur den ungefähren Termin gemein hat, ist ein Fest des Konsums und der Sentimentalität. Erfunden haben es die Protestanten. In ihrem Hass auf alles Heilige, ertrugen sie es nicht, dass an den Festen des Hl. Nikolaus (6. Dezember) und der Hl. Drei Könige (6. Januar) nach altem Brauch Kinder beschenkt wurden. Sie erfanden stattdessen das „Christkind“ als Geschenkebringer, also Christus als Knaben, was aber bald nicht mehr verstanden wurde, weshalb die Leute aus dem Christkind ein als Engel verkleidetes Mädchen machten. Darum ist es auch eine besondere Ironie der Kulturgeschichte, dass für das säkulare Weihnachten global der „Weihnachtsmann“ viel wichtiger geworden ist, eine Zerrform des Hl. Nikolaus, ein fetter alter Mann in rotem Kostüm mit Kunstpelzbesatz, ein launiger Paketbote mit Schlitten und Rentieren, Elfengehilfen und Fabrik am Nordpol. Säkulare Pseudomythen, Hauptsache, man hat etwas, um die Kinder damit zu belügen.
Längst ist die christliche Krippe vom neuheidnischen Weihnachtsbaum überwuchert. An die Stelle der Feier, dass Gottes Sohn sich uns schenkt, ist eine Orgie des schlechten Geschmacks und der deformierten Gefühle geworden, die die Kassen der Konzerne und Kleinhändler zum Klingeln bringen soll. Umsatz statt Erlösung.
Jeder weiß es, kaum einer kann sich davon freimachen. Dass auch Christen das Spiel mitspielen, dass sie Weihnachtsbäume in und vor ihre Kirchen stellen (es fehlen nur noch Rentiere statt Ochs und Esel) weder den Advent, zu dem der Heilige Abend noch gehört, als Zeit der Besinnung und des Fastens begehen, noch Weihnachten als Fest, das auf die Wiederkunft Christi verweist, also auf die Auferstehung der Toten und das Jüngste Gericht, ist zutiefst traurig. Sie essen und trinken, sie singen und schenken sich selbst ihren Untergang herbei.

Freitag, 13. Dezember 2019

Und die getreten werden

Die Verwunderung über Aung San Suu Kyi wundert mich. Wie könne die Friedensnobelpreisträgerin nur den Völkermord an den Rohingya kleinreden und so tun, als hätten sich die massakrierenden Soldaten nur ganz legitim gegen Terroristen gewehrt, mit vielleicht hie und da ein paar unschönen Übereifrigkeiten?
Von der Person von Aung San Suu Kyi ganz abgesehen (die immer schon autoritär und nationalistisch war) liegt da ein Denkfehler zu Grunde. Die Unterdrückten sind nicht die besseren Menschen. Bloß weil etwa die Myanmarer unter einer Militärdiktatur litten, heißt das nicht, dass sie, wenn diese Diktatur an Macht eingebüßt hat, nun in engelsgleicher Unschuld lebten.
Keine Bevölkerung, keine Klasse, keine Gruppe verkörpert deshalb, weil sie unterdrückt wird oder wurde das Gute „an sich“. Unterdrückung, Verfolgung, versuchte Auslöschung machen niemanden zu einem besseren Menschen.  Nicht von sich aus. Manche wachsen durch Unrecht, das ihnen widerfuhr, über sich hinaus (Nelson Mandela). Aber das ist selten und nicht die Regel.
Schon mal was von Foucaults Kritik an der Repressionshypothese gehört? Die bezieht sich zwar auf das Thema Sexualität, ist aber auch erweitert anwendbar. Herrschende gesellschaftliche Verhältnisse sind nie einfach bloß restriktiv, sondern immer auch produktiv. Sie bringen Subjekte (also Untertanen) hervor, ermöglichen und fördern Lebensweisen, affektive Bindungen, Weltsichten. Sie erziehen zur Systemimmanenz, nicht zu geistiger Unabhängigkeit und souveräner Widersetzlichkeit. Wer in einem Herrschaftsapparat „unten“ ist, hat genau so seine notwendige Funktion wie der, der „oben“ ist; die meisten sind eh irgendwo mittendrin.
Es ist dieser Denkfehler, der dazu verführte, vom Proletariat die Befreiung zu erwarten. Das ist selbstverständlich Unsinn. Die Geschichte hat es gezeigt: Die Unterdrückten mögen ein Unbehagen verspüren und manchmal revoltieren, aber sie wirken im Großen und Ganzen zwangsläufig an ihrer Unterdrückung mit, sie sind ein systemrelevanter und systemstabilisierender Faktor.
Manche haben ihre Hoffnungen von der Arbeiterklasse auf die Kolonialisierten übertragen, und sind darum immer enttäuscht, wenn postkoloniale Gesellschaften nicht von Demokratie, Solidarität und Achtung der Menschenrechte geprägt sind, sondern von Korruption, Machtmissbrauch und mörderischem Nationalismus. Derselbe Denkfehler. Die Unterdrückten sind, auch nach Aufhebung der Unterdrückung (an der sie mitwirken mussten) nicht Spezialisten in Sachen Freiheit und Würde.
Besonders trauriges Beispiel: Drei Jahre nach der Endes Nazismus und seiner millionenfachen Entwürdigung, Entrechtung, Verfolgung, Verschleppung, Folter und Ermordung von Menschen mit der „Begründung“, dass es Juden und Jüdinnen seien, gründeten Menschen mit der Begründung, dass sie Juden und Jüdinnen seien, einen Staat auf die vieltausendfache Entwürdigung, Entrechtung, Verfolgung, Vertreibung, Folter und Ermordung von Menschen.
Aus der Geschichte lernen?“ Gern, aber das sollen die anderen machen, die haben es nötiger. „Niemals wieder?“ Gern, aber nur nie wieder (solches Unrecht) an uns, sehr wohl aber (solches Unrecht) durch uns.

Montag, 9. Dezember 2019

„Siehe, der Herr wird kommen, zu retten die Völker“

Wir schauen lieber weg. Nicht immer, denn es gibt vorzügliche Berichte mit Bildern, die sich ins Gedächtnis brennen. Aber wir schauen mit dem Herzen weg. Mehr noch, das Elend der Welt, von dem wir nichts wissen wollen, soll bleiben, wo es ist und auf keinen Fall zu uns kommen, und wenn seine Ausläufer uns erreichen, wählen wir Politiker, die versprechen, es uns vom Hals zu halten.
Wir wissen: Es gibt viel zu viele Menschen auf der Welt, die hungern, die im Dreck leben, die keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser haben, die an eigentlich leicht heilbaren Krankheiten sterben, die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft werden.
Wir wissen: Das Elend der anderen und unser Wohlstand hängen zusammen. Die reichen Länder beuten die armen aus, ihre Rohstoffe und Arbeitskräfte. Wir lassen billig „dort unten“ produzieren und liefern Waffen, damit die Kriege nicht enden.
Wir wissen: Selbst wenn es bei uns nicht jedem gut geht, geht es jedem besser als der Masse der Menschen dort, wo wir vielleicht Urlaub machen, aber nicht leben wollen würden.
Wir wissen das. Aber wir schauen mit dem Herzen weg. Wir stellen das Gewissen auf Durchzug: Was kann ich schon ändern? Wenn ich mir das neueste Handy nicht kaufe, geht nicht auch nur ein Kind mehr zur Schule, dort, wo wichtige Materialien meines Spielzeugs herkommen.
Stimmt. Einzelne können wenig tun. Aber leben wir nicht in Demokratien? Dürfen wir unsere Regierungen nicht wählen? Warum geben so viele Menschen Politikern ihre Stimme, die nichts gegen Ausbeutung, Umweltzerstörung und Verdummung leisten, sondern im Gegenteil ein Weiterwursteln im herrschenden Weltwirtschaftssystem befürworten? Warum gibt es eigentlich keine anderen Politiker?
Vielleicht gäbe es sie, wenn wir bereit wären, sie zu wählen. Wir wollen aber nicht, dass wir unsere Lebensweise, unsere Einstellung zu uns selbst und zu unseren Mitmenschen, unser Verhalten in der Welt ändern müssen. Wir haben uns in den herrschenden Verhältnissen eingerichtet, den Preis lassen wir nicht zuletzt andere bezahlen.
Aber wie lange noch? Bis zum Jüngsten Tag? An den glauben wir nicht. Wir haben die Evolution erfunden, die Genetik, die Tiefenpsychologie, die Hirnforschung, um für nichts mehr verantwortlich zu sein. Wir wissen, was wir lieber nicht wahrhaben wollen. Wir haben das Gewissen abgeschafft und Moral zu einem Schimpfwort gemacht oder zu einem schlechten Witz. Wir können ohnehin nichts tun. Und letztlich wollen wir es lieber nicht gewesen sein. Wider besseres Wissen schauen wir mit dem Herzen weg.

Sonntag, 1. Dezember 2019

„Zu dir erhebe ich meine Seele“

Manchen passt nicht, was Jesus nach dem Zeugnis der Evangelien sagte, sie hätten gern, dass anderes gesagt worden wäre oder das Gesagte anders. Neuerdings hätte man gern, das Jesus die Gleichheit von Männern und Frauen propagiert hätte, die Mütterlichkeit Gottes, das weibliche Priestertum, dass er Ehebruch und andere Unzucht gutgeheißen hätte und überhaupt mehr dem vorgegriffen hätte, was heute Zeitgeist ist.
Dem Einwand, dass aber nun einmal geschrieben stehe, was geschrieben stehe, und dass man entweder am Zeugnis der Schrift festhalten oder sich willkürlich ein anderes Evangelium erfinden müsse, begegnen die ganz Schlauen damit, dass sie behaupten, Jesus habe eben zu seiner Zeit nicht alles sagen können, was er habe sagen wollen, seine Zeitgenossen hätten ihn sonst nicht verstanden und wären vor den Kopf gestoßen gewesen.
Wer so argumentiert, sagt implizit zweierlei. Zum einen, dass wir heute so schrecklich viel klüger sind als Jesu Zeitgenossen, wir sind aufgeklärt und vorurteilsfrei und wissen es einfach besser, als jene, die gewürdigt wurden, dass der Sohn Gottes unter ihnen lebte, und von denen die Schriften stammen, die Leben und Lehre, Tod und Auferstehung Jesu bezeugen. Erst wir Heutigen sind in der Lage, richtig zu verstehen, was Jesus sagte und was er eigentlich hätte sagen sollte.
Und zum anderen ist mit der Behauptung, Jesus habe nicht alles sagen können, was er hätte sagen sollen, mitgesagt: Jesus war nicht Gottes Sohn. Er hatte keine Vollmacht von oben, er verkündete nicht den Willen Gottes, sondern er lehrte, was gut ankam, was die Leute hören wollten, nichts, was sie hätte überfordern müssen. Ebenso wenig wie den Propheten vor ihm war es ihm möglich, etwas zu verkünden, was den Vorstellungen seiner Zeitgenossen widersprochen hätte. Jesus war ein Kind seiner Zeit und ihr verhaftet. Kurzum, selbst wenn er wollte, könnte Gott sich nicht gegen die Vorurteile der Menschen durchsetzen.
Beides ist selbstverständlich falsch. Auch wenn Jesus zu einer bestimmten Zeit an bestimmten Ort lebte und in bestimmten Sprachen sprach, so war seine Rede doch nicht gebunden an beschränkte Vorstellungen und herrschende Vorurteile. Mehr als einmal stieß er, nach dem Zeugnis der Schrift, seine Zuhörer vor den Kopf. Letztlich wurde er wegen seiner Lehre getötet. Aber was er lehrte, war zu allen Zeiten überall allen Menschen guten Willens zugänglich, es ist einfach und klar. Wo es zum Verständnis des historischen Kontextes und zur Deutung des theologischen Wissens bedarf, so wurde beides zu allen Zeiten von der Überlieferungsgemeinschaft, auch Kirche genannt, mit größter Achtsamkeit und penibler Sorgfalt im Rahmen des Möglichen bereitgestellt.
Es braucht also kein anderes Evangelium. Nicht die Wünsche und Vorurteile irgendwelcher jeweils Heutiger sind das Maß der Verkündigung, sondern die Menschen aller Zeiten müssen sich an dem messen lassen, was Jesus verkündigte und denen, die an ihn glauben, zur Verkündigung auftrug.
Alle Christen müssen wissen: Wo die Kirche sich dem Zeitgeist unterwirft, verrät sie Christus, wo sie Christus folgt, wird sie dem Zeitgeist widersprechen müssen.

Freitag, 22. November 2019

Unterwegs (10)

An der Bushaltestelle stand vor mir ein junger Mann, dessen Hinterbacken, den Hosenstoff modellierend, eine perfekte Kurve beschrieben, die allerdings empfindlich gestört wurde durch das in die Gesäßtasche gesteckte Mobiltelephon. Scheißdinger.

Freitag, 15. November 2019

Upskirting

Künftig soll es, lese ich, in der BRD verboten sein, Frauen ohne deren Erlaubnis unter den Rock oder das Kleid zu photographieren. Eine feministische Errungenschaft! Ein weiteres Sonderrecht für Frauen, Zementierung der matriarchalen Ungleichberechtigung. Dabei wäre Schutz der Intimität auch ohne Justizapparat zu haben. Wenn Frauen sich nicht wie Sex-Objekte anzögen, würden sie auch nicht wie Sex-Objekte behandelt. Auch hier also wäre die Burka eine praktikable Lösung.

Samstag, 9. November 2019

Notiz zum „Mauerfall“

Beim Wiedersehen der 30 Jahre alten Fernsehbilder stelle ich fest, dass mir die hysterischen Wahnsinn-Wahnsinn-Wahnsinn-Schreier so unsympathisch sind wie damals. Ja, sie konnten plötzlich in den Westen. Na und? Die SED hatte eines wesentlichen Repressionsmittel aus der Hand gegeben. Doch bis 1961 hatte es in Berlin bekanntlich gar keine Mauer gegeben. Viele Menschen nutzten das, um die SBZ oder die DDR zu verlassen. Aber viel, viel mehr Menschen taten das nicht. Im Gegenteil. Sie blieben wo sie waren und machten mit. Jahre- und jahrzehntelang dienten sie auf die eine oder andere Weise dem Regime. Jeder sechste Erwachsene war SED-Mitglied. Fast alle plapperten im vorgegeben Jargon, katzbuckelten vor der Macht, winkten und jubelten, wo zu winken und jubeln war. Dass der Konformismus erzwungen war, ändert nichts daran, dass viele im Herzen angepasst waren. Über eine halbe Million Menschen fungierten als Stasi-Spitzel. Heute schwärmt man von der gegenseitigen Hilfsbereitschaft, damals wusste man, ein falsches Wort gegenüber der richtigen Person, und du gehst in den Knast. Heute ist viel vom „Mut“ der DDR-Bürger die Rede. Ich verstehe nicht, worin der bestanden haben soll. Lange Zeit waren sie Mitläufer und Mittäter (die Zahl der Oppositionellen fiel kaum ins Gewicht). Als andere auf die Straße gingen, gingen sie mit. Ihre Parolen wurden zügig dümmer. Ihr Ziel war rasch Westmark und Konsumfreiheit. Der Untertan verachtet die Macht, die ihm nichts mehr antun kann. Vielleicht ist das eine Ursache für die ostdeutsche Melancholie: Sie hatten ihre Unterdrückung geliebt, dann verloren und können jetzt nicht zugeben, dass sie sie je geliebt haben. Dafür muss es Schuldige geben. Die Fremden und die, die ― wie ich ― ohne Respekt für die „Lebensleistung“ (Speichellecken, Heucheln, den Betrieb beklauen, Denunzieren ...) der Ossis sind. Beim Wiedersehen der alten Fernsehbilder fällt mir das alles wieder ein.

Freitag, 8. November 2019

Haltet mich für zimperlich, aber für mich ist schon das Wort „Ausländerbehörde“ ein Hassverbrechen.

Mittwoch, 6. November 2019

Meinungsfreiheit

Ich habe dir zugehört. Du redest Scheiße. Das ist nicht nur so ein Gefühl von mir, ich habe Argumente dafür. Darum wäre es mir lieber, wenn du die Fresse hieltest. Wenn du jetzt beleidigt bist, mach das bitte mit dir selber aus.

Dienstag, 5. November 2019

Burka!

Über den „Islamischen Staat“ kann und muss man gewiss viel, sehr viel Schlechtes sagen. Aber auf den rezenten Fernsehbildern von den Lagern von IS-Angehörigen sah ich keine einzige hässliche Frau. Was selbstverständlich daran lag, dass alle Frauen völlig verhüllt waren. Mit anderen Worten, es ist nicht alles schlecht am Islamismus.

Montag, 4. November 2019

Zu Handke

Ja, sicher, das Problem ist ein Schriftsteller, der nicht dem antiserbischen Narrativ folgt, und das Problem sind nicht etwa die Politiker und Manager, die mit menschenverachtenden Diktaturen (China, Russland, Saudi-Arabien usw. usf.) Geschäfte machen.

Samstag, 2. November 2019

Notizen aus Thüringen

In Thüringen verstehen sie was von Würsten. Von Bier nicht. Jetzt versteh ich Nietzsche besser.

Den Jammer-Ossi gibt es wirklich. Ich bin ihm begegnet. Mehrfach. Als Männchen und Weibchen. Schlechte Laune als Grundhaltung zur Mitwelt. Und am Dauerwinter des eigenen Missvergnügen muss ja jemand anderer schuld sein. Ein Beispiel von vielen: Der Führer im Romantikerhaus zu Jena, der seiner Gruppe erlärte, nach der Wende sei er an der Universität entlassen worden, von 30 Professoren seien 29 aus dem Westen gekommen, er habe dann statt Studenten unwillige Schüler am Gymnasium unterrichten müssen – und das alles zusammenfasste in der Wendung „Das war ein ganz schöner Knacks in meiner Biographie“. Das Ressentiment derer, die brav und angepasst gewesen waren und das Pech hatten, dass ihr geliebter Unrechtsstaat implodierte.

Jammer-Ossi. Beispiel 2. Bei dem Taxifahrer, von dem ich am ersten Abend in Weimar vom Bahnhof zum Hotel gefahren worden war, und der mir in breitestem „Thüringsch“ erklärt hatte, ich könne mal froh sein, dass er noch vorbeigekommen sei, eigentlich habe er schon nach Hause fahren wollen, stieg ich am nächsten Abend an derselben Stelle zufällig wieder ein. Wieder breitester Dialekt, erst nach zweimaliger Nachfrage verstand ich, dass er außer der Adresse, die ich ihm gesagt hatte, auch das Hotel erfragte. Er habe mich doch gestern schon gefahren, sagte ich. Daran könne er sich nicht erinnern, sagte er. Klar, er fährt jeden Abend einen Österreicher vom Bahnhof zum Frauenplan. Durch hartnäckige Konversation, bei der er meinem Wiener Charme zunächst immer mit „thüringscher“ Widerrede konterte, gelang es mir, ihn etwas aufzutauen, bis er am Zielort sogar lachte. – Was ist das nur für eine Haltung zu Beruf, Kunde, Leben, erst einmal schlecht gelaunt im eigenen Saft zu schmoren? So konnte das mit dem Sozialismus nix werden: Hamwa nich, jibt es nich, kommt ooch nich rein. Ich hätte gern gefragt, ob’s in der DDR auch Taxen gab, fürchtete mich aber vorm Affekt der möglichen Antworten: So'n bourgeoisen Kram hatten wir hier früher nicht. Oder: Was denken Sie denn, dass wir wie Affen auf den Bäumken hockten?

Jammer-Ossi. Beispiel 3. Dem Taxifahrer, der mich in Jena vom Bahnhof zur Oberlauengasse brachte, stand am Rand des Marktplatzes ein Lieferwagen etwas im Wege. Männer, die nicht blond und blauäugig waren, luden dort etwas aus oder ein. „Diese Kuruzzen überall!“, brüllte der Taxler. Na hören Sie mal, sagte ich, was sind denn das für Ausdrücke. „Wieso, kann man doch sagen, das Wort gibt's doch Stimmt, aber außerhalb von historischen Darstellungen der antihansburgischen Aufstände des 17. Jahrhunderts war es mir noch nie begegnet. Schon gar nicht als Synonym für Kümmeltürken, Kameltreiber oder andere rassistische Beschimpfungen. Von Thüringen lernen, heißt brutal granteln lernen.

Und dann war da noch die (nicht-thüringische) Frau, die im Frühstücksraum von ihrem Bekannten Karim erzählte, einem syrischen Flüchtling, der einmal seinen Bruder in Dresden besucht habe und spaßeshalber bei einer PEGIDA-Demo unerkannt mitmarschiert sei. „Es war ihm ein innerer Reichsparteitag.“ – Deutsche, achtet auf eure Redewendungen!

Einer der sympathischsten und faszinierendsten Thüringer, die mir in Weimar begegneten, war unser Führer durch die Gedenkstätte Buchenwald. Ein rüstiger Rentner, der anschaulich und nachdrücklich sprach, sich nur selten wiederholte und mit Bedacht versuchte, die Besucher einzubeziehen. Als er einmal erzählte, er habe als Kind Männer in Schlafanzügen auf dem Feld Kartoffeln klauben sehen und seinem Vater davon berichtet, der ihn aufklärte, die „Schlafanzüge“ seien Kazettkleidung gewesen, wurde mir abrupt klar, dass der Guide etwa 80 Jahre alt sein musste (etwas jünger als meine Eltern!) und dass das Grauen nicht in ferner Vergangenheit stattfand, sondern gleichsam gestern.

Über die Oberlippenbärte hab ich noch gar nichts gesagt. Davon sind mir in Thüringen einige begegnet. Viele. Zu viele. Vor allem bei Männern. Ich will nicht gleich von Schnäuzern sprechen, aber von ostentativem Bartwuchs zwischen Nase und Oberlippe. Das ist sooo ossimäßig. Na ja, darum wohl.

Freitag, 1. November 2019

Über Hass

Man kann es auch so sehen: Wenn Politiker und Journalisten nicht so oft so hassenswert dumm und niederträchtigt wären, würden sie auch nicht so oft gehasst.
* * * 

Dass der Pöbel oft die falschen Leute oder aus falschen Gründen hasst, spricht nicht gegen den Hass, sondern gegen den Pöbel und seine Dummheit und Niedertracht.

Samstag, 19. Oktober 2019

Zuwanderung aus christlicher Sicht

Was die Zuwanderung betrifft, so ist mit dem Evangelium einzig und allein eine Politik der offenen Grenzen vereinbar. Jeder, der es nötig hat, also nicht nur der „politisch“ Verfolgte, sondern gerade auch der „Wirtschaftsflüchtling“, also der, der vor Armut und Unbildung flieht, muss willkommen geheißen und aufgenommen werden.
Jesus lehrt uns, den Hungrigen und Durstigen etwas zu essen und zu trinken zu geben, die Nackten zu kleiden, die Obdachlosen zu beherbergen und uns um die Kranken und Gefangenen zu kümmern. Schlimm genug, wenn das innerhalb von Gesellschaften nicht geschieht. Doch was die Auswanderung aus einer und die Einwanderung in eine andere Gesellschaft betrifft, gibt es ebenfalls keinen Grund, zwischen „uns“ (für die wir verantwortlich sind) und „denen“ (deren Leid uns nichts angeht) zu unterscheiden.
Es heißt klar und einfach: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Und nicht: Sorge nur für den, der dir nützlich ist, für den, von dessen Ausbildung und Beruf du profitieren willst, für den, der deine Sprache spricht, für den, dessen Gewohnheiten sich mit deinen Vereinbaren lassen und dessen Überzeugungen du verstehst und billigst, weil es die deinen sind.
Der Einwand, die Gebote Christi gälten nur für den Einzelnen, nicht für hochkomplexe Gesellschaften, ist falsch. Es kann nicht sein, dass der Einzelne nicht lügen, nicht stehlen, nicht morden darf, eine Gemeinschaft aber schon. Lüge, Diebstahl, Mord sind immer verwerflich. Zumal es keine Handlungen einer Gemeinschaft gibt, die nicht von Einzelnen vollzogen würden. Gemeinschaftliches Handeln ist auf einander bezogenes Handeln von Einzelnen. Schon deshalb gelten dafür dieselben Gebote. Ein Christ kann nicht „privat“ dem Gebot der Nächstenliebe folgen, aber „öffentlich“ nicht. Verhält er sich so, verhält er sich falsch und folgt nicht Christus nach.
Es stimmt, niemand ist über sein Können hinaus verpflichtet. Wer aber sagt, wie viele Menschen genau in eine Gesellschaft einwandern können, bevor die „Belastbarkeit“ überschritten ist? Wer definiert überhaupt die Zuwanderung von Menschen mit Hoffnungen und Fähigkeiten, mit dem Wunsch nach einem besseren Leben als Last statt als Potenzial? Wer sagt, Zuwanderung müsse bedeuten, dass alles beim Alten bleibe und die Zugewanderten mehr oder minder wegassimiliert würden? Wer sagt, dass das (politisch, ökonomisch, kulturell, sprachlich) Gewohnte Ewigkeitswert haben müsse? Gesellschaften verändern sich sowieso. Und ist nicht eine Veränderung besser, die mehr Menschen Sicherheit und Wohlstand bringt.
Das Weiterso-wie-bisher ist tödlich. Es ist der Weg der Sünde. Jesus ruft zur Umkehr auf: Zur Veränderung der Haltung zu Mitmenschen und Gott. Jesus sagt nicht: Schaff dir eine komfortable Nische in dieser Welt, in der du das Elend drumherum überstehen kannst. Er sagt: Liebt einander. Er sagt nicht: Mach Karriere, verdiene viel Geld, flieg oft in Urlaub, kauf dir ein Haus, Unterhaltungselektronik und ein Netflix-Abo usw. usf. Er sagt: Es gibt keine größere Liebe, als wenn einer sein Leben für seine Freunde hingibt.

Mittwoch, 16. Oktober 2019

Unterwegs (9)

Im Zug eine Horde junger Mädchen (dreizehn? vierzehn?). Eine überlegt, ob sie sich zu Weihnachten lieber airpods (kabellose Kopfhörer) oder eine Gitarre wünschen solle. Eine andere fragt sie daraufhhin, ob sie, wenn sie nicht schon einen Freund hätte, lieber einen hätte, der Gitarre, oder einen, der Klavier spielen könne. Die Gruppe diskutiert die Vor- und Nachzüge. Eine meint: Vielleicht Geige? Nein, heißt es darauf, Geige ist schwul.

Sonntag, 13. Oktober 2019

Aufgeschnappt (bei André Malraux)

In einer Welt, die, wie Sie wissen, einigermaßen absurd ist, gibt es etwas, das nicht absurd ist: Was man für andere tun kann.

Samstag, 12. Oktober 2019

Deutsche Betroffenheit und die Folgen

Wer schon mal in der BRD war, weiß, dass das mit dem besonderen Sinn von deren Bewohnern für Ordnung, Gründlichkeit und Effizienz ein Mythos ist. Aber in einer Sache sind die Deutschen richtig, richtig gut: Betroffenheitsgequatsche. Da macht ihnen keiner was vor. Genauer gesagt: da machen sie sich selber was vor.
So auch nach dem gescheiterten Anschlag auf eine Synagoge in Halle, bei dem zwei Menschen ermordeten wurden. Sofort gehen die Emotionen hoch, die eingebildete Solidarität ist maßlos, jeder weiß sofort, dass alle anderen schuld sind und dass auch ein einzelner Täter kein „Einzeltäter“ sein kann, weil der sogenannte „Antisemitismus“ anscheinend etwas wie eine Krankheit ist, die überall auf Ansteckung lauert und von der man nicht wissen muss, dass man sie hat, um andere an ihr leiden zu lassen.
Sofort auch wird ein allgemeines Bedrohungsszenario entworfen. Jüdische Einrichtungen müssten ab sofort stärker geschützt werden. Dabei hat gerade Halle gezeigt, dass gut verschlossene Türen genügen, damit niemandem ein Haar gekrümmt wird. Möchte man wirklich, das Menschen nur noch unter schwer bewaffnetem Polizeischutz beten dürfen, ihre Kinder in Kitas und Schulen bringen können usw.? Schon jetzt symbolisieren Polizei und private Sicherheitsdienste, dass „jüdisches Leben in Deutschland“ eine Art Fremdkörper ist, für den keine Normalität gilt. Will man das?
Vor allem aber wäre zu fragen, ob die gewaltige Bedrohung, die jetzt fürsorglich imaginiert, denn wirklich besteht. 2018 wurden in der BRD 62 „antisemitische Gewalttaten“ angezeigt. Zweifellos jede davon eine zu viel. Aber bei fast einer Viertelmillion Juden in einer Bevölkerung von über 80 Millionen sind 0,17 angezeigte Straftaten pro Tag nicht gerade alarmierend. Im selben Zeitraum gab es im deutschen Straßenverkehr 3.275 Todesopfer, 396.000 Menschen wurden verletzt. Solche Opferzahlen zu vergleichen heißt, Äpfel mit Birnen zu verrechnen, führt aber vor, welche Zahlen welche Emotionen auslösen.
Dass nicht jeder Tod deutschen Gemütern gleich viel zählt, ist bekannt. Die beiden Zufallsopfer von Halle werden betrauert, als hätte sie jeder gekannt oder kennen wollen. Irgendwelche anonymen Palästinenser hingegen, die von israelischen Heckenschützen oder Patrouillen abgeknallt werden, sind allenfalls eine Zahl in den Nachrichten. Mehr will man davon nicht wissen. Dort ist halt irgendsoein „Konflikt“.
Überhaupt ist ja alles, was mit Juden, Jüdinnen, Judentum, Israel zu tun hat, in der BRD in einen emotionalen Kokon eingesponnen, der Differenzierungen, gar Kritik nicht erlaubt. Wer Kritik an Israel übt, wird als „Antisemit“ diffamiert, und das zu sagen, ist wohl auch wieder „antisemitisch“. Der Gedanke, dass es keinen jüdischen Staat geben müsse ― sondern beispielsweise ein Gemeinwesen geben könnte, dessen Bürgerinnen und Bürger unabhängig von Religion und Abstammung gleiche Rechte und Pflichten hätten ―, wird gleichgesetzt mit dem starken Drang, alle Juden zu vergasen. Gegen die gewaltfreie Bewegung BDS, die für (moralische und völkerrechtliche) Selbstverständlichkeiten wie ein Ende der Besatzung und ein Rückkehrrecht der Flüchtlinge eintritt, werden sogar Parlamentsbeschlüsse gefasst.
Der Killer von Halle, dessen Motivation und verworrenes Weltbild mich ehrlich gesagt nicht interessieren, war freilich kein „Antizionist“, sondern ein Möchtegernmörder, der an einer Tür scheiterte und dann willkürlich zwei Menschen abknallte.
Was hat nun die hysterische Wir-müssen-unsere-Juden-schützen-Haltung der meisten Deutschen mit neonazistischer Gewalt zu tun? „Antisemitismus“ und sich blind, taub und dumm stellender „Philosemitismus“ sind zwei Seiten ein und derselben Medaille. Immer sind „die Juden“ das Objekt, an das man beliebige Affekte hängen kann, je nach dem positive oder negative. Rational ist das nicht.
Der Einwand, dass man in Deutschland nicht rational gegenüber Jüdischem sein können, sondern auf Grund der Vernichtungsgeschichte uneingeschränkt positiv voreingenommen sein müsse, zeigt nur, dass man nichts gelernt hat. Die millionenfache Entwürdigung, Entrechtung, Enteignung, Vertreibung, Verschleppung, Quälerei und Ermordung von Menschen mit der „Begründung“, es seien Juden und Jüdinnen, abzielte, war völlig irrational, wenn auch begründungsideologisch und umsetzungsmethodisch rationalisiert. Irrationalismus mit Irrationalismus zu begegnen, halte ich für problematisch. Vernunft, nicht undurchdachtes Vorurteil (sei es negativ oder positiv), sollte den Umgang von Menschen miteinander bestimmen.
Daraus, dass jüdischen Gemeinden in der BRD und ihre Vertreter (in der Öffentlichkeit) den Zionismus und die israelische Politik rechtfertigen und oft genug Kritik diffamieren, folgt nicht, dass man irgendwen umbringen darf. Niemand darf irgendwen ermorden. Aber daraus, dass es Judenhass und judenfeindliche Gewalt gibt, folgt auch nicht, dass alles immer unkritisierbar ist, was Juden tun. Aber genau das ist ein Effekt, den das Einspinnen in den „philosemtischen“ Betroffenheitskokon hat. Die Nation, die sich nicht genug darin tun kann, vor „Antisemitismus“ zu warnen und endlich gegen ihn vorgehen zu wollen, ist dieselbe moralisch verrottete Gesellschaft, die mehrheitlich in freien Wahlen eine Regierung ermöglicht hat, die Flüchtlinge im Mittelmeer ertrinken und in Lagern in Griechenland, der Türkei und Libyen dahinvegetieren lässt; die immer neue Rüstungsexporte genehmigt, die unzähligen Menschen das Leben kosten; die überhaupt wesentlich eine Wirtschaftsordnung fördert, die weltweit Ausbeutung und Umweltzerstörung zur Geschäftsgrundlage hat; eine Regierung, die nicht zuletzt fest an der Seite des Staates Israel steht, möge dessen konkrete Politik auch noch so rassistisch und mörderisch sein.
„Antisemitismus“ gibt es nicht deshalb, weil Israel verbrecherische Politik macht. Aber Israels verbrecherische Politik nicht beim Namen nennen zu können, weil das „antisemitisch“ sei ― „man sieht ja, wohin das führt: Halle!“ ―, ist eine Wirkung des Betroffenheitsgetues, das von echter Trauer und dem echten Willen, jedem Menschen die Ausübung derselben Rechte zu ermöglichen und denselben Schutz zu gewähren, in Wirklichkeit weit entfernt ist. Wären „die Deutschen“ wirklich besorgt um Menschenleben, die durch Menschen aus ihrer Mitte gefährdet und ausgelöscht werden, produzierten sie keine Waffen, freuten sich nicht darüber, „Exportweltmeister“ zu sein und machten keine Geschäfte mit Diktaturen (China, Russland, Saudi-Arabien e tutti quanti).
Gewiss, „Antisemitismus“ ist Quatsch. Aber nicht nur der „Antisemitismus“, für den jemand ist, sondern auch der „Antisemitismus“, gegen den jemand ist. Ein Verbrechen wird nicht schlimmer, wenn es „antisemitisch“ motiviert oder qualifiziert wird. Mord ist Mord. Jedes Leben ist heilig. In Halle und überall.

Donnerstag, 10. Oktober 2019

Aufgeschnappt (bei Primo Levi)

Es gibt die Ungeheuer, aber sie sind zu wenig, als dass sie wirklich gefährlich werden könnten. Wer gefährlich ist, das sind die normalen Menschen.

Dienstag, 17. September 2019

Die Tunesier und ihre „Demokratie“

Die Tunesier sind ja nicht blöd. Zwar haben sie damals ihren Diktator im Namen demokratischer Veränderungen gestürzt, was eine gute Sache war und Vorbild für andere arabische Gesellschaften, dass aber die „Demokratie“, die danach kam, nichts, aber schon gar nichts dazu beiträgt, die wirklichen Probleme der Menschen anzugehen und zu lösen, war rasch klar. Darum sind die Tunesier jetzt bei der Wahl zum Staatsoberhaupt massenhaft von den Wahllokalen weggeblieben: Die Wahlbeteiligung im Musterland des „Arabischen Frühlings“ lag bei lediglich 45 Prozent. Eine deutliche Ansage. Demokratische Wahlen sind eine Farce, wenn das politische System mit Armut und Ausbeutung koexistiert. Der tunesische Staat ist, wie jeder Staat, eben nicht der liebe Onkel, der streng, aber gerecht für allgemeine Wohlfahrt sorgt, sondern ein Büttel des Kapitalismus, der dafür sorgt, dass die wenigen Reichen reicher werden, die Masse der Armen aber arm bleibt. Was wollt ihr denn, ihr dürft ja wählen!
Die erbärmliche Wahlbeteiligung lässt die erbärmlichen Ergebnisse des ersten Wahlganges noch erbärmlicher aussehen. Der erst- und der zweitplatzierte Kandidat haben 18,4 und 15,6 Prozent der gültig abgegebenen Stimmen erhalten; errechnet man freilich den Anteil an den Stimmen der Wahlberechtigten, kommen sie zusammen nur auf knapp 15 Prozent. Mit anderen Worten: 85 Prozent der erwachsenen Tunesier und Tunesierinnen haben nicht für den künftigen Präsidenten gestimmt. Was für eine wunderbare „Demokratie“ das doch ist!

Samstag, 14. September 2019

Unterwegs (8)

Und dann war da noch … das kleine Mädchen, das sein Mobiltelephon ans Ohr hielt und munter drauflosschwatze. Erst bei näherem Hinsehen bemerkte ich, dass das „Handy“ gar keines war, sondern bloß ein gefaltetes Stück blauen Papiers. Sie wirkte trotzdem zufrieden. Kein Wunder, bei dem günstigen Tarif.

Samstag, 10. August 2019

Aphorismen

Welche Sau genau denn gerade heute durchs Dorf getrieben wird, ist nicht wichtig (außer vielleicht für die Sau). Dass aber immer Säue durchs Dorf getrieben werden, könnte bedeutsam sein.

Aktualität verhält sich zu Gegenwart wie die Erwähnung von Zuckerwatte zum Verzehr von Schweinsbraten mit Knödeln.

Vergangenheit gibt es nur in der Gegenwart. Ob es auch in Zukunft noch Vergangenheit geben wird, hängt ebenfalls von der Gegenwart ab.

Um sich, was viele tun möchten, hinter der eigenen Endlichkeit zu verstecken, müsste man aus ihr heraustreten können.

Sich selbst für belanglos zu halten, scheint die ultimative Entlastung zu sein.

Gibt es etwas Ungehörigeres, als geliebt zu werden und sich nicht dazu zu verhalten?

Der Unmut über solche, die sich, wie man meint, für etwas Besseres halten, hat mit der Befriedigung darüber zu tun, dass man selbst sich immerhin nicht für etwas Besseres hält.

Jemand: Sie machen es sich zu einfach. Ich: Stimmt. Aber gerade das ist das Beste an mir.

Dienstag, 6. August 2019

Freitag, 19. Juli 2019

Unterwegs (7)

"Yes or no. There's no 'umm'", sagt ein sehr junger Mann zu einer sehr jungen Frau. Ach, Büblein, du musst noch viel über Frauen lernen.

Donnerstag, 4. Juli 2019

Montag, 1. Juli 2019

Anmerkung zu Diskussionen

X will sich von Y abgrenzen und spricht sich darum für Z aus. Wenn ich nun Z kritisiere, meint X, ich wolle auf Y hinaus. Das muss aber gar nicht der Fall sein. Es entspricht den Bedürfnissen, Erfahrungen, Wünschen, von X, es so zu sehen, aber dabei handelt es sich eben nicht um meine Bedürfnisse, Erfahrungen, Wünsche. Meine Gründe, Z zu kritisieren und gegebenfalls zu verwerfen, müssen mit Y gar nichts zu tun haben. X aber fühlt sich angegriffen, weil er meint, ich missbilligte seine Abgrenzung von Y, was nicht der Fall ist, sie spielt für mich gar keine Rolle.  Doch egal, welche Argumente ich in meiner Kritik an Z vorbringe, X hört immer nur eine Verteidigung von Y heraus. Besonders merkwürdig wird es, wenn X mir vorhält, dass bisher noch immer alle, die gegen Z gewesen seien, für Y gewesen seien. Als ob ich notwendig so denken müsste, wie X meint, dass immer alle denken. Als ob ich dafür bekannt wäre, so zu denken, wie alle denken.
Wenn die Leute ihre lebensgeschichtlich begründeten Vorlieben und Abneigungen rationalisieren und dann von Sachargumenten nicht recht unterscheiden können, wird rationale Diskussion schwierig bis unmöglich. Gewiss, alle Erkenntnis ist Erkenntnis eines Subjekts und somit ins Subjektive eingebunden. Aber die intersubjektive Verständigung über Objekte und deren Relationen böte ja gerade die Chance, die Beschränkungen und Verzerrungen, die das Nur-Subjektive bewirken kann, zu relativieren.
 
 

Mittwoch, 26. Juni 2019

Dienstag, 25. Juni 2019

Geordneter Rausch

RBB 24 meldet: "In Berliner Clubs kann man bald Drogen auf Reinheit testen lassen - auf Kosten der Stadt." Find ich gut. Dionysische Entgrenzung plus Stiftung Warentest. Besser kann man das fundamental Spießige des konsumistischen Hedonismus nicht auf den Punkt bringen.

* * *

Einer wendet ein, er finde es nicht besonders spießig, beim Bungeesprung ein Seil zu verwenden. Ich hingegen finde ja jeden Sport spießig. Darüber hinaus ist Bungeejumping vielleicht ein sehr gutes Bild für das, was ich meine: Man tut so, als stürze man sich in einen Abgrund, verlässt sich aber darauf, dass die Sicherheitstechnik funktioniert. Sonst ließe man es bleiben, man ist ja schließlich kein Selbstmörder. Simulation eines Erlebnisses, Dionysos mit beschränkter Haftung, Extase wohldosiert. Kurzum, sich am Gummiseil in die Tiefe fallen zu lassen, ist für mich geradezu der Inbegriff des Spießigen.

Mittwoch, 19. Juni 2019

Glosse LXXIV

Da die Besucheranzahl sehr hoch ist, haben wir eine hohe Frequenz. Um nicht zu sagen: Weil wir stark frequentiert werden, haben wir viele Besucher.

Glosse LXXIII

Zum wiederholten Male: Derby, der Ort und jedwede nach dem Earl of Derby benannte Sportveranstaltung, wäre korrekt „darbi“ auszusprechen. Meinetwegen soll man „auf Deutsch“ (und Amerikanisch) „därbi“ sagen. Aber „dörbi“ ist Möchtegernenglisch.

Sonntag, 16. Juni 2019

Samstag, 15. Juni 2019

Über die Nützlichkeit Voltaires

— Weltweit leben Millionen Menschen im Elend. Sie haben nicht genug zu essen und kein sauberes Trinkwasser, ihre Behausungen sind ungenügend und ihren Siedlungen mangelt es an moderner Infrastruktur. Sie haben keinen oder nur eingeschränkten Zugang zu schulischer Bildung und ihre medizinische Versorgung ist ungenügend oder existiert gar nicht.
— Lasst uns unseren Garten bestellen.*
— In den armen Weltgegenden sterben unzählige Menschen an Krankheiten, die anderswo ausgerottet sind oder leicht zu behandeln wären.
— Lasst uns unseren Garten bestellen.
— Täglich sterben Hunderte, ja Tausende Menschen in Kriegen, an denen sie nur als Opfer beteiligt sind.
— Lasst uns unseren Garten bestellen.
— Überall auf der Welt arbeiten Menschen unter schlechten Bedingungen und für ungerechten Lohn, während Reiche immer reicher werden.
— Lasst uns unseren Garten bestellen.
— Eine milliardenschwere Industrie verdient daran, die Menschen zu zerstreuen und zu verdummen.
— Lasst uns unseren Garten bestellen.
— Viele Millionen Menschen leben in unfreien Gesellschaften, sie werden bevormundet und jede öffentliche und sogar private Kritik wird unterdrückt. Staatlich gesteuerte Lüge, unverhohlene Drohung, systematische Bespitzelung und ungestrafte Polizeigewalt, Folter und Mord, Verschleppung, Ausbeutung und „Umerziehung“ sind an der Tagesordnung.
— Lasst uns unseren Garten bestellen.
— Die herrschende Weltwirtschaftsordnung mir ihrer unersättlichen Gier nach Wachstum und Profit beutet auch die natürlichen Ressourcen gnadenlos aus und schädigt und zerstört die Lebensgrundlagen von Menschen, Tieren und Pflanzen.
— Lasst uns unseren Garten bestellen.

*
« Cela est bien dit », répondit Candide, « mais il faut cultiver notre jardin. » (Das ist gut gesagt, antwortete Candide, aber wir müssen unseren Garten bestellen.) Berühmter letzter Satz von Voltaires Roman „Candide ou l’optimisme“ aus dem Jahr 1759 (dt. „Candide oder die beste aller Welten“, 1776).

Donnerstag, 13. Juni 2019

Kurze Bemerkung zu meiner Schulzeit

Eigentlich hab ich nie verstanden, wozu der Schulunterricht, den man mir angedeihen ließ, hätte gut sein sollen. Gewiss, in der Theorie war die Sache klar: Man hätte was Sinnvolles lernen sollen. Aber darauf konnte man lange warten, denn in der real existierenden Praxis war das Ganze doch reine Zeitverschwendung. Jedenfalls für mich, und nicht erst im Rückblick. Von Lesen und Schreiben und den vier Grundrechenarten abgesehen (also Sachen, die manche schon vor der Einschulung beherrschen) habe ich in 13 Schuljahren nichts von bleibendem Wert gelernt. Außer naturgemäß über die Niederungen des Sozialverhaltens von Kindern und Jugendlichen und wie sich Dummheit und angemaßte Autorität in der Figur der Lehrerin oder des Lehrers wunderbar verbinden lassen. Alles, was mich interessierte, suchte ich mir hingegen außerhalb des Unterrichts ohne Anleitung selbst zusammen. Darum war Unterricht für mich gleichbedeutend Langeweile, quälender Langweile, durchsetzt von den Versuchen der Mächtigen, die Schwachen zu beschämen. Ich war bemüht, mir ein dickes Fell zuzulegen. Aber es hatte viele Löcher.
Zugegeben: Ich hatte anderthalb gute Lateinlehrer, einen sehr guten Deutschlehrer und schätzte meinen Religionslehrer ungemein (obwohl er mir zu liberal war, der zwecks Heirat laisierte Mönch). Der Rest des Personals war unfähig und zum Teil psychisch gestört, mitunter verdeckt bösartig, oft gutwillig, aber reichlich ungebildet, in jedem Fall aber ungeeignet, mir etwas beizubringen, das ich wissen und können wollte. Und selbst bei den guten Lehrern oder den erträglichen war die Form des Lernens in der Regel eine methodische Austreibung von Interesse. Die Folgen spüre ich heute noch: Nie lernen gelernt zu haben, sondern alles Wissen dem Zufall und der Willkür zu verdanken.
Von den selten Glücksmomenten abgesehen, wenn in der Oberstufe eine gehaltvolle Diskussion gelang — oft ich gegen alle — oder meine elegante und korrekte Übersetzung gelobt wurde oder ich, woran mir sehr selten lag, mit Wissen brillierte (unschlagbar war ich im selten unterrichteten Fach Religion), waren all die vielen, vielen, vielen Unterrichtsstunden nichts als ein ermüdendes Absitzen von Zeit oder, noch schlimmer, ein lästiges Rumturnen. (Das Leben ist zu kurz für Sport; heute weiß ich’s, damals ahnte ich’s.)
Und dann auch noch die Pausen! Die zogen den Schultag doch erst recht unnötig in die Länge. Wozu war das gut? All die Spiele, die die anderen so begeistert spielten, waren Wettbewerbe, an denen mir nichts lag, weil ich sie sowieso verloren hätte. Dann schon lieber spazierengehen und plaudern. (Ich hatte das Glück, nicht der einzige Außenseiter zu sein.) Da konnte man wenigstens das Oberstübchen etwas durchlüften, das die Institution mit dem Mief der Sinnlosigkeit auszufüllen versucht hatte. Dann klingelte es, und wie Laborratten dem Signal gehorchend eilte man, wieder sinnlos Zeit abzusitzen. Oder rumzuturnen.
Nein, Schule ist etwas, was ich der Gesellschaft bis heute nicht verzeihe.

Mittwoch, 12. Juni 2019

Identitätspolitiken und Begehrtwerdenwollen

A: Kommt das Elend unserer Zeit nicht auch daher, dass die vorherrschende Identitätspolitik dazu geführt hat, dass jeder sich fragen soll, wer er sein möchte, statt danach zu fragen, von wem er begehrt werden möchte?
B: Ich sehe da keinen Widerspruch. Das Bedürfnis jemand zu sein im Sinne einer wiederkennbaren, klassifizierbaren „Identität“ ist nichts anderes, als der Wunsch begehrt zu werden. Daher stammt das Elend dieser Zeit und aller Zeiten: Dass die Menschen geliebt werden wollen, statt ihr Glück darin zu finden, lieben zu dürfen.
A: Das Identitäts- und Liebesbedürfnis ist also keine Folge der Identitätspolitik?
B: Ach, „Identitätspolitik“ ist ein beliebter Popanz, mehr nicht. „Identitätspolitik“ treiben immer die anderen, man selbst verwendet einfach die realistischen Kategorien. Man übersieht die eigene Identitätspolitik und wirft anderen „Identitätspolitik“ vor. Nach der Devise: Weiber, Schwuchteln, Neger — das sind doch alles Randthemen, worauf es ankommt, ist das proletarische Klassenbewusstsein (alternativ: die realen Sorgen der kleinen Leute). Oder man weist die Gefährdung der überkommenen Rationalität durch Toiletten für ein dritte Geschlecht als identitätspolitischen Irrsinn zurück, setzt aber zugleich auf vorzuschreibende Leitkultur, ethnisierten Nationalstaat und repressives „Wir gegen die (die draußen bleiben müssen)“.
A: Anders gesagt, faktisch bilden die Alternative zu „Identitätspolitik“ lediglich andere Identitätspolitiken?
B: Ja, und es gälte aus dieser Logik auszubrechen. Genau das aber geht nicht, weil scheinbar ohne „Identitäten“ der Liebesentzug droht.
A: Wie das?
B: Um begehrt und um geliebt werden zu können, muss ich als begehrenswert und liebenswert erkennbar und wiederkennbar sein. Ich muss eine kontinuierliche Form haben (und ich meine selbstverständlich nicht in erster Linie die äußere Erscheinung, sondern die soziokulturelle „Intelligibilität“), die kategorisierbar ist. Man muss wissen, womit man es zu tun hat, wenn man es mit mir zu tun hat, sonst lässt sich niemand auf mich ein. Ich muss also Erwartungen erfüllen und zugleich innerhalb des Erwartbaren dieses wenigstens insofern überschreiten, um von anderen, die dieselben Strategien verfolgen, halbwegs unterscheidbar zu bleiben. Zumindest für eine definierbare Zielgruppe: Das Begehrt- und Geliebtwerdenwollen ist im Idealfall ein Geschäft auf Gegenseitigkeit. Ich liebe dich, weil du mich liebst, und du liebst mich, weil ich dich liebe.
A: Sie setzen mir da Begehren und Liebe allzu rasch in eins, aber seis’s drum, jedenfalls für den Moment. Ich möchte aber noch kurz bei der „intelligiblen“ Identität bleiben, anders gesagt: beim Individuum und seinem Konformismus.
B: An das moderne Individuum wird eine doppelte Forderung gerichtet. Einerseits: Sei du selbst, einzigartig und unverwechselbar. Andererseits: Sei wie alle, sei normal, weiche nicht zu sehr ab. Das scheint ein Widerspruch, und ist es auch, wird aber in der Praxis einfach zur wechselseitigen Regulierung der Ansprüche auf Autonomie und Zugehörigkeit. Das Individuum versucht, originell zu sein, stellt sich diese Originalität aber aus vorgefundenen Versatzstücken zusammen. Je ausgearbeiteter sein „style“ ist, desto mehr ist es dem Aktuellen und Konsumierbaren verhaftet. Das sich selbst fabrizierende Individuum bricht nicht mit den Kategorien (das führte zu seiner Pathologisierung), es arrangiert sich mit ihnen, indem es sie für sich in einem Wechselspiel von Nachahmung und Abgrenzung in begrenztem Rahmen rearrangiert. Wenn alle „individualistisch“ sind, ist Individualismus freilich eine Ausprägung des Konformismus. 
A: Ein Konformismus aber nicht des Erscheinungsbildes, sondern der Ansprüche, Erwartungen, Wünsche. Alle wollen, dasselbe, nämlich von einander verschieden sein.
B: Sehr richtig. Alle wollen sich von einander unterscheiden und erkennen einander als demselben Unterscheidungsbedürfnis verhaftet an. Letztlich ist es in einer solchen Gesellschaft nicht mehr möglich, nonkonformistisch zu sein, weil auch alle möglichen verschiedenen Typen des „Nonkonformisten“ bereits zur Verfügung stehen und Teil des Sortiments annehmbarer Identitäten sind.
A: Ein System, mit dem man nicht brechen kann?
B: So scheint es. Es sei denn, man hörte auf, an der eigenen Identität zu arbeiten.
A: Wie soll das gehen? Sie sagten, man müsse identifizierbar sein.
B: Man müsste aufhören, geliebt werden zu wollen.
A: Also führt der einzig mögliche Bruch mit dem System der „individualistischen“ Identitäten zur Einsamkeit?
B: Vermutlich. Zumindest zur Anachorese.
A: Das ist mir jetzt zu deprimierend. — Ich möchte noch einmal auf die „Identitätspolitik“ zurückkommen …
B: Die Identitäten, um die es dabei für gewöhnlich geht, sind ja keine individuellen. Es sind im Grunde Gruppenzugehörigkeiten. Im weitesten Sinne also „Rasse, Klasse, Geschlecht“ und ihre immer weiter verfeinerbaren Unterscheidungen. Eine Identität zu haben heißt dann: Einer von denen zu sein. Bestenfalls eben von einer anerkannten Gruppe. Noch besser, wenn diese Anerkennung prekär ist, erst ausgehandelt werden muss, wenn es noch Diskriminierung und einen vorzeigbaren Opferstatus gibt. Das „identitätspolitische“ Individuum bezieht sein Selbstverständnis im Ringen um Anerkennung aus der Zugehörigkeit zu einer Kategorie. Es will also streng genommen nicht mit sich selbst identisch sein — und man könnte fragen: Mit wem denn sonst? —, sondern „Identität“ heißt wiederkennbare und einordenbare Zugehörigkeit. Bloß kein Einzelfall sein, sondern unbedingt ein Fall von X.
A: Ließe sich damit brechen?
B: Aber ja. Statt bestimmte Rechte als Angehöriger eine Gruppe, als Fall von X einzufordern, muss es politisch darum gehen, dass Rechte zugesprochen werden und ausgeübt werden können unabhängig von „Identitäten“. Das ist ein altes theologisches Prinzip: Gott sieht nicht auf die „Person“ (im Sinne des Status, der „Identität“), sonder darauf, was eine Person tut oder lässt. Die Moderne hat das sehr gelungen zu dem emanzipatorischen Prinzip der Gleichheit vor dem Gesetz säkularisiert: Egal, ob Mann oder Frau (oder beides oder keins von beidem), ob alt oder jung, ob behindert oder nicht, ob weiß oder schwarz, ob alteingesessen oder zugewandert, ob dies oder das usw. usf. — vor dem Gesetz sind alle gleich und werden nur nach dem beurteilt, was sie tun oder lassen, und nicht nach ihrem „Sein“.
Hat denn die Idee der historischen Notwendigkeit je zu etwas anderem getaugt als zur Rechtfertigung von Verbrechen?

Dienstag, 11. Juni 2019

Die Wahrheitsfalle

Ich laufe immer wieder in dieselbe Falle. Die Person X sagt etwas über die Sache Y, und ich finde an der Aussage etwas falsch oder ergänzungsbedürftig und äußere mich darum ebenfalls zur Sache Y. Da schnappt die Falle zu. Denn während ich annahm, es sei X um Y gegangen, genauer: um die Wahrheit über Y, weshalb X an Argumenten für ein besseres Verständnis von Y interessiert sei müsse, während es mir also um die Sache ging, ging es X um sich selbst. Was ich zu Y sage, wird darum nicht als Angebot sachlicher Kritik, als Vorschlag zur Verbesserung oder als Beitrag zu einem gemeinsamen Bemühen um die Wahrheit über Y wahrgenommen, sondern als Angriff auf X.
Immer wieder begehe ich den Fehler, Aussagen über irgendetwas, als Ausdruck eines Interesses an der Wahrheit über dieses Etwas zu verstehen und entsprechend zu behandeln, statt sie als Ausdruck des Wunsches nach Anerkennung und Bestätigung zu nehmen, der sie vor allem sind.
Darum wird mir immer wieder der Vorwurf gemacht, ich sei rechthaberisch. Ich habe an anderer Stelle (hier, hier und hier) schon ein paar Dinge dazu gesagt, warum es mir schwer fällt, die Feststellung, ich wolle immer Recht haben, überhaupt als Vorwurf zu verstehen. Will denn nicht jeder Recht haben? In dem Sinne, dass er will, dass das, was er sagt, richtig ist, und dass er es sagt, weil es richtig ist (nicht in dem Sinne freilich, dass richtig ist, was er sagt, weil er es sagt)? Wollen Menschen je Unrecht haben, wenn sie sich über etwas äußern? Kann es ihnen wirklich egal sein, ob richtig oder falsch ist, was sie sagen? Warum reden sie dann?
Sie reden, um sich darzustellen, um zu zeigen, wie gebildet oder unverbildet sie sind, einsichtig und gewitzt, wie begabt und geschickt, aber auch wie schlicht oder kompliziert, wie bescheiden oder wie weltläufig,  wie glücklich oder unglücklich, wie beneidenswert oder bedauernswert, wie normal oder wie außergewöhnlich. Sie nehmen Phänomene war und äußern sich dazu, aber ihre Äußerungen sind, gerade auch dann, wenn Tatsachen behauptet und gewertet werden, vor allem soziale Kommunikation, erst dann Kommunikation in der Sache.
Selbstverständlich gilt dies an unterschiedlichen Orten bei unterschiedlichen Gelegenheiten auf unterschiedliche Weise. Immer aber gilt es. Fast immer. Die rein sachliche Auseinandersetzung, getragen von dem gemeinsamen Interesse an dem, was wahr ist, und drauf gerichtet, das Wahre zur Geltung zu bringen, ist selten. Lieber bestreitet man, dass es überhaupt um Wahrheit geht, ja dass es Wahrheit überhaupt gibt, als vom Anspruch auf Bestätigung abzulassen. Man will tatsächlich nicht Recht haben, man will, letztlich, geliebt werden.
Mir hingegen hat der Satz Amicus Plato sed magis amica veritas seit jeher eingeleuchtet und als Ansporn gedient. Ich will verstanden werden und mit dem, was ich sage, richtig liegen. Ob man mich dafür hasst oder liebt, mir Recht geben zu müssen, ist mir egal. (In der Regel hassen sie es.) Ich habe nichts dagegen, dafür geliebt zu werden, dass ich bemüht bin, die Wahrheit zu sagen. Aber lieber sage ich die Wahrheit und werde nicht geliebt, als dass ich geliebt werde, obwohl ich lüge oder die Wahrheit verschweige. 

Es geht mir um wahre Rede. Ich kann mich irren und tue es auch. Wahrheit ist ein Anspruch, kein Besitz. Ob man ihm gerecht wird, mag zweifelhaft sein und bleiben. Ihn nicht zu erheben, ist mir unvorstellbar. Damit sitze ich in der Falle.

Mittwoch, 15. Mai 2019

Es gibt keine Wahl

Manche halten sich für besonders schlau und machen folgende Rechnung auf: Wenn von 100 Wahlberechtigten 100 wählen gehen und davon 10 ihre Stimme für Rechtspopulisten abgeben, sind das zehn Prozent für die Rechtspopulisten. Wenn aber von 100 Wahlberechtigten nur 50 wählen gehen und davon 10 ihre Stimme für Rechtspopulisten abgeben, sind das 20 Prozent für die Rechtspopulisten.
Dem kann man eine ebenso einfache Rechnung entgegenhalten: Wenn von 100 Wahlberechtigten 0 wählen gehen, sind das maximal 0 Prozent für die Rechtspopulisten.
Oft wird behauptet, wer nicht wählen gehe, verwirke sein Recht, die Politik zu kritisieren. Das ist, als ob man behauptete, wer nicht Auto fahre, nicht mit dem Flugzeug fliege und keine Kreuzfahrten unternehme, habe kein Recht, den von Menschen gemachten Klimawandel zu kritisieren. Also Schwachsinn.
Anders herum wird ein Schuh daraus: Wer wählen geht, hat hinterher kein Recht, sich zu beschweren, er hat ja seine Stimme für das Ergebnis abgegeben.
Darum wird ja auch dafür geworben, unbedingt wählen zu gehen. Egal, was du wählst, heißt es wieder und wieder, Hauptsache, du gehst überhaupt wählen.
Und tatsächlich: Es ist wirklich egal, wer was wählt. Über Politik wird nicht in Parlamenten entschieden. Da müsste schon eine Revolution stattgefunden haben und dann gewählt werden, damit ein kollektives Votum einen Bruch mit dem Bestehenden ausdrückt. Durch Wahlen selbst wird nichts verändert. Sonst ließen man sie nicht stattfinden.
Wer wählen geht, unterstützt das System. Genau das System, das für Ausbeutung, Verblödung und Zerstörung sorgt. Man wählt national, das System agiert global. Keine Stimmabgabe wird daran etwas ändern.
Es gibt also nichts zu wählen. Welche Partei könnte man denn wählen, damit sich tatsächlich etwas ändert? Nicht nur ändern soll (weswegen man die wählen könnte, deren Programm man für das am wenigsten schlimme hält), sondern tatsächlich ändert. Offensichtlich keine. Man kann nur destruktiv sein und die laut schreienden Populisten unterstützen, die für Repression und Sozialabbau eintreten. Die würden wirklich etwas ändern, wenn sie an der Macht sind. Aber wie dumm muss man sein, um seine eigenen Unterdrücker und Ausbeuter zu wählen?
Nicht, dass die anderen keine Unterdrücker und Ausbeuter wären. Im Gegenteil. Sie sind die Stützen des Systems. Wenn sie sich nun, da es zu ihnen eine noch schrecklichere Alternative gibt, als das kleinere Übel darstellen („Wählt uns, wir sind wenigstens keine Nazis!“), haben sie völlig Recht: Sie sind ein Übel.
Nein, es gibt nichts zu wählen. Darum sollte man sein Gewissen nicht damit beruhigen, dass man ja seine staatsbürgerliche Pflicht getan habe und wählen gegangen sei. Die Freiheit nutzen, die andere nicht haben, und solcher Quatsch. Nutzt lieber eure relative Freiheit dazu, nein zu sagen. Setzt keiner symbolischen Akte der Zustimmung. Jede Stimme bei einer von den Herrschenden veranstalteten Wahl ist eine Stimme für die Herrschenden.
Wie dumm oder wie ängstlich muss man sein, das nicht wahrhaben zu wollen?

Dienstag, 30. April 2019

Bevölkerungsaustausch

100 + 1 = 101. Das sollte man in der Schule vorm zehnten Lebensjahr mal gelernt haben. Die Rechten aber rechnen: 100 + 1 = 1, weil die 100 gegen die 1 „ausgetauscht“ wird …

Samstag, 20. April 2019

Glosse LXXII

Wenn man lesen muss, dass jemand zur Beerdigung seiner verstorbenen Mutter reist, dann möchte man anmerken, dass zur Beerdigung der noch quicklebendigen Mutter anzureisen ja wohl auch reichlich pietätlos (und zudem hoffentlich vergeblich) wäre.

Sonntag, 14. April 2019

Christ oder nicht

Es gibt Menschen, die haben noch nie etwas vom Evangelium Jesu Christi gehört. Oder nichts Richtiges. Es gibt Menschen, die hängen einer bestimmten Religion an und können oder wollen sich darum nicht entschließen, Christus nachzufolgen. All das ist bedauerlich, aber verständlich. Es gibt aber auch Menschen, die haben sehr wohl von Jesus Christus gehört und praktizieren auch keine Religion, die sie davon abhielte, die Lehren des Evangeliums zu hören und seinen Geboten zu folgen, ja, sie sind vielleicht sogar getauft und haben noch dazu Religionsunterricht erhalten, einen wie guten oder schlechten auch immer, aber trotzdem erklären diese Leute, sie könnten mit dem Christentum nichts anfangen oder seien sogar dagegen. Das ist zwar vielleicht erklärbar, aber unverzeihlich.
Gewiss täte die Kirche gut daran, die Schuld dafür zunächst und vor allem bei sich selbst zu suchen. Die Schuld dafür, dass unter Christen und in „christlich geprägter Kultur“ aufgewachsene Christen de facto gar keine Christen sind und auch keine sein wollen. Gläubige Christen könnten ohne Abstrich übernehmen, was Protestanten 1945 über ihr Verhältnis zum und ihr Verhalten im Nationalsozialismus formulierten („Stuttgarter Schuldbekenntnis“): „Wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben.“
Die Gemeinschaft der Jünger Jesu Christi muss sich nämlich fragen: Warum glaubt man uns nicht? Warum ist, was wir sagen, nicht verbindlich? Warum unser Tun und Lassen nicht vorbildlich? Warum ist es nicht attraktiv, Christ zu sein? Warum interessieren sich die Leute nicht für die Vergebung der Sünden und das ewige Leben? Warum sind sie gelangweilt und abgestoßen? Was sollen wir tun?
Die Kirche als hierarchisch geordnete Gemeinschaft der Gläubigen muss sich also fragen: Was für ein Vorbild sind wir? Folgen wir Christus nach? Treten wir immer und überall für das Evangelium ein? Erlebt man auch als Außen- und Fernstehender, dass wir unseren Nächsten lieben und Gott mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit unserem ganzen Denken und mit unserer ganzen Kraft? Glauben wir wirklich, was glaube zu sollen wir behaupten? Halten wir uns an die Gebote, die wir als von Gott gegeben betrachten? Halten wir uns an die Gebote, die wir uns selbst gegeben haben? Oder sind wir nur ein Traditionsverein mit schwindender Kraft und mehr oder minder sinnlos gewordenen Riten? Macht es einen Unterschied, ob man Christ ist oder nicht? Gehen wir miteinander wir Brüder um? Erkennt man an unserer Freude, unserem Enthusiasmus, unserer Demut, unserer Weisheit, das wir Erlöste sind?
Gott hat die Welt geschaffen und erhält sie. Die Menschen haben sich von Gott abgewandt und in ihren Sünden verloren. Gott ist Mensch geworden, um sie zu befreien. Der Menschensohn starb am Kreuz und erstand von den Toten auf. Damit sind Tod und Sünde überwunden. Christus ging zum Vater und wird wiederkommen, um die Leben und die Toten zu richten. In der Zwischenzeit sind das Evangelium und die Heil wirkenden Sakramente der Kirche anvertraut, um die Menschen zu Gott zu führen — und in der Gemeinschaft mit Gott zu halten. Wenn sie das nicht leistet, hat sie versagt.
Auf der anderen Seite ist jeder Mensch, Erbsünde hin oder her, für sich selbst verantwortlich. Wenn man ihm schon anbietet, frei zu werden, der Sündenverstrickung zu entkommen und die ewige Seligkeit geschenkt zu bekommen, dann sollte er das vernünftigerweise auch annehmen. Oder wenigstens verantwortbare Gründe vorbringen, warum er es nicht tut. Also mehr als ein: Laaangweilig! Ich mag nicht. Mir gibt das nichts. Aber die Kreuzzüge. Aber die Inquisition. Aber der Kindesmissbrauch. Ich lasse mir keine Vorschriften machen. Das ist nicht mehr zeitgemäß. Ich brauche keine Kirche, ich bin spirituell. Lauter Scheißdreck.
Jeder einzelne Mensch muss sich vor Gott verantworten. Er wird gefragt (und gefragt werden): Liebst du mich? Kannst du das beweisen, hast du es bewiesen? „Denn ich war hungrig und ihr habt mir zu essen gegeben; ich war durstig und ihr habt mir zu trinken gegeben; ich war fremd und ihr habt mich aufgenommen; ich war nackt und ihr habt mir Kleidung gegeben; ich war krank und ihr habt mich besucht; ich war im Gefängnis und ihr seid zu mir gekommen.“
Wer nicht gegen Gott ist, ist für ihn. (Das sind die, die noch nicht zur Wahrheit gelangt sind.) Wer nicht für Gott ist, ist gegen ihn. (Das sind die, die sich von der Wahrheit abgewandt haben.) Wer für Gott ist, den erwartet der Himmel, wer gegen Gott ist, der kommt in die Hölle. Das ist nicht Lohn und Strafe im buchhalterischen Sinne. Das ist einfach Folge der Entscheidungen des Menschen: Wer sich für das Gute entschieden hat, der wird es bekommen. Wer sich gegen das Gute entschieden hat, der wird es nicht bekommen. Es ist schlicht nicht zu verstehen, warum solch einfache Wahrheiten nicht jedem einleuchten und nicht jeder seine Konsequenzen daraus zieht. Und es ist, wie gesagt, unverzeihlich. Denn wer sich gegen das Verzeihen entscheidet, wird schon sehen, was er davon hat.

Donnerstag, 11. April 2019

Sollen ungeborene Kinder darauf getestet werden, ob bei ihnen mit Krankheit oder Behinderung zu rechnen ist?

Der Denkfehler der Heterosexuellen (und heteroiden Buchstabensternchen-Eltern): Dass ein Kind etwas sei, was man planen und herstellen müsse, nicht etwas, was man geschenkt bekommt. Dass es ein Recht auf Planungssicherheit und Qualitätskontrolle in der Produktion gebe. Ich wiederhole es gerne zum millionsten Mal (diesmal bitte mitschreiben!): Eltern haben gar keine Rechte (nämlich keine, die über jedermanns Rechte gegen jedermann hinausgingen), sondern nur Pflichten gegenüber ihrem Kind. Wer schnackselt (oder in vitro das Schnackseln imitieren lässt) und dabei zeugt und empfängt, wer austrägt und gebiert, hat unbedingte Verantwortung (was diesmal wirklich Rechtfertigungspflicht bedeutet, nicht Macht) gegenüber dem unmündigen Wesen, das ihm anvertraut ist, und zwar unter weitgehender Hintanstellung der eigenen Bedürfnisse und Wünsche. Punkt. Basta. Nächste Debatte.

* * *

Auf die Nachfragen einer Leserin: „1. Was hat ‘heterosexuell’ damit zu tun? 2. Was ist heteroid mit Buchstabensternchen? 3 Sind nur jene Eltern gute Eltern, die alles immer und zu jeder Zeit richtig machen? Ist es nicht normaler, etwas weniger gottgleich zu sein?“ antworte ich:
1. Bienen und Blümchen. Mann, Frau, Hetero-Sex. Sonst keine Fortpflanzung. (Im Labor: Eizelle, Samenzelle, dieselben Geschlechter, nur andere Umstände.) Das Fortpflanzugsbegehren („Kinderwunsch“) ist a priori heterosexuell. 2a. Heteroid meint „den Heterosexuellen ähnlich“, also an das Ideal des Heterospießerehepaars mit 1,5 Kindern und Nestbau im bausparvertragfinanzierten Wohneigentum angepasst. 2b. Buchstabensternchen ist meine Schreibweise für LGBTIIQ*. 3. Gute Eltern verlangt ja gar keiner. Schon gar keine gottgleichen. (Vgl. Mt 23,9.) Nur vernünftige, respektvolle, nicht übergriffige und nicht von Macht („Verantwortung“) berauschte. Fehler machen ist nicht unanständig, die eigenen Bedürfnisse über die Rechte anderer Personen zu stellen, ist es schon. Vom Kind zu verlangen, gesund und normal zu sein, weil es sonst abgetrieben wird, ist böse.

* * *

Wer dagegen ist, dass Kinder mit Down-Syndrom im Mutterleib getötet werden sollte nicht gegen Bluttests auf Rezept sein, sondern gegen „Abtreibung“.

Sonntag, 7. April 2019

„Miet-Haie zu Fischstäbchen“

Was jammern die Leute immer über zu hohe Mieten? Sollen sie doch kaufen statt mieten.

Gegen Mietwahnsinn zu sein, heißt gegen die Rationalität des freien Marktes zu sein. Aber nur in diesem Punkt? Gegen Gentrifizierung zu sein heißt, dagegen zu sein, dass andere Leute mehr verdienen. Was denn nun? Kapitalismus oder nicht? Mietbremsen, Verstaatlichung, Wohnzuschüsse etc. laufen darauf hinaus: Wir lassen uns gerne weiter ausbeuten, wenn Vater Stadt uns bloß komfortable vier Wände gewährt.

Es gibt genug bezahlbaren Wohnraum. Jeder Wohnraum ist bezahlbar, wenn man genug Geld hat. Es geht also in Wahrheit um das Verhältnis von Einkommen oder Vermögen und Miet- und Kaufpreisen. Statt niedriger Mieten könnte man ja auch mal hohe Einkommen fordern.

Was soll das heißen, im Grundgesetz steht was von Enteignung? Da steht auch was von unantastbarer Würde des Menschen drin. Na und?

Sozialisierung sei mit der Sozialen Marktwirtschaft nicht vereinbar, sagt einer. Ha! Wusste ich es doch! Kapitalismus ist asozial, egal, wie man ihn nennt.

Sie werden es noch dahin bringen, dass Artikel 14* des Grundgesetzes geändert werden muss. Wegen versuchter Inanspruchnahme. Wie damals Artikel 16a**.



* Art. 14 (1) Das Eigentum und das Erbrecht werden gewährleistet. Inhalt und Schranken werden durch die Gesetze bestimmt. (2) Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen. (3) Eine Enteignung ist nur zum Wohle der Allgemeinheit zulässig. Sie darf nur durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes erfolgen, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt. Die Entschädigung ist unter gerechter Abwägung der Interessen der Allgemeinheit und der Beteiligten zu bestimmen. Wegen der Höhe der Entschädigung steht im Streitfalle der Rechtsweg vor den ordentlichen Gerichten offen.
** Art 16a. (1) Politisch Verfolgte genießen Asylrecht. [Spätere Zusätze:] (2) Auf Absatz 1 kann sich nicht berufen, wer aus einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften oder aus einem anderen Drittstaat einreist, in dem die Anwendung des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge und der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten sichergestellt ist. Die Staaten außerhalb der Europäischen Gemeinschaften, auf die die Voraussetzungen des Satzes 1 zutreffen, werden durch Gesetz, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf, bestimmt. In den Fällen des Satzes 1 können aufenthaltsbeendende Maßnahmen unabhängig von einem hiergegen eingelegten Rechtsbehelf vollzogen werden. (3) Durch Gesetz, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf, können Staaten bestimmt werden, bei denen auf Grund der Rechtslage, der Rechtsanwendung und der allgemeinen politischen Verhältnisse gewährleistet erscheint, daß dort weder politische Verfolgung noch unmenschliche oder erniedrigende Bestrafung oder Behandlung stattfindet. Es wird vermutet, daß ein Ausländer aus einem solchen Staat nicht verfolgt wird, solange er nicht Tatsachen vorträgt, die die Annahme begründen, daß er entgegen dieser Vermutung politisch verfolgt wird. (4) Die Vollziehung aufenthaltsbeendender Maßnahmen wird in den Fällen des Absatzes 3 und in anderen Fällen, die offensichtlich unbegründet sind oder als offensichtlich unbegründet gelten, durch das Gericht nur ausgesetzt, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Maßnahme bestehen; der Prüfungsumfang kann eingeschränkt werden und verspätetes Vorbringen unberücksichtigt bleiben. Das Nähere ist durch Gesetz zu bestimmen. (5) Die Absätze 1 bis 4 stehen völkerrechtlichen Verträgen von Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften untereinander und mit dritten Staaten nicht entgegen, die unter Beachtung der Verpflichtungen aus dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge und der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, deren Anwendung in den Vertragsstaaten sichergestellt sein muß, Zuständigkeitsregelungen für die Prüfung von Asylbegehren einschließlich der gegenseitigen Anerkennung von Asylentscheidungen treffen.

À propos Erlösung

In einem sozialen Netzwerk schrieb einmal einer: „Erlösung ist ein menschliches Bedürfnis, das man eben nicht der Religion überlassen sollte. (Sage ich als durchaus auch religiöser Mensch). Erlösung ist die Erlösung von, wie Freud sagte, gewöhnlichem Unglück oder auch neurotischem Elend. Es ist das ‘pursuit of happiness’. Damit man am Ende sagen kann: ‘Es war genug, drum nimm, oh Herr, nun meine Seele.’ (Elias-Oratorium) Erlösung ist es, wenn man mit seinen Bedürfnissen gesehen und verstanden wird. Sozialdemokraten müssen hier die säkulare Variante liefern.“ („Luitpolt Sylvester“)
Das klingt beinahe gut, ist aber falsch. Bei Erlösung geht es um etwas anderes. Durchaus um Bedürftigkeit, aber eben um Erlösungsbedürftigkeit. Was heißt das?
Der Mensch ist sündig und lebt unter der Herrschaft der Sünde. Mit anderen Worten: Er tut, was er nicht soll, und lässt, was er tun sollte. Das hat Folgen, für ihn und andere. Und zwar keine guten. Auch das böse Tun und Lassen der anderen hat für ihn Folgen. Ebenfalls keine guten. Auch wenn der Einzelne in aller (persönlichen) Unschuld zur Welt kommt, haben andere längst vor ihm gesündigt, er erbt also von Anfang an die Schulden, die im Lauf der Zeit angehäuft wurden und sich sozusagen verzinst haben. Man könnte auch von Strukturen, Institutionen, Sitten, Gebräuchen und Gewohnheiten reden. Diese übergroße Schuld macht den Menschen von Anfang an zum Schuldner (gegenüber Gott, aber auch seinen Mitschuldnern). Ohne Gottes Gnade wäre er deshalb zum Guten gar nicht fähig, weder es zu erkennen, noch es zu tun, denn die Sünden lasten auf ihm, schwächen ihn und hindern ihn daran, sich Gottes unwiderstehlicher Gnade zu überlassen.
An dieser Stelle nun bietet das Christentum, eine Erzählung, die, wiewohl strikt als Historie zu verstehen, der großartigste Mythos aller Zeiten ist: Um Mensch und Gott zu versöhnen und die Herrschaft der Sünde zu brechen, wird Gott selbst Mensch. Der Sohn Gottes, in allem (außer der Sünde) ein Mensch und zugleich ganz und gar Gott, liefert sich dem sündigen Treiben der Menschen aus, sie verurteilen ihn, den völlig Unschuldigen, und töten ihn. Gott, der Unveränderliche, stirbt nicht, aber der Menschensohn, der ganz Mensch und ganz Gott ist, ist sterblich. Doch das ist nicht das letzte Wort der Geschichte: Jesus Christus besiegt den Tod und steht von den Toten auf. Später fährt er zum Himmel auf, der Sohn kehrt zum Vater zurück, verspricht aber, wiederzukommen und am Ende der Zeiten Gericht zu halten. Die, die Gutes getan und Böses gelassen haben, werden zu ihm in den Himmel kommen, die Bösen in die Hölle. Wahnsinnsstory, oder?
Das Evangelium Jesu ist demnach nicht einfach eine besonders radikale Ethik, auch wenn es das unbedingt auch ist. Liebe deinen Nächsten wie dich selbst und behandle jeden so, wie du von ihm behandelt werden möchtest, das ist zwar das wichtigste Gebot und die Goldene Regel, also die Grundlage alles ethisch richtigen Verhaltens. Aber Jesus setzt richtiges Verhalten und das Tun von Gottes Willen gleich und fordert: Liebe Gott mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit deinem ganzen Denken und mit deiner ganzen Kraft. Nur indem der Mensch Gottes Dasein bejaht, sich ihm zuwendet und sich ihm überlässt, in allem Gottes Willen tun will, also die Königsherrschaft Gottes verwirklichen, kann er Gutes tun und Böses lassen. Auf sich allein gestellt, kann er das nicht, weil er, siehe oben, sündig ist und ein Sklave der Sünde.
Es gibt nichts Gutes, außer man tut es, heißt es bei Erich Kästner. Das ist richtig. Aber ohne Gottes Gnade kann niemand Gutes tun. Wenn es darum im Matthäusevangelium heißt: „Kommt her, die ihr von meinem Vater gesegnet seid, empfangt das Reich als Erbe, das seit der Erschaffung der Welt für euch bestimmt ist! Denn ich war hungrig und ihr habt mir zu essen gegeben; ich war durstig und ihr habt mir zu trinken gegeben; ich war fremd und ihr habt mich aufgenommen; ich war nackt und ihr habt mir Kleidung gegeben; ich war krank und ihr habt mich besucht; ich war im Gefängnis und ihr seid zu mir gekommen. Dann werden ihm die Gerechten antworten und sagen: Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen und dir zu essen gegeben oder durstig und dir zu trinken gegeben? Und wann haben wir dich fremd gesehen und aufgenommen oder nackt und dir Kleidung gegeben? (…) Amen, ich sage euch: Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“ (Und andererseits: Geht weg von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das für den Teufel und seine Engel bestimmt ist! Denn ich war hungrig und ihr habt mir nichts zu essen gegeben; ich war durstig und ihr habt mir nichts zu trinken gegeben; ich war fremd und ihr habt mich nicht aufgenommen; ich war nackt und ihr habt mir keine Kleidung gegeben; ich war krank und im Gefängnis und ihr habt mich nicht besucht. (…) Amen, ich sage euch: Was ihr für einen dieser Geringsten nicht getan habt, das habt ihr auch mir nicht getan.“ Dann also geht es offensichtlich um mehr als ein Sozialprogramm, um die Stillung irdischer Bedürfnisse, dann es geht um die letzen Dinge, um Ewiges.
Denn selbst wenn es den Menschen irgendwann endlich doch gelänge — was unwahrscheinlich ist, aber möglich —, ein Zusammenleben zu gestalten, durch das niemand hungert und dürstet, jeder Kleidung und Obdach hat, jeder bei Krankheit, Unfall und Alter umsorgt wird, niemand einsam sein muss, jeder Zugang zu Bildung und Unterhaltung hat, wenn es also mit einem Wort gelänge, die Grundbedürfnisse zu befriedigen und allen Glück zu ermöglichen, dann wäre damit immer noch nicht das Wesentliche erreicht. Denn immer noch würden die Menschen zum Bösen neigen, immer noch gäbe es Leid und Tod. Und das Leiden und Sterben der Früheren wäre ja auch nicht erledigt und ohne Bedeutung.
Hier kommt nun die Erlösung ins Spiel. Leider hat man aus „Erlösung“ ein Allerweltswort gemacht. „Erlösen“ soll (laut Online-Duden) so viel heißen wie frei machen, aus einer Notlage, von Schmerzen, innerer Bedrängnis, befreien, erretten. Dabei kann jemanden „von seinen Schmerzen erlösen“ sogar einfach bedeuten, ihn umzubringen. Erlösung gilt als besonders eindrucksvolle Rettung oder Befreiung. Das Christentum hingegen unterscheidet seit jeher sehr wohl den „Heiland“ oder Retter (sotér, salvator) vom „Erlöser“ (lytrotés, redemptor), obwohl beide Begriffe sich selbstverständlich auf ein und denselben Jesus Christus beziehen. „Erlösen“ heißt streng genommen nämlich „loskaufen“, „Lösegeld bezahlen“. (Der Online-Duden umschreibt „Erlös“ mit „beim Verkauf einer Sache oder für eine Dienstleistung eingenommener Geldbetrag“.)
Theologisch gesprochen: Durch seinen Sühnetod am Kreuz kaufte der Sohn Gottes die Menschen los von ihren Sünde. Er hat die Menschen ein für allemal befreit, indem er für ihre Schulden mit seinem Leben bezahlte. Mit seiner Auferstehung hat er die Macht der Sünde gebrochen und den Tod, die Folge der Sünde, überwunden. Damit ist der Weg frei für das ewige Leben. Auch für die schon Gestorbenen. Auch sie sind erlöst. Auch ihnen steht der Himmel offen.
Warum aber machen dann die Menschen, sogar die getauften, dann meist einen so wenig erlösten Eindruck? Warum geht es noch so sündig zu in der Welt? War der Tod Gottes etwa umsonst?
Tatsache ist, der Mensch muss die Erlösung annehmen, um an ihr vollen Anteil zu haben. Wer so handelt, als wäre er unfrei, ist unfrei. Erst indem der Mensch umkehrt, sein Kreuz auf sich nimmt und Christus nachfolgt, also Gottes Willen tut, wird er fähig zur Heiligkeit, also zu einem Leben ohne Sünde. Dazu gelangen die wenigsten. Viele wollen es erst gar nicht versuchen. Einige aber doch, nur sind die meisten von uns zu schwach dafür, nämlich nicht zuletzt auch zu schwach dafür, sich der Stärke des Höchsten zu überlassen. Aber versuchen sollte man es. Jeden Tag neu. (Dann werden auch die irdischen Bedürfnisse sehr relativ und Gevatter Tod verliert seinen Schrecken.)