Samstag, 19. Oktober 2019

Zuwanderung aus christlicher Sicht

Was die Zuwanderung betrifft, so ist mit dem Evangelium einzig und allein eine Politik der offenen Grenzen vereinbar. Jeder, der es nötig hat, also nicht nur der „politisch“ Verfolgte, sondern gerade auch der „Wirtschaftsflüchtling“, also der, der vor Armut und Unbildung flieht, muss willkommen geheißen und aufgenommen werden.
Jesus lehrt uns, den Hungrigen und Durstigen etwas zu essen und zu trinken zu geben, die Nackten zu kleiden, die Obdachlosen zu beherbergen und uns um die Kranken und Gefangenen zu kümmern. Schlimm genug, wenn das innerhalb von Gesellschaften nicht geschieht. Doch was die Auswanderung aus einer und die Einwanderung in eine andere Gesellschaft betrifft, gibt es ebenfalls keinen Grund, zwischen „uns“ (für die wir verantwortlich sind) und „denen“ (deren Leid uns nichts angeht) zu unterscheiden.
Es heißt klar und einfach: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Und nicht: Sorge nur für den, der dir nützlich ist, für den, von dessen Ausbildung und Beruf du profitieren willst, für den, der deine Sprache spricht, für den, dessen Gewohnheiten sich mit deinen Vereinbaren lassen und dessen Überzeugungen du verstehst und billigst, weil es die deinen sind.
Der Einwand, die Gebote Christi gälten nur für den Einzelnen, nicht für hochkomplexe Gesellschaften, ist falsch. Es kann nicht sein, dass der Einzelne nicht lügen, nicht stehlen, nicht morden darf, eine Gemeinschaft aber schon. Lüge, Diebstahl, Mord sind immer verwerflich. Zumal es keine Handlungen einer Gemeinschaft gibt, die nicht von Einzelnen vollzogen würden. Gemeinschaftliches Handeln ist auf einander bezogenes Handeln von Einzelnen. Schon deshalb gelten dafür dieselben Gebote. Ein Christ kann nicht „privat“ dem Gebot der Nächstenliebe folgen, aber „öffentlich“ nicht. Verhält er sich so, verhält er sich falsch und folgt nicht Christus nach.
Es stimmt, niemand ist über sein Können hinaus verpflichtet. Wer aber sagt, wie viele Menschen genau in eine Gesellschaft einwandern können, bevor die „Belastbarkeit“ überschritten ist? Wer definiert überhaupt die Zuwanderung von Menschen mit Hoffnungen und Fähigkeiten, mit dem Wunsch nach einem besseren Leben als Last statt als Potenzial? Wer sagt, Zuwanderung müsse bedeuten, dass alles beim Alten bleibe und die Zugewanderten mehr oder minder wegassimiliert würden? Wer sagt, dass das (politisch, ökonomisch, kulturell, sprachlich) Gewohnte Ewigkeitswert haben müsse? Gesellschaften verändern sich sowieso. Und ist nicht eine Veränderung besser, die mehr Menschen Sicherheit und Wohlstand bringt.
Das Weiterso-wie-bisher ist tödlich. Es ist der Weg der Sünde. Jesus ruft zur Umkehr auf: Zur Veränderung der Haltung zu Mitmenschen und Gott. Jesus sagt nicht: Schaff dir eine komfortable Nische in dieser Welt, in der du das Elend drumherum überstehen kannst. Er sagt: Liebt einander. Er sagt nicht: Mach Karriere, verdiene viel Geld, flieg oft in Urlaub, kauf dir ein Haus, Unterhaltungselektronik und ein Netflix-Abo usw. usf. Er sagt: Es gibt keine größere Liebe, als wenn einer sein Leben für seine Freunde hingibt.

Mittwoch, 16. Oktober 2019

Unterwegs (9)

Im Zug eine Horde junger Mädchen (dreizehn? vierzehn?). Eine überlegt, ob sie sich zu Weihnachten lieber airpods (kabellose Kopfhörer) oder eine Gitarre wünschen solle. Eine andere fragt sie daraufhhin, ob sie, wenn sie nicht schon einen Freund hätte, lieber einen hätte, der Gitarre, oder einen, der Klavier spielen könne. Die Gruppe diskutiert die Vor- und Nachzüge. Eine meint: Vielleicht Geige? Nein, heißt es darauf, Geige ist schwul.

Sonntag, 13. Oktober 2019

Aufgeschnappt (bei André Malraux)

In einer Welt, die, wie Sie wissen, einigermaßen absurd ist, gibt es etwas, das nicht absurd ist: Was man für andere tun kann.

Samstag, 12. Oktober 2019

Deutsche Betroffenheit und die Folgen

Wer schon mal in der BRD war, weiß, dass das mit dem besonderen Sinn von deren Bewohnern für Ordnung, Gründlichkeit und Effizienz ein Mythos ist. Aber in einer Sache sind die Deutschen richtig, richtig gut: Betroffenheitsgequatsche. Da macht ihnen keiner was vor. Genauer gesagt: da machen sie sich selber was vor.
So auch nach dem gescheiterten Anschlag auf eine Synagoge in Halle, bei dem zwei Menschen ermordeten wurden. Sofort gehen die Emotionen hoch, die eingebildete Solidarität ist maßlos, jeder weiß sofort, dass alle anderen schuld sind und dass auch ein einzelner Täter kein „Einzeltäter“ sein kann, weil der sogenannte „Antisemitismus“ anscheinend etwas wie eine Krankheit ist, die überall auf Ansteckung lauert und von der man nicht wissen muss, dass man sie hat, um andere an ihr leiden zu lassen.
Sofort auch wird ein allgemeines Bedrohungsszenario entworfen. Jüdische Einrichtungen müssten ab sofort stärker geschützt werden. Dabei hat gerade Halle gezeigt, dass gut verschlossene Türen genügen, damit niemandem ein Haar gekrümmt wird. Möchte man wirklich, das Menschen nur noch unter schwer bewaffnetem Polizeischutz beten dürfen, ihre Kinder in Kitas und Schulen bringen können usw.? Schon jetzt symbolisieren Polizei und private Sicherheitsdienste, dass „jüdisches Leben in Deutschland“ eine Art Fremdkörper ist, für den keine Normalität gilt. Will man das?
Vor allem aber wäre zu fragen, ob die gewaltige Bedrohung, die jetzt fürsorglich imaginiert, denn wirklich besteht. 2018 wurden in der BRD 62 „antisemitische Gewalttaten“ angezeigt. Zweifellos jede davon eine zu viel. Aber bei fast einer Viertelmillion Juden in einer Bevölkerung von über 80 Millionen sind 0,17 angezeigte Straftaten pro Tag nicht gerade alarmierend. Im selben Zeitraum gab es im deutschen Straßenverkehr 3.275 Todesopfer, 396.000 Menschen wurden verletzt. Solche Opferzahlen zu vergleichen heißt, Äpfel mit Birnen zu verrechnen, führt aber vor, welche Zahlen welche Emotionen auslösen.
Dass nicht jeder Tod deutschen Gemütern gleich viel zählt, ist bekannt. Die beiden Zufallsopfer von Halle werden betrauert, als hätte sie jeder gekannt oder kennen wollen. Irgendwelche anonymen Palästinenser hingegen, die von israelischen Heckenschützen oder Patrouillen abgeknallt werden, sind allenfalls eine Zahl in den Nachrichten. Mehr will man davon nicht wissen. Dort ist halt irgendsoein „Konflikt“.
Überhaupt ist ja alles, was mit Juden, Jüdinnen, Judentum, Israel zu tun hat, in der BRD in einen emotionalen Kokon eingesponnen, der Differenzierungen, gar Kritik nicht erlaubt. Wer Kritik an Israel übt, wird als „Antisemit“ diffamiert, und das zu sagen, ist wohl auch wieder „antisemitisch“. Der Gedanke, dass es keinen jüdischen Staat geben müsse ― sondern beispielsweise ein Gemeinwesen geben könnte, dessen Bürgerinnen und Bürger unabhängig von Religion und Abstammung gleiche Rechte und Pflichten hätten ―, wird gleichgesetzt mit dem starken Drang, alle Juden zu vergasen. Gegen die gewaltfreie Bewegung BDS, die für (moralische und völkerrechtliche) Selbstverständlichkeiten wie ein Ende der Besatzung und ein Rückkehrrecht der Flüchtlinge eintritt, werden sogar Parlamentsbeschlüsse gefasst.
Der Killer von Halle, dessen Motivation und verworrenes Weltbild mich ehrlich gesagt nicht interessieren, war freilich kein „Antizionist“, sondern ein Möchtegernmörder, der an einer Tür scheiterte und dann willkürlich zwei Menschen abknallte.
Was hat nun die hysterische Wir-müssen-unsere-Juden-schützen-Haltung der meisten Deutschen mit neonazistischer Gewalt zu tun? „Antisemitismus“ und sich blind, taub und dumm stellender „Philosemitismus“ sind zwei Seiten ein und derselben Medaille. Immer sind „die Juden“ das Objekt, an das man beliebige Affekte hängen kann, je nach dem positive oder negative. Rational ist das nicht.
Der Einwand, dass man in Deutschland nicht rational gegenüber Jüdischem sein können, sondern auf Grund der Vernichtungsgeschichte uneingeschränkt positiv voreingenommen sein müsse, zeigt nur, dass man nichts gelernt hat. Die millionenfache Entwürdigung, Entrechtung, Enteignung, Vertreibung, Verschleppung, Quälerei und Ermordung von Menschen mit der „Begründung“, es seien Juden und Jüdinnen, abzielte, war völlig irrational, wenn auch begründungsideologisch und umsetzungsmethodisch rationalisiert. Irrationalismus mit Irrationalismus zu begegnen, halte ich für problematisch. Vernunft, nicht undurchdachtes Vorurteil (sei es negativ oder positiv), sollte den Umgang von Menschen miteinander bestimmen.
Daraus, dass jüdischen Gemeinden in der BRD und ihre Vertreter (in der Öffentlichkeit) den Zionismus und die israelische Politik rechtfertigen und oft genug Kritik diffamieren, folgt nicht, dass man irgendwen umbringen darf. Niemand darf irgendwen ermorden. Aber daraus, dass es Judenhass und judenfeindliche Gewalt gibt, folgt auch nicht, dass alles immer unkritisierbar ist, was Juden tun. Aber genau das ist ein Effekt, den das Einspinnen in den „philosemtischen“ Betroffenheitskokon hat. Die Nation, die sich nicht genug darin tun kann, vor „Antisemitismus“ zu warnen und endlich gegen ihn vorgehen zu wollen, ist dieselbe moralisch verrottete Gesellschaft, die mehrheitlich in freien Wahlen eine Regierung ermöglicht hat, die Flüchtlinge im Mittelmeer ertrinken und in Lagern in Griechenland, der Türkei und Libyen dahinvegetieren lässt; die immer neue Rüstungsexporte genehmigt, die unzähligen Menschen das Leben kosten; die überhaupt wesentlich eine Wirtschaftsordnung fördert, die weltweit Ausbeutung und Umweltzerstörung zur Geschäftsgrundlage hat; eine Regierung, die nicht zuletzt fest an der Seite des Staates Israel steht, möge dessen konkrete Politik auch noch so rassistisch und mörderisch sein.
„Antisemitismus“ gibt es nicht deshalb, weil Israel verbrecherische Politik macht. Aber Israels verbrecherische Politik nicht beim Namen nennen zu können, weil das „antisemitisch“ sei ― „man sieht ja, wohin das führt: Halle!“ ―, ist eine Wirkung des Betroffenheitsgetues, das von echter Trauer und dem echten Willen, jedem Menschen die Ausübung derselben Rechte zu ermöglichen und denselben Schutz zu gewähren, in Wirklichkeit weit entfernt ist. Wären „die Deutschen“ wirklich besorgt um Menschenleben, die durch Menschen aus ihrer Mitte gefährdet und ausgelöscht werden, produzierten sie keine Waffen, freuten sich nicht darüber, „Exportweltmeister“ zu sein und machten keine Geschäfte mit Diktaturen (China, Russland, Saudi-Arabien e tutti quanti).
Gewiss, „Antisemitismus“ ist Quatsch. Aber nicht nur der „Antisemitismus“, für den jemand ist, sondern auch der „Antisemitismus“, gegen den jemand ist. Ein Verbrechen wird nicht schlimmer, wenn es „antisemitisch“ motiviert oder qualifiziert wird. Mord ist Mord. Jedes Leben ist heilig. In Halle und überall.

Donnerstag, 10. Oktober 2019

Aufgeschnappt (bei Primo Levi)

Es gibt die Ungeheuer, aber sie sind zu wenig, als dass sie wirklich gefährlich werden könnten. Wer gefährlich ist, das sind die normalen Menschen.