Sonntag, 27. Mai 2012

Jurrop is wotschink ju!

Das hat noch gefehlt! Eine Witzchenmacherin und Textaufsagerin gibt sich politisch. Eigentlich sollte sie nur die deutsche Punktvergabe beim Finale des Eurovision Song Contest präsentieren, aber Anke Engelke musste ja unbedingt von der Hamburger Reeperbahn aus diese Sätze in die Kamera und via Baku in Millionen europäischer Wohnzimmer plappern: Tonight nobody could vote for their own country, but it’s good to be able to vote and it’s good to have a choice. Good Luck on your journey Azerbaijan. Europe ist watching you. (Davor hatte sie, sehr patriotisch, auf Deutsch den deutschen Helfern gedankt …)
Nun, es stimmt, Aserbaidschan ist ein autoritär regierter Staat mit großen sozialen Problemen. Darüber wurde um die ESC-Veranstaltung herum ja in westlichen Medien auch immer wieder ausführlich berichtet. Und es ist gut und richtig, wenn Menschenrechtsverletzungen und andere Mängel an Rechtsstaatlichkeit von politischen Institutionen, seien sie staatlich oder nicht-gouvernemental, angesprochen und sogar angeprangert werden. Aber es ist nicht die Aufgabe oder das Recht irgendeiner TV-Tussi, in eine kommerzielle Unterhaltungssendung politmoralische Instruktionen und Drohungen einzufügen. Aserbaidschan soll meinetwegen eines Tages eine vorbildliche Demokratie werden und die Menschenrechte achten, dass es nur so kracht. Belehrungen von deutschen Witzfiguren aber braucht es dazu nicht. Die braucht nämlich niemand.
Good to be able to vote and goodto have a choice? Ja, ganz toll. Deutschland hat eine frei gewählte Regierung und die Opposition sitzt nicht im Knast. Nur dass die Regierung eben aus Gestalten wie Merkel und Rösler besteht und Gestalten wie Gabriel, Roth und Özdemir dazu die sytemimmanente Alternative bilden … Nun gibt es, von solch bedauerlichen Fakten abgesehen, gewiss viele gute Gründe, das Leben in einer parlamentarischen Demokratie dem unter einem autoritären Regime vorzuziehen. Aber die Wählerei gehört meines Erachtens nicht dazu.
Du sollst nicht wählen, pflegen Anarchisten zu sagen und begründen das damit, dass Wahlen verboten wären, wenn sie etwas verändern könnten. In Deutschland sind Wahlen nicht verboten. Darum ist es ziemlich egal, dass gewählt wird, im Grundsatz ändert sich nichts. In Aserbaidschan wird auch gewählt, aber nicht frei und unverfälscht, weil die Herrschenden Angst haben, andernfalls könne sich etwas ändern. In Aserbaidschan haben also demokratische Wahlen eine Bedeutung, weil sie nicht stattfinden; in Deutschland finden sie statt und bedeuten nahezu nichts. In Aserbaidschan ist der Widerspruch von gesellschaftlichem Reichtum und ungerechter Verteilung himmelschreiend. In Deutschland hingegen ist derselbe Widerspruch — der lediglich weniger krass ausfällt, aber durchaus auch hier besteht — demokratisch abgesegnet.
Weltweit kooperiert Deutschland mit zahlreichen Diktaturen (China zum Beispiel) und anderen Staaten, die die Menschenrechte gewohnheitsmäßig mit Füßen treten (Israel zum Beispiel). Es macht dabei sehr gute Geschäfte und nimmt an vorderer Stelle an einem Weltwirtschaftssystem teil, dass Ausbeutung und Zerstörung, Hunger und Krieg, Entwürdigung und Verblödung fördert.
Über all das kann man reden. Man sollte es auch! Mir ist aber nicht bekannt, dass Deutschlands Defizite sonst in Schlagersendungen angesprochen werden und sei es mit durchsichtigen Doppeldeutigkeiten. Dass nun ausgerechnet beim Eurovision Song Contest in Baku die deutsche Wertungsverkünderin sich zur kaum verhüllten Botschafterin westlicher Werte aufplustert, ist umso unangenehmer, als Deutschland in der kollektiven Erinnerung der Bevölkerungen vieler Teilnehmerstaaten wohl eher nicht als Lehrmeister in Sachen Demokratie, sondern, historisch gesehen, als Besatzungsmacht und Massenmörder figuriert. (Erst der Fall Stalingrads verhinderte beispielsweise, dass die aserbaidschanischen Ölfelder und die Hauptstadt Baku von der Wehrmacht erobert wurden.)
Aber Sensibilität ist Engelkes Sache sicher nicht. Sie repräsentiert schließlich Deutschland und damit die weltweit so wenig geschätzte Neigung zu Rechthaberei und Überheblichkeit. Nur das erklärt, dass sie peinlicherweise ausgerechnet die berüchtigte Orwellsche Formel „… is watching you“ wählte. Wahrscheinlich wollte sie so etwas wie kritische Solidarität zum Ausdruck bringen mit einem Land, dass sich gefälligst auf die Reise zu Demokratie und Rechtsstaat zu begeben hat. Herausgekommen ist eine Drohung. Der Große Bruder Westeuropa schaut zu und wehe, wenn seine Geduld am Ende ist. Der Adressat freilich, das Fernsehpublikum in Aserbaidschan und dem Rest Europas, war der falsche; stattdessen hätte sich Engelke, wenn schon, direkt an den (in seiner Loge sitzenden) Präsidenten Alijew wenden sollen. Aber um echte Wirksamkeit ist es der Komödiantin ja sicher nicht gegangen, sie wollte einfach ihrer selbstgerechten Überzeugung Ausdruck verleihen und beim deutschen Publikum punkten. Das ist ihr auch gelungen. Von der deutschen Netzgemeinde wird sie stürmisch als Heldin gefeiert.
Und der Eurovision Song Contest? Obwohl man in den letzten Jahren Deutschland (das seine Rolle als größter Geldgeber oft und gern betont) weitgehend entgegengekommen ist und am Reglement solange herumgepfuscht hat, bis auch einmal ein musikalisches Nichts wie Lolita Meyer-Landplage den ersten Platz erreichen konnte, reichte es für den diesjährigen deutschen Retorten-Star mit der Glücksbärchi-Visage und dem rasch zu vergessenden dünnen Singsang nur fürs Mittelfeld. Stattdessen scheint man sich vorab auf jenes Ding aus dem Sumpf als Gewinnerin geeinigt zu haben, das mit seiner akustischen Belästigung für Schweden antrat. (Aber anscheinend hat man vergessen, die portugiesische und die italienische Jury zu schmieren.)
Dass das die Entscheidung der europäischen Zuschauer und Zuschauerinnen war, wird niemand behaupten können. Good to be able to vote and good to have a choice? Schön wär’s, doch dem wirksamen Wählen des TV-Publikums hat man längst den Riegel der Fachjurys vorgeschoben. Das macht aus dem zelebrierten Abstimmen eine Farce. Wäre es nach dem Willen der Mehrheit gegangen (und da müssen die Deutschen ja nicht unbedingt dazugehören), hätten — da bin ich mir auf Grund meiner osteuropäisch-orientalischen Intuition sehr sicher — die udmurtischen Großmütter gewonnen. Party for everybody! Aber statt in Ischewsk, der Hauptstadt der Udmurtischen Republik, wird der ESC 2013 wohl außerhalb Europas, nämlich in Skandinavien stattfinden. No other choice?

Freitag, 18. Mai 2012

Zwei neue Wörter

An einem einzigen Tag gleich zwei neue Wörter zu lernen, die sich fürs Denken und Schreiben als zukunftsfähig erweisen könnten, ist ein besonderer Glücksfall. Mir ist er heute passiert. Ich hatte ein paar antiquarische Taschenbücher gekauft und stieß schon beim ersten Durchblättern auf „weltquer“ (Stefan Andres) und „Restdeutsche“ (Horst Krüger).
„Weltquer“ benennt, so scheint mir, auf eine nicht wertende Weise, was sonst sonderlingshaft, kauzig, lebensuntüchtig genannt werden müsste. Es verweist auf einen Zustand, ein Verhältnis, ohne daraus eine Folgerung in die eine oder andere Richtung  anzudeuten. Wer weltquer ist, der ist weder notwendig ungenügend noch unbedingt kritisch. Er und die Welt stehen schlicht quer zueinander, aber wer dabei Recht hat und wer im Unrecht ist, ist nicht gesagt. Mir gefällt dieses Wort sehr und selbstverständlich will ich es von nun an nicht zuletzt zur Selbstbeschreibung verwenden.
Als „Restdeutsche“ bezeichnet Krüger, wenn ich es richtig verstehe, das, was übrig bleibt, wenn man von den Deutschen die Österreicher abzieht. Das ist gut und richtig beobachtet. Der deutsche Weg zum Nationalstaat war, anders als etwa der französische, spanische, britische usw., nicht einer der Expansion (von der innerdeutschen Aufblähung Preußens abgesehen), sondern der Schrumpfung. Vom Abfall der Niederlande und dem Ausscheiden der schweizerischen Eidgenossen (1648) bis zur „kleindeutschen Lösung“ des Bismarck-Reiches (1871) über das mörderische Zwischenspiel der großdeutschen Verirrung (1938-45) dann schließlich zum „Verlust“ Ostpreußens, Schlesiens und Pommerns (samt Untergang der jeweiligen Dialekte): ein einziges großes Wenigerwerden. (Selbst die „Wiedervereinigung“ wird man schwerlich als Gewinn verbuchen können. Am Ende der jahrzehntelang als charakteristisch geltenden „deutschen Teilung“ wurde die BRD zwar um fünf Bundesländer vermehrt, aber ein ganzer Staat, die unglückliche DDR, verschwand.)
Man sollte diesen langen historischen Prozess der Verminderung nicht einseitig als einen der Herauskristallisierung eines „eigentlichen Deutschland“, das nun eben mit der realexistierenden BRD identisch sei, verstehen, sondern vielmehr ganz offen als Geschichte eines Abbauens, Verlierens, Weglassens ansprechen, die im jeweiligen Endeffekt klein und provinziell macht — nämlich nicht nur die Weggelassenen (also etwa die Schweizer und Österreicher), sondern auch die Weglassenden. Die eben nur noch ein „Rest“ von dem sind, was einmal deutsch war. — Krüger verwendet das Wort übrigens, als er von Wien, das im Zweiten Weltkrieg kaum bombardiert wurde, nach Frankfurt am Main zurückkehrt; ein Wort wie „restdeutsch“ kann also wohl auch an die die ungeheuren Verluste nicht nur an Menschenleben, sondern auch an materieller Tradition erinnern, die sich „die Deutschen“ (nicht zuletzt mit Hilfe der Alliierten) zufügten. Kaum eine deutsche Stadt sah ja 1945 noch so aus wie 1932.
Um nicht missverstanden zu werden: Von „Restdeutschen“, „Restdeutschland“ und „Restdeutsch“ (dies auch im Sinne dessen, was nach der Durchdenglischung noch bleibt) zu sprechen, hat für mich nichts mit großdeutschen oder überhaupt nationalen Phantasmen zu tun. Vielmehr kann so , meine ich, mit solch einem Wort sehr gut angedeutet werden, dass der Wille zum Nationalstaat immer etwas Destruktives hat, etwas Repressives und Marginalisierendes, wobei der deutschen Sonderweg eben historisch gesehen darin besteht, nicht (wie die Engländer die Schotten, Waliser und Iren oder die Kernfranzosen die Okzitaner, Bretonen, Basken usw., die Kastilier die Leoneser, Katalanen, Basken usw. usf.) die Ränder erobert und angepasst, sondern immer neue Ränder abgetrennt zu haben. (Allerdings lasse ich hier die „deutsche Ostsiedlung“, die sowohl Österreich als auch Brandenburg usw. begründete, ganz außer Acht; diese war sehr wohl erobernd und anpassend, wo nicht auslöschend.)
Erst vor zwei Jahren erfuhr ich, dass es in der Germanistik außerhalb des deutschen Sprachraumes, etwa in Italien, mitunter zwei verschiedene Fachbereiche gibt, einen, der für die deutschsprachige Literatur Deutschlands zuständig ist, und einen, die „Randgermanistik“ (germanistica marginale), wo man sich der deutschsprachigen Literatur außerhalb Deutschlands (Österreich, Schweiz, Rumänien usw. usf.) widmet. Für mich ergibt das fortan ein Begriffspaar: randdeutsch und restdeutsch.  Damit lässt sich arbeiten.