Donnerstag, 19. Oktober 2023

Postmoderne und Postfaktizität

Die Postmodernen (wer immer das sein mag) hätten mit ihrer Behauptung, es gäbe „die“ Wahrheit und „die“ Realität nicht, das Zeitalter des Postfaktischen herbeigeführt. Wenn für jeden etwas anderes wahr sein könne, dann hätten beispielsweise ja auch die Leugner des menschengemachten Klimawandels Recht. Heißt es.
Dazu zwei Bemerkungen. Erstens finde ich es seit nun mehr rund drei Jahrzehnten höchst ärgerlich, dass immer und immer wieder von „den postmodernen Denkern“, „der Postmoderne“, „dem Postmodernismus“ usw. die Rede ist, ohne dass gesagt würde, wer genau was in welchem Text geschrieben oder wo gesagt hätte. Ärgerlich ist es auch, wenn zwar Namen genannt werden (beliebt sind: Lyotard, Foucault, Derrida, Deleuze, Lacan Barthes, zuweilen auch Judith Butler), aber deren Zusammenstellung offensichtlich willkürlich und inhaltlich unsinnig ist, solange keine Gemeinsamkeit nachgewiesen wird. Und nicht minder ärgerlich, weil völlig absurd, ist der beliebte Trick, einzelnen Autoren (selbstverständlich ohne jeden Nachweis) Behauptungen zuzuordnen, die in deren Texten überhaupt nicht vorkommen und ohne völlige Willkür auch nicht hineingelesen werden können. (Etwa wenn es heißt, Foucault habe die Großen Erzählungen zurückgewiesen. Oder er habe geleugnet, dass es Wahrheit gebe; wie einer, der sich so eingehend mit der Wahrheitsproduktion in wissenschaftlichen Diskursen beschäftigt hat, geleugnet haben kann, dass es das Produzierte gibt, verstehe wer wolle.)
Zweitens ist die Herleitung des „Postfaktischen“ von „Postmodernen“ völlig absurd. Gelogen wurde schon immer. Und darüber, was wahr ist oder nicht, konnte man immer schon verschiedener Meinung sein und war es häufig auch. Ganz ohne Moderne oder Postmoderne.
Wahrheit kann strittig sein. Dafür spielt es keine Rolle, ob die „wahre Wahrheit“ jemandem bekannt ist oder aller irren. Jeder meint, mehr oder minder gute Gründe für „seine“ Wahrheit zu haben. Manche lassen sich von Argumenten überzeugen (oder ändern ihre Meinung aus anderen Gründen, etwa Gruppendruck), manche nicht. Dass eine Überzeugung sich durchsetzt, ist (außer für Pragmatisten wie Rorty; auch er ein Postmoderner?) kein Argument für deren Richtigkeit.
Manche sind überzeugt, es gebe den menschengemachten Klimawandel, manche bestreiten einen Klimawandel überhaupt oder sind zumindest überzeugt, er sei nicht von Menschen verursacht. Welchen Unterschied macht es in einer Debatte, ob die eine oder die andere Seite faktisch Recht hat? Keinen. Und keine Seite muss bestreiten, dass es nur eine einzige Wahrheit gibt, nur hält eben jede Seite ihre Überzeugung für wahr und die andere für falsch. Was ist daran „postmodern“ (was immer das heißen mag)? Wer vertritt schon eine Überzeugung, die er für falsch hält? Allenfalls ein Lügner oder ein Irrer. Wer aber ehrlich und geistig halbwegs gesund ist, glaubt an das, was er zu wissen beansprucht. Gerade in der „Klima-Debatte“ behauptet meines Wissens niemand, es sei zugleich wahr, dass es menschengemachten Klimawandel gibt und dass es ihn nicht gibt, nur sei für verschiedene Leute eben verschiedenes wahr. Im Gegenteil, jede Seite setzt vielmehr die Wahrheit ihrer Tatsachenbehauptungen voraus und erklärt andere Behauptungen für falsch und ihre Vertreter für Lügner, Getäuschte oder sich Irrende.
Selbstverständlich macht es einen entscheidenden Unterschied, welche Seite Recht hat, insofern davon politische Handlungen abgeleitet werden (sollen). Aber für eine Diskussion nicht. Solange X den Y nicht von A überzeugen kann und Y den X nicht von B, spielt es keine Rolle, ob A oder B wahr ist oder gar C. Die Strittigkeit von Wahrheit ist gerade keine Folge eines angeblichen „Wahrheitsrelativismus“, demzufolge auch einander widersprechende Wahrheitsansprüche berechtigt sein können. Denn wer „alles für wahr“ hielte (aber wer tut das schon?), hätte ja gar keinen Grund, mit anderen darüber zu streiten, was wahr ist.
Offensichtlich aber sind auch und gerade im Zeitalter des „Postfaktischen“ die Verkünder „alternativer Fakten“ eben nicht indifferent oder tolerant gegenüber anderen Überzeugungen, sondern vertreten, was sie für wahr halten oder zumindest als wahr ausgeben, mit großem Nachdruck und möchten alles Widersprechende zur Seite drängen und am liebsten zum Verstummen bringen. Ja, man darf annehmen, dass sie die von ihnen behaupteten „Fakten“ und „Wahrheiten“ vor allem oder ausschließlich deshalb vorbringen. Also nicht weil es ihnen darum geht, was wahr oder falsch geht, sondern weil sie Tatsachen schaffen wollen, die ihnen genehm sind.
Was das mit Foucault, Derrida e tutti quanti zu tun haben soll, wissen viele zu sagen, aber keiner hat dafür noch irgendeinen glaubwürdigen Nachweis erbracht. Mit der „Postmoderne“ stellt man vielmehr einen beliebten Strohmann auf, der an allem schuld sein soll, was einem nicht in den Kram passt. Man erfindet bedenkenlos etwas, was angeblich der und der gesagt oder doch gemeint oder was ein diffuser „Ismus“ hervorgebracht habe. Eine konkrete Auseinandersetzung mit den faktischen Texten erspart man sich, weil sie einfach nicht die gewünschten Ergebnisse erbringen könnte (außer durch gezielte Fehllektüre und Missinterpretation). Warum? Vermutlich scheut man einfach das, was die als „postmodern“ verschrienen Autoren und Autorinnen wirklich zu sagen haben, weil man es manches in Frage stellte, von dem man nicht wahrhaben will, dass man keine guten Argumente dafür hat.

Mittwoch, 18. Oktober 2023

Aufgeschnappt (bei Tonio Schachinger)

Computerspiele sind sehr immersiv und können dadurch noch mehr ablenken als Literatur.

Ein paar Anmerkungen

Angesichts zum Himmel schreienden Unrechts leise sein, womöglich gar besonnen schweigen zu wollen, um Misstöne zu vermeiden, halte ich für unangemessen. Solch vermeintliche Vornehmheit, scheint mir, hat mehr mit Selbstgerechtigkeit zu tun als mit dem Wunsch nach Gerechtigkeit für alle.

Opfer sind zu beklagen. Also soll man auch klagen. Jeder auf seine Weise. Manche wimmern, manche heulen los.

Wut ist ene verständliche Reaktion auf Unrecht. Ob sie verständig ist, ist eine andere Frage.

Dass neben, hinter, unter dem Krieg der Maschinen und Leiber auch ein Krieg der Meinungen tobt, ist unvermeidlich. Dass es dabei ebenso um Macht geht, heißt nicht, dass es nicht auch um Wahrheit und Unwahrheit geht, um vernünftig entscheidbare Fragen.

Dass „beide Seiten“ in einem Konflikt Unrecht begehen, heißt nicht, dass die eine Seite nicht mehr im Unrecht sein kann als die andere.

Kriege wurden noch nie durch Schweigen, Zuschauen, Aussitzen beendet. Leider.

Donnerstag, 12. Oktober 2023

Sonntag, 8. Oktober 2023

Glosse CXXVI

Sonntags quillt das Fernsehen von Tiersendungen über. Im Vorüberschalten bekam ich mit, wie in drei verschieden Sendungen drei verschiedene Personen von Kitten redeten, womit sie junge Katzen meinten. Das war mir neu. Woher kommt diese seltsame Mode denn nun wieder? Selbstverständlich finde ich sie völlig bescheuert. Wenn es Jahrhundete lang kein Problem war, einfach von Kätzchen, Katzenjungen, Katzenwelpen usw. zu reden, wozu braucht es dann neuerdings eine Übernahme aus dem Englischen? Das ist doch cringe, um nicht zu sagen weird.

Dienstag, 3. Oktober 2023

Attowissenschaftsjournalismus

„Nun lassen sich extrem schnelle Prozesse in Atomen, Molekülen und Festkörpern direkt beobachten.“ So benennt man in der FAZ, was die Forschungen der heute bekannt gegebenen Träger des Nobelpreises für Physik des Jahres 2023 angeblich ergeben haben.
Was für ein Quatsch! Selbstverständlich lässt sich von keinem Menschen etwas beobachten, was in „Attosekunden“ (Quadrillionstelsekunden) stattfindet, weder direkt noch indirekt. Worum es da geht, Lichtblitze, wird nämlich gar nicht beobachtet, sondern gemessen oder vielmehr aus Messergebnissen errechnet.
Aber die zitierte dümmliche Formulierung ist selbstverständlich begründet: Mit dem Vorurteil, die moderne Physik sei eine empirische Wissenschaft. Das ist sie aber nicht, wenn damit gemeint ist, sie befasse sich mit der erfahrbaren Wirklichkeit, die grundsätzlich jedem zugänglich sei. Die „Realität“, die die moderne Physik erforscht, existiert aber in Wahrheit nur als in Laboratorien und mit Algorithmen konstruierte. Sie wird nicht erfahren, sondern, wie gesagt, aus Messergebnissen und Berechnungen erschlossen. Sehen, hören, riechen, schmecken, ertasten kann man sie nicht. Also auch nicht darin leben. Erst in der wissenschaftstheoretischen Vermittlung (oder populäre Darstellungen) werden abstrakte physikalische Modelle zu etwas, was man mit der erfahrbaren Wirklichkeit, in der jeder lebt, gleichsetzen kann.