Mittwoch, 31. Januar 2024

Selbstgerechtes Gedenken

Wenn’s ums Gedenken geht, sind die Deutschen ganz bei sich. Jedenfalls die Deutschen von echtem Schrot und Korn. Nichts ergreift sie mehr, als an die Verbrechen der Vergangenheit zu erinnern, das mühsam erkaufte Gelingen der Vergangenheitsbewältigung herauszustreichen und mit einem kräftigen „Nie wieder“ vor einem Erstarken jener dunklen Mächte zu warnen, die das Unbewältige verkörpern und sich daher böswillig den Freuden der Erinnerungspolitik entzogen zu haben scheinen. 
Darin sind sich die, die als Nachfahren der Täter sprechen, mit denen, die im Namen der Opfer sprechen, gern einig: Wir sind wichtiger als alle anderen. Unsere Schuld und unser Leid schweißt uns auf ewig zusammen gegen den Rest der Welt. Nichts, was andere (oder wir selbst) anderen antun, nichts was andere erleiden, kommt auch nur in die Nähe dessen, was uns so einzigartig und auf abartige Weise großartig macht. Zumal man da gar nichts vergleichen kann, weil das womöglich rational wäre, aber was die Deutschen einst taten und ihre Opfer einst erlitten, war völlig irrational. Das schier Unaussprechlich, von dem freilich dauernd die Rede sein muss, fällt naturgemäß aus der Geschichte heraus, deren Wendepunkt es war und immer sein wird.
Einen Zusammenhang zwischen den Verbrechen von damals und denen von heute herzustellen, verbietet sich. Der deutsche Judäozid (flankiert von den Verbrechen gegen Sinti und Roma, Behinderte, Homosexuelle, sowjetische Kriegsgefangene usw.) ist unvergleichlich, ein absoluter Bruch mit der Geschichte und zugleich deren Höhe- oder vielmehr Tiefpunkt, das schlimmste Verbrechen aller Zeiten, einerseits völlig unerklärlich, andererseits das Verständnis der Vergangenheit bestimmend. Die Deutschen (oder doch nur die Nazis?) waren die größten Verbrecher aller Zeiten, sozusagen ewige Weltmeister des Bösen, da kann keiner mithalten, und jeder Versuch, statt mythischer Entrückung des Geschehens Vergleiche zum Aktuellen herzustellen, ist als Relativierung unzweifelhaft Teufelswerk.
Zufrieden und beglückt lehnt sich die deutsche Seele zurück. Zugegeben, denkt sie, es gibt zum Glück immer was zum Nörgeln (Bahnstreik! Heizkosten! Pisa-Studie! Fußballtrainer! usw. usf.), aber wenn wir was richtig gut können, dann gedenken. Unser Gedenken ist unentrinnbar. Wir gedenken gegen das Vergessen und für ein ewiges Andenken. An uns selbst und unsere armen Opfer als Funktion unserer Missetaten. Wir haben uns selbst überwunden und damit für alle Zeiten so zu den eigentlich Guten gemacht. Unser Versagen und wie wir es so herrlich angenommen und in unsere Geschichte eingeschrieben haben, wird auf diese Weise für immer unser Ruhmesblatt sein. Dass wir so gut im Gedenken sind, macht uns aus. Denkmäler, Stolpersteine, Feierstunden, Benennung von Straßen und Schulen, Museen und Dokumentationszentren, Wiederaufbau von Synagogen etc. pp., das alles zeigt uns, wer wir sind und wie gut wir doch wieder geworden sind.
Da würden Vergleiche mit der Gegenwart nur stören. Wer käme auch auf die Idee, im Land der historisch bewältigen Massenmordes in- und ausländische Armut, Unbildung, Umweltzerstörung als Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu bezeichnen? Wer würde es wagen, die wesentliche Mitwirkung an der Weltwirtschaftsordnung als Verhöhnung jeglicher Ethik zu kritisieren? Wer dürfte es unternehmen, die Abwimmelung von Flüchtlingen („Ach wie schade, aber sie haben hier keine Bleibeperspektive, husch, husch zurück!“) und die Erzeugung von Fluchtursachen sowie die Finanzierung und Ausstattung von Kriegen als direkten Widerspruch zum selbstgerechten Gedenken anzusprechen? Niemand. Jedenfalls nicht, wenn gerade so schön erinnert, beschworen und gemahnt wird. ― Und jetzt ein Streichquartett mit staatstragender Musik. Bitte Ruhe, wir gedenken hier.

Dienstag, 30. Januar 2024

Demokratie: Gut und schön, aber wozu?

Ein eigenartiges Modell von Demokratie, dass da Tausende von Demonstranten und Demonstrantinnen praktizieren, wenn sie gegen die (möglicher) Wahlentscheidungen auf die Straße gehen. Eigentlich sollte es genügen, dass man, wenn man bestimmte Parteien ablehnt, sie einfach nicht wählt. Dazu hat man ja alle paar Jahre Gelegenheit. Die Demos „gegen rechts“ aber wollen mehr, sie wollen denen, die „rechts“ wählen wollen, mitteilen, dass sie eine dumme und gefährliche Wahl treffen, wenn sie AfD wählen. (Explizit rechtsextreme und neonazistische Parteien sind ohnehin verboten und damit nicht wählbar.) Und das angesichts des Umstands, dass dieses „Falschwählen“ ein Fünftel oder Viertel der Wahlberechtigten betrifft.
Nun zweifle ich nicht daran, dass es dumm und destruktiv ist, AfD zu wählen. Ich zweifle aber auch nicht daran, dass es nur um wenige Grade weniger dumm und destruktiv ist, SPD, Grüne, FDP, CDU/CSU, Linke oder BSW zu wählen. Keine dieser Parteien macht eine vernünftige Politik (oder würde eine machen), die sich wirklich den Herausforderungen der Zeit stellt und echte Lösungen für die anstehenden Probleme (soziale Gerechtigkeit, Umweltschutz, Bildung usw.) kennt und umzusetzen bereit ist. In unterschiedlichen Abstufungen sind sie alle für ein Weiterwursteln im Kapitalismus mit widerwärtigen Folgen für Milliarden Menschen.
Ja, die AfD ist ekelhaft. Ja, der demokratische Rechtsstaat ist weniger aufdringlich als eine willkürlich und gewaltsam agierende Diktatur.
Aber vielleicht könnten mir ein paar von den vielen, die da „für Demokratie“ demonstrieren sagen, was ihre heißgeliebte Demokratie denn bisher gebracht hat, außer einer für manche im Globalen Norden recht komfortablen Absicherung der Weltwirtschaftsordnung, die zu Ausbeutung, Zerstörung und Verdummung führen muss. Und ob sie wirklich glauben, durch ihre Wählerei am System der Profitmaximierung etwas ändern zu können. Die real existierende Demokratie führt nachweislich dazu, dass die Reichen reicher werden, die Mittelschichten zwischen Aufstiegswunsch und Abstiegsangst nur mit sich selbst beschäftigt sind und die Armen in ihrer Passivität und Disponibilität verwaltet werden.
Demokratie wäre eine gute Sache, wenn sie anders funktionierte. So wie sie aber tatsächlich funktioniert, ist sie für einige sehr bequem (und einige wenige sogar profitabel), aber sie bringt weder allgemein Wohlstand, allgemeine Sicherheit und allgemeine Chancen auf ein sinnerfülltes Leben hervor. Im Gegenteil.
Nein, die AfD, die Identitären und anderes rechtes Gesindel sind gewiss keine Alternative. Aber wer gegen sie und für „Demokratie“ lautstark und massenhaft demonstriert, soll doch bitte sagen, was eine „nicht-rechte“ Demokratie denn besser machen kann, will, soll oder wird. Wer so wählt, wie bisher immer gewählt wurde, wählt ein Weiterso ohne eine andere Perspektive als ein Zusteuern auf Niedergang und Untergang. Klingt das zu dramatisch? Schwerlich dramatischer, als eine Bedrohung „der Demokratie“ durch „rechts“ auszurufen.
„Wir sind mehr“ ― ja, also wo ist das Problem? Dann passt doch alles. Dann sagt doch, wo’s lang geht. (Übrigens: Wend wenn die anderen mehr sind, sind die dann im Recht oder gilt dann das Mehrheitsprinzip nicht mehr, weil die Falschen zu viele sind?) Wenn also ohnehin die guten Demokratinnen und Demokraten in der Mehrheit sind, warum kommt dann nicht mehr heraus als Scholz und Merz, Lindner und Baerbock und wie sie alle heißen, eine einzige Ansammlung von Inkompetenz, Visionslosigkeit und Unterwürfigkeit gegenüber den Interessen der Konzerne?
Kurzum, ich bin auch für Demokratie, aber was die Leute so zusammenwählen ist ein Graus. Und nicht erst, wenn sie Rechtspopulisten wählen.

Donnerstag, 25. Januar 2024

Ein (nicht ganz erfundenes) Gespräch über Buße

A: Indem einer Buße tut (Verzicht, Wallfahrt usw.), tut er sich selbst weh, um so sein Vergehen vor einer höheren Instanz auszugleichen. Aber es gibt die Schuld gar nicht. Sie ist eine Erfindung der christlichen Religion.
B: Sie sind anscheinend in bedauerlicher Unkenntnis darüber, was Buße ist. Das heute offensichtlich schwer verständliche deutsche Wort steht für das griechische Metanoia, was wörtlich Umdenken, Umkehr bedeutet, also Abkehr vom Schlechten (Sünde, Gottesferne) hin zum Guten (gute Taten, Gottesnähe). Zur Buße gehören Schuldeinsicht, Reue, Sühne. Die deutsche „Geldbuße“ führt auf eine falsche Fährte. Wer im religiösen Sinn Buße tut, bestraft sich nicht, er befreit sich. Vielleicht nimmt er Mühe, Anstrengung, Verzicht usw. auf sich, um den „alten Menschen“ loszuwerden und frei zu werden für Freude und inneren Frieden.
A: Wenn ich einen Fehler mache und das bedauere, so belastet mich dieses Missgeschick eine gewisse Zeit, womöglich gräme ich mich und habe ein schlechtes Gewissen, aber ich nehme nicht das Kreuz und schleppe es auf Knien um eine Gnadenkapelle. Darum geht es in der christlichen Religion von Anfang an: mit der Vertreibung aus dem Paradies beginnt die Buße für den Ungehorsam gegen Gott. Die Erbsünde ist in der Welt.
B: Übersetzen wir es doch einmal ins Alltägliche: Wenn Sie (mit voller Absicht) „einen Fehler gemacht haben“, der zu Lasten eines Ihnen sehr nahestehenden Menschen, so tut Ihnen das doch (hinterher) gewiss sehr leid und Sie werden sich nicht nur grämen (und womöglich schämen), sondern auch durch ein anderes Verhalten Ihr Fehlverhalten auszugleichen versuchen. Vielleicht sogar etwas Ihnen Unangenehmes auf sich nehmen, um der Person zu zeigen, wie wichtig sie Ihnen ist (und dass es Ihnen nicht nur um Sie selbst geht). „Schatz, meine Worte haben dich verletzt. Das tut mir leid und ich bitte dich um Entschuldigung. Damit du siehst, wie lieb ich dich habe, unternehmen wir gemeinsam das und das (woran mir sonst eigentlich nichts liegt).“ Ist das nicht ein ganz normales Verhalten? Warum sollte das im Umgang mit Gott anders sein?
Was nun Wallfahrten betrifft, so werden sie mitunter auch zur Buße unternommen. Aber Gnadenkapellen sind in der Regel keine Bußorte, sondern solche der Bitte um außerordentliche Gnadenerweise: Heilung von Krankheit z. B.
Und was das Herumschleppen des Kreuzes angeht: Die Aufforderung Jesu, wer ihm nachfolgen wolle, solle sein Kreuz auf sich nehmen, scheint mir vernünftig: Das irdische Leben ist kein Ponyhof und kein Wunschkonzert. Es ist voller Leid. Sich davon nicht irritieren zu lassen und allen Widrigkeiten zum Trotz am Wahren, Guten und Schönen festzuhalten und, wenn man mal versagt, auf die Erlösung und Sündenvergebung zu vertrauen zu dürfen, scheint mir kein so übles Konzept.
Nicht die Vertreibung aus dem Paradies, sondern der Sündenfall war übrigens die Ursünde/Erbsünde. Und der Opfertod Christi hat davon vor 2000 Jahren losgekauft. Sagt man.
A: Ihr herablassendes Pädagogisieren sollte Sie reuen, mein Herr! Ihre religiös definierten Feststellungen helfen Menschen, die sich in innerer Bedrängnis befinden, vermutlich wenig. Warum sollten sie das Büßerhemd anziehen und ihre qualvolle Reue öffentlich zeigen? Damit möchte ich diesen Wortwechsel schließen.
B: Immer wieder traurig, dass Menschen den Versuch, Ihnen aus ihrer (oft selbstverschuldeten) Unwissenheit und Unbildung herauszuhelfen, als „Pädagogisieren“ oder Schulmeistern wahrgenommen wird. Jeden Unsinn darf man posten, aber wenn einer Gründe anführt, warum etwas Unsinn ist, ist er der Buhmann. Die Leute wollen alles, nur keine Kritik. Lauter kleine Trumps …
Die Leugnung von Schuld und die Verweigerung von Reue sind als kollektives Phänomen etwas fundamental Modernes. Jahrtausendelang waren Menschen immer wieder einsichtig, was ihre Schuld angeht, und bemüht, ihre Sünden zu büßen. Erst der moderne Mensch ist von seiner Schuldlosigkeit überzeugt und von seiner Verantwortungslosigkeit gegenüber Gott. Was etwas irre scheint, angesichts der modernen Verwüstungen der Erde und dem die Vergangenheit überbietenden Morden. 
Seit Anbeginn der Zeiten haben Menschen in innerer (und äußerer) Bedrängnis Trost und Hilfe in Zuwendung zu höheren Mächten gesucht. Und gefunden. Die eigene Endlichkeit und Schwäche nicht mit Selbstherrlichkeit zu überspielen („es gibt gar keine ‘Schuld’“), sondern auf etwas oder jemanden Mächte zu vertrauen, die stärker sind und es besser wissen, als man selbst, war Grundlage gelingender Lebensführung und gedeihlichen Zusammenlebens. Und wenn man versagt, wusste man, an wen man sich mit der Bitte um Vergebung und einem Angebot der Sühne wenden konnte.
Der moderne Mensch, dank dem Mord und Unterdrückung, Ausbeutung und Zerstörung, Betrug und Verblödung ungeahnte Ausmaße erreicht haben, hat es aber ja nicht mehr nötig, um Entschuldigung zu bitten, er „entschuldigt sich“ allenfalls selbst. Und macht weiter. 
Man kann Religionen gewiss kritisieren. Aber dazu muss man erst wissen und verstehen, worum es geht. Bloßes Ressentiment und das Abspulen von Vorurteilen und Missverständnissen, führt nur tiefer in die Dummheit.
Ach nein, liebe Dame, es reut mich nicht, Ihnen aus Ihrer Unmündigkeit durch ein kleines Angebot an Wissen herauszuhelfen versucht zu haben. Auch wenn ich einmal mehr gescheitert bin. Damit beende ich meinerseits den Wortwechsel, der leider kein Gedankenaustausch war.
C: Das ist alles sehr interessant. Ich lerne sehr gern dazu. Aber mir scheint, hier treffen einfach zwei unterschiedliche Sichtweisen (auf Buße/Umkehr) aufeinander.
B: So sympathisch die tolerant-liberale Sichtweise, es träfen einfach unterschiedliche Sichtweisen aufeinander, auch ist, sie hat ihre natürliche Grenze doch in der Sache. Leugner des menschengemachten Klimawandels und „Klimaretter“ haben auch unterschiedliche Sichtweisen, aber ihre Feststellungen, Deutungen und Wertungen haben ja eben auch unterschiedliche Konsequenzen: Weiterso wie bisher oder massive Änderungen der Lebens- und Wirtschaftsweisen. Können Menschen am Klima ohnehin nichts ändern, sind alle Einschränkungen und Umbauten überflüssige Gängelung. Können Menschen aber durch ihr gemeinsames Handeln den Klimawandel beeinflussen und sich und andere vor den verheerenden Folgen bewahren, wäre es unverantwortlich, das nicht zu tun. Nicht, dass Sichtweisen unterschiedlich sind, sondern dass manche falsch und manche richtig sind, ist dann das Entscheidende.
Wie mir jetzt erst auffällt, hat das von mir hier gewählte Beispiel „Klimawandel“ ebenfalls mit Sündeingeständnis („wir haben der Umwelt geschadet“) und Buße/Umkehr („wir müssen anders leben“) zu tun …

Sonntag, 21. Januar 2024

Selbstgerecht „gegen rechts“

Ach wie niedlich, jetzt demonstrieren wieder einmal Tausende „gegen rechts“! Das ist so unreflektiert oder heuchlerisch, dass, wenn harmlos-selbstgerechte Symbolpolitik eine olympische Disziplin wäre, die deutschen Moralathletinnen und Athletinnen ganz bestimmt Gold holen würden.
Unreflektiert und heuchlerisch sind die Veranstaltungen, weil man, wenn man „gegen rechts“ ist, ja eigentlich nur nicht „rechts“ wählen muss, das sollte im Parlamentarismus genügen. Andere wählen halt anders. (Derlei kann vorkommen in Demokratien.) Was also, wenn nicht bloß die Demonstration der eigenen Selbstgerechtigkeit, des eigenen Besserseins, des eigenen Besserwählens haben die Demos zum Zweck? Oder glaubt irgendwer von den Demonstrierenden im Ernst, wenn er oder sie auf der Straße unter Beteiligung des regierenden Gesindels „gegen rechts“ Transparente schleppt und Parolen plärrt, ändert das auch nur eine einzige Wahlentscheidung? „Ach, das wusste ich ja gar nicht, dass alle die Nazis hassen, gut, dass ich das Schild im Fernsehen gesehen habe, nein, dann wähle ich natürlich nicht AfD.“
Die Leute wählen doch nicht aus Überlegung und Einsicht, sondern im Affekt, in kurz- mittel- und langfristiger Gestimmtheit. Sie wählen nach Milieu und soziokultureller Zugehörigkeit. Träfen sie Wahlentscheidungen aus rationalen Gründen, gingen sie nicht zur Wahl, sondern lehnten die ganze Wählerei ab, die ohnehin nur verdecken soll, in wessen Interesse tatsächlich regiert wird. (Spoileralarm: Es ist nicht „die Bevölkerung“, es ist, pssst, nicht weitersagen, „das Kapital“.) Wer unter den real existierenden Bedingungen wählen geht, und zwar egal, was, unterstützt damit ein System, dass dafür sorgt, dass alles bleibt, wie es ist oder allenfalls schlimmer wird. Die Staaten und Politiker hangeln sich von Krise zu Krise, und am Ende steht immer nur eines fest: Die Reichen sind wieder reicher geworden. Dagegen könnte man ja mal demonstrieren, aber das gibt nicht so ein wohliges Gefühl wie eine Demo „gegen rechts“.
Anlass für die jetzigen Vorführungen eigener moralischer Überlegenheit war ja wohl das allseits bekannte „Geheimtreffen“ rechter Politiker, bei dem der Nazi Sellner über künftige Massenabschiebungen phantasierte. Das war am 25. November 2023.
Am 20. Oktober schon hatte der „Spiegel“ ein Interview mit Bundeskanzler Olaf Scholz veröffentlicht, in dem der deutsche Regierungschef verkündete: „Wir müssen endlich im großen Stil diejenigen abschieben, die kein Recht haben, in Deutschland zu bleiben.“
Scholz hat jetzt bekanntlich „gegen rechts“ mitdemonstriert.
Ich weiß schon, ein Sozi ist kein Nazi. Zwischen ihnen steht der Rechtsstaat. Aber der ist flexibel handhabbar. Das Prinzip hingegen ist durchaus dasselbe: Wer nicht hierher und „zu uns“ gehört, muss weg. Die einen setzen auf eine umständlich-ungerechte Fremdenrechtsbürokratie, die anderen wollen ohne viel Federlesens alles Undeutsche loswerden. Letztlich geht es immer darum, mit Gewalt, die wegzuschaffen, die unerwünscht sind.
Wer von denen, die gern hier blieben, obwohl sie keine deutschen Staatsbürger sind, ein „Bleiberecht“ oder eine „Bleibeperspektive“ oder eine „Duldung“ hat, ergibt sich ja nicht aus der Beobachtung von Naturtatsachen. Es ist vielmehr Resultat der Auslegung von staatlichen Gesetzen. Gesetze aber können so oder auch anders sein. Restriktiv oder großherzig, weltoffen, integrativ, menschenfreundlich.
Wer deshalb „gegen rechts“ demonstriert, weil er oder sie gegen rassistische Deportationen ist, müsste also auch gegen die Abschiebungen demonstrieren, die im Einklang mit dem bestehenden „Recht“ nur Menschen betreffen, die die (aus gesetzlicher Sicht) falsche Herkunft und Zugehörigkeit haben. Alles andere ist pure Heuchelei.
Dass das gängige Modell von Bleibendürfen und Deportiertwerdenmüssen rassistisch ist, zeigt beispielsweise die Beliebtheit der (vielfach umgesetzten) Forderung „Kriminelle Ausländer abschieben“ über alle Parteigrenzen hinweg. Was soll das sein, wenn nicht Rassismus? Inländische Kriminelle werden ja auch nicht abgeschoben. Ist eine Straftat sträflicher, wenn sie von jemandem begangen wurde, dessen Staatsbürgerschaft und also vermutlich Herkunft „falsch“ ist? Unsinn.
Ja, Sellners Gewaltphantasien sind groteske Höllenvisionen und völlig widerlich, aber schon das „Deportieren light“, das bereits stattfindet und das auch die Parteien „links“ von der AfD intensivieren wollen, erzeugt unnötig Leid. Und ist schon gar keine Lösung für die Probleme der Weltwirtschaftsordnung, in der der Wohlstand der einen mit dem Elend der anderen erkauft ist.
Wer mit Scholz etc. auf die Straße geht, demonstriert vielleicht „gegen rechts“, aber nicht gegen das, was „rechts“ so grauslich macht. Denn das ist nicht die Verpackung, sondern der Inhalt. Und der findet sich, in abgeschwächte, aber keineswegs harmloser auch in der herrschenden Politik.
Wäre es nicht sinnvoller, statt gegen ein diffuses „Rechts“ eher gegen das konkrete „Recht“ und das von ihm verursachte Unrecht zu demonstrieren? Wäre es nicht sinnvoller, statt unverbindlich auf der Straße zu marschieren, mit selbstgerechten Sprüchen zu wedeln und so bloß die eigene Großartigkeit zu bekunden, endlich den Wahlberechtigten ein Angebot zu machen, doch noch etwas anderes wählen zu können als die Befürworter von Kapitalismus, Nationalstaat und rassistisch grundierter Identität? Etwas anderes als Rot, Schwarz, Gelb Grün und das populistische Kroppzeug à la Wagenknecht und Maaßen?
Aber wen interessiert das schon?

Montag, 15. Januar 2024

Na bitte, es geht doch

Der staatlich gestützte Klassenkampf funktioniert ganz wunderbatr: Die Reichen werden reicher, die Mittelschichten werden in Schach gehalten, verblödet und verlockt und die Armen werden ärmer.
Oder wie Oxfam im Bericht zur sozialen Ungleichheit sagt: Die fünf reichsten Männer der Welt haben ihr Vermögen seit 2020 verdoppelt, fast fünf Milliarden Menschen sind ärmer geworden.

Donnerstag, 11. Januar 2024

„Remigration“

Die Empörung ist groß ― und meiner Meinung nach ziemlich heuchlerisch. Was ist geschehen? Ein paar Quasi-Nazis haben ein paar Quasi-Nazis getroffen und in gemütlicher Runde darüber phantasiert, wie sie alle Undeutschen im Lande loswerden möchten. Das ist dumm und widerlich, durchaus, und man kann und soll sich darüber empören. Aber reichlich heuchlerisch ist es, menschenfeindliche Überlegungen zur Bevölkerungs-zusammensetzung nur unerträglich zu finden, wenn sie von Identitären, AfD, Wertunion usw. kommen, nicht aber von CDU, CSU, SPD, FDP und Grünen, obwohl deren Konzepte und Praktiken sich nur graduell, nicht prinzipiell von rechten Reinheitsgebote unterscheiden.
„Kriminelle Ausländer ausweisen“ ist ein Motto, dem große Teile der Bevölkerung und Politik zustimmen. Auch „Wer sich nicht integrieren will, fliegt“, „Wir können nicht alle aufnehmen, es sind zu viele“ und „Menschen ohne Bleibeperspektive sollen gar nicht erst ins Land kommen“ sind beliebt und mehrheitsfähig.
Dass bei manchen Politikern und Politikerinnen der Zusatz „Wenn das im Rahmen der Gesetze und Abkommen möglich ist“ eine Rolle spielt, ist zwar unter Umständen in praktischer Hinsicht, aber keineswegs grundsätzlich eine echte Einschränkung fremdenfeindlicher Politik, denn Gesetze kann man ändern und hat es ja auch immer wieder getan. Selbst der Asyl-Artikel im ach so geheiligten Grundgesetz wurde ausgehöhlt.
Nein, der Wunsch, dass die „Deutschen“ unter sich bleiben und möglichst wenig „Ausländer“ ins Land kommen mögen, ist grundlegend. Nur die, die man braucht, sollen kommen und nur die bleiben dürfen, die man ohne humanitären Gesichtsverlust nicht loswerden kann. Währenddessen wird auch fleißig deportiert. Und man deportierte gern noch mehr, (Freilich, man spricht sonst durchgängig von „Abschiebung“, aber das ist ja nur ein anderes Wort; auffälligerweise wird in der Berichterstattung über Martin Sellners „Masterplan“ und seine Zuhörer hingegen sehr wohl der Ausdruck „Deportation“ verwendet ― auch das macht die Empörung heuchlerisch: deportieren pfui, abschieben hui?)
Was legal ist, bestimmt der Staat. Darum ist an der rechtsextremen Phantasie, gegebenenfalls auch „nicht-assimilierte“ Ausländer, die irgendwie die inländische Staatsbürgerschaft ergattert haben, im Grunde nur die Radikalität, nicht das Prinzip erstaunlich. Der Staat legt fest, wer sein Bürger ist und wer nicht, Einbürgerung und Ausbürgerung sind Rechtsakte.
Dass die Verfassung nun einmal verbiete, die einmal verliehene Staatsbürgerschaft wieder wieder wegzunehmen, stimmt so nicht. Zwar sagt Artikel 16 des Grundgesetzes im ersten Satz: „Die deutsche Staatsangehörigkeit darf nicht entzogen werden.“ Im zweiten aber „Der Verlust der Staatsangehörigkeit darf nur auf Grund eines Gesetzes und gegen den Willen des Betroffenen nur dann eintreten, wenn der Betroffene dadurch nicht staatenlos wird.“ Es gibt also sehr wohl die Möglichkeit des faktischen „Entzugs“ durch einen gesetzlich herbeigeführten „Verlust“. ― An Artikel 16a wurde herumgepfuscht, um das Asylrecht auszuhöhlen, warum nicht auch an 16?
Ausländer bleibt eben Ausländer, egal, was sein „Aufenthaltstitel“ ist oder welchem Staat er angehört. Auf die Abstammung kommt es an. Die rassistische Rede von „Biodeutschen“ (als ob Deutschsein eine biologische Tatsache wäre) beweist das. Und die geltenden Regelungen zum Erwerb der Staatsbürgerschaft ebenfalls.
Während Neugeborene von Geburt an Deutsche sind, wenn ihre Eltern deutsch sind, muss jemand, der Eltern mit undeutscher Herkunft hat, egal, ob er oder sie hier geboren oder zugewandert ist, sich erst um die Staatsangehörigkeit bemühen: erst nach langer Frist und unter rigiden Bestimmungen. Neugeborene, die noch nicht lange (oder überhaupt) im Lande sind, die noch nichts für die Gesellschaft getan, nichts an Steuern und Sozialabgaben geleistet haben, die nur Kosten erzeugen und kein einziges Wort Deutsch können, sind sofort Deutsche, wenn sie die richtige Abstammung haben. Wer die nicht hat, muss erst Wohlverhalten beweisen („Integration“) und sich testen lassen. Dann vielleicht … Dass all das dem verfassungsmäßigen Verbot einer Diskriminierung wegen Herkunft widerspricht, will man nicht wahrhaben.
Die Rechten, die sich bei dem berüchtigten „Geheimtreffen“, das so geheim ja wohl nicht war, an Deportationsphantasien aufgeilten, lassen sich von juristischem Kleinkram ohnehin nicht beirren, sie denken grundsätzlich: biopolitisch, geopolitisch, ethonpolitisch. Der Staat ist ein Machtinstrument, das man für seine Zwecke zu gebrauchen gedenkt: Wenn ungenügende Integration („Assimilation“ sagt Sellner) ein Ausschlusskriterium aus dem Volksgemeinschaft, äh, der staatsbürgerlichen Gemeinschaft ist, kommt es nur darauf an, wer das Genügen oder Ungenügen definiert. Auch die historischen Nazis waren ja nicht nur Massenmörder, sondern wären auch gern „Eindeutscher“ gewesen. (Blöd nur, dass das Tausendjährige Reich nur zwölf Jahre währte, das „Ausmendeln“ unerwünschten Erbguts aber Generationen braucht.)
Denn wer ist schon so richtig blond und blauäugig? Hitler war’s nicht, Sellner ist es auch nicht (und nicht einmal deutscher Staatsbürger). Das Ethnische muss also politisch definiert werden. Staatsangehörigkeit ist Formsache. Wenn man erst an der Macht ist, werden die Leute schon sehen, was möglich ist. Ist erst einmal die Idee etabliert, Volkszugehörigkeit sei mehr als Staatsbürgerschaft ― und das ist angesichts des Alltagsrassismus nicht so undenkbar ―, braucht man die „ethnische“ Segmentierung der Bevölkerung nur noch in legale Förmchen zu gießen. Und bis man das kann, heizt man damit schon mal weiter die Stimmung an, derzufolge „viel zu viele Fremde“ im Land sind und dieses verändern. Zumal, wenn sie „unsere Werte“ nicht teilen. Die im Wesentlich darin bestehen, dass manche Menschen und ihre Gebräuche wertvoller sind als andere …
Rassismus braucht gar nicht in die Mitte der Gesellschaft vorzudringen, dort war er immer schon. Und am rechten Rand nimmt das dann grandiose Formen an. Angesichts all der „ethnischen Säuberungen“, die auf der Welt stattfinden, entspricht es ja nur dem Selbstbild deutscher Gründlichkeit, solch menschenfeindliche Unrecht großzügig zu organisieren. Warum also nicht die Unerwünschten in ein zu diesem Zweck zu pachtendes Stück Nordafrika ausschaffen? Dort könnten sie dann sogar. unter Aufsicht, versteht sich, ihren eigenen Staat haben (und darum ihrer deutschen Staatsangehörigkeit verfassungskonform verlustig gehen).
Eine solche menschenrechtsfreie Sonderzone ähnelt übrigens weniger dem „Madagaskarplan“ der Nazis ― möglichst viele Juden sollten auf die afrikanische Insel verbracht werden; eine ursprünglich zionistische Phantasie ―, sondern den Forderung nach „Zonen außerhalb Europas“, in denen über Asylanträge rasch entschieden werden solle, ohne dass die Antragstellerinnen und Antragsteller EU-Territorium betreten dürften. Italien hat mit Albanien bekanntlich bereits einen Vertrag über ein solches Anti-Asyl-Zönchen geschlossen, auch wenn das noch lästige rechtliche Hindernisse birgt. Und was genau soll der Unterschied von Rückführung (wie in „Rückführungsabkommen“) und „Remigration“ sein? Es geht so oder so um „aufenthaltsbeendende Maßnahmen“. Das Sprech ist verschieden, die Unmoral dieselbe.
Ja, es stimmt, was da an identitärem Schmutz und Schund auf großes Interesse bei AfD, Werteunion, CSU usw. stößt, ist widerlich. Und muss politisch als blanker Rassismus bekämpft werden. Aber es unterscheidet sich, wie gesagt, nur graduell, nicht prinzipiell von der absolut mehrheitsfähigen Linie: So wenig Fremde und Fremdes wie möglich. Wer sich aber erst empört, wenn medienwirksame „Geheimtreffen“ stattfinden, und nicht schon über alltäglichen Rassismus und ein rassistisches „Fremdenrecht“, über asylpolitische Restriktionen und grausame Deportationen, über das Abstammunsprinzip im Staatbürgerschaftsrecht und all die weiteren Ungehörigkeiten, der ist einfach zu spät dran.