Mittwoch, 29. Oktober 2014

Heiraten und Kinder kriegen

„Wir haben jetzt 20 Jahre lang unter Anleitung von Volker Beck and Friends dafür gekämpft, dass Schwule heiraten und Kinder kriegen dürfen“, notiert einer auf facebook. Da staune ich aber. Ein solcher „Kampf“ wäre ja bloß das Einrennen offener Türen gewesen. Denn ich wüsste nicht, dass es Schwulen je irgendwann irgendwo verboten gewesen wäre, Kinder zu kriegen. Sie können es allerdings schlechterdings nicht, weil eben Männer keine Kinder empfangen, austragen und gebären können. Und was das Heiraten betrifft, so sagte ich schon oft und sage es gerne wieder, dass auch dies Schwulen nie verboten war. Es war nur bislang nie und nirgends möglich, dass Männer Männer und Frauen Frauen heirateten. Nicht die sexuelle Orientierung (hetero, homo oder was weiß ich), sondern das Geschlecht und dessen Verschiedenheit definierten (unter anderem) die Heiratsfähigkeit eines Paares.
Wortklauberei? Nein. Wenn die Begriffe nicht stimmen, werden die Sachen verdreht.
Es geht um etwas Wichtiges. Der Schwule-müssen-heiraten-dürfen-Diskurs verschiebt den Fokus von den Rechten des Einzelnen zu denen eines Paares. Nicht mehr, dass jemand bestimmte Rechte hat und sie ausüben kann, und zwar unabhängig davon ob er schwul ist oder etwas anderes, ist jetzt das politische Thema, also gerade nicht mehr Rechtsgleichheit, Gleichbehandlung von Gleichem. Sondern im Gegenteil, es geht plötzlich um herkömmliche Vergesellschaftungsformen, um die geschlossene Zweierkiste, um die klassische Kleinfamlie. Zum exzessiv forcierten (und alles andere verdrängenden) Thema wird es, Beziehungsformen zwischen Männern nach dem alleinseligmachenden Modell des heterosexuellen Paares zu modeln und zu diesem Zweck Sonderrechte einzufordern („Homo-Ehe“, „Ehe-Öffnung“), also Ungleiches gleich zu behandeln.
Meines Wissens verbietet es niemand grundsätzlich einem Mann oder zwei Männern, drei Männern usw. gemeinsam ein Kind oder zwei Kinder, drei Kinder usw. aufzuziehen. Dass solche legitimen Formen des Zusammenlebens dieselbe Anerkennung, denselben Schutz, dieselbe Förderung erfahren sollten wie andere „Familien", steht außer Frage. Dazu gehört auch, das Adoptionsrecht den tatsächlichen Bindungen anzupassen.
Etwas anderes ist es, wenn zwei gutbetuchte Schwule sich irgendwo in Asien, Afrika oder den Armenhäusern Europas ein Kind besorgen, weil sie es chic finden, sich ein solches accessoire ihres Lebensstiils zuzulegen. Das kann (und ich meine: muss man) bei Homo-Paaren ebenso kritisieren wie bei Hetero-Paaren.
Widerwärtig finde ich es ferner (andere urteilen da anders), sich der Reproduktionsindustrie in die Arme zu werfen und deren Bestrebung zu unterstützen, das Fabrizieren von Menschen zur gesellschaftlichen Normalität umzudeuten. Kinder sind keine Ware, ihre Herstellung keine Dienstleistung. Es bedarf keines elaborierten Naturbegriffs, um die Zeugung durch Mann und Frau, so kritikwürdig sie im Einzelfall sein mag, für etwas Natürliches und die labormäßige Produktion von Retortenbabys für frankensteinianische Alpträume zu halten.
Kurzum und um es ganz klar zu sagen: Wer in den letzten zwanzig Jahren (noch dazu unter Anleitung des unsäglichen Herrn Beck) dafür gekämpft hat, dass Schwule heiraten und Kinder kriegen dürfen, ist nicht nur für etwas ganz anderes eingetreten als ich, sondern er stand und steht auf der anderen, der entgegengesetzten Seite.

Dienstag, 14. Oktober 2014

Glosse XVIII

Qualität hat seinen Preis. Mag ja sein, aber wer ist er (oder es)? Dass die Genera der Personalpronomina der dritten Person im Singular zunehmend verwechselt werden, fällt mir schon seit ein paar Jahren auf. Dabei handelt es sich wohl nicht nur um Schusseligkeit, dass man also vergisst, welchen Geschlechts das Nomen war, auf das das später im Satz oder in späterem Satz auftretende Pronomen sich bezieht, sondern — wie der kurze Beispielsatz zeigt, bei dem es eigentlich nicht nur nichts zu vergessen gibt, sondern der als feststehende Formel eigentlich im Gehör verankert sein sollte — es dürfte sich um ein Schwinden des Gefühls fürs grammatisch Geschlecht überhaupt handeln. Textkorpusforscher könnten es besser wissen als ich, der ich nur spekuliere, aber mir scheint, dass dabei das Femininum sehr viel öfter von Maskulinum und Neutrum verdrängt wird als umgekehrt. Nähert das Deutsche sich etwa so dem Englischen an, in dem bekanntlich fast alle Hauptwörter, die auf kein „natürliches Geschlecht“ verweisen, sächlich sind?

Donnerstag, 9. Oktober 2014

Aufgestöbert (bei Edmund White)

One of the advantages of ‘those linguistically innocent days’, Alan Sheridan correctly observes, was that people could perform homosexual acts without naming them and ‘therefore regarded them as quite normal’. By contrast, one of the unexpected results of the noisy debate about homosexuality in our day is that only those who feel powerfully drawn to same-sex love are sufficiently motivated to indulge in it at all; casual bisexual encounters have disappeared, largely because the growing wealth of Europe and America and the collapse of religion have meant that heterosexual ‘dating’ now starts at puberty and no one (except prisoners) has recourse to homosexuality merely because nothing else is on tap. Similarly, working-class boys no longer have an automatic respect for ‘gentlemen’ like Gide nor do they unquestioningly submit to their whims.

Edmund White: "On the chance that a shepherd boy …", Review of Andre Gide: A Life in the Present by Alan Sheridan

Sonntag, 5. Oktober 2014

Gedanken anlässlich einer Bischofssynode

Eine bekannte Frage von Georg Christoph Lichtenberg lautet: „Wenn ein Kopf und ein Buch zusammenstoßen, und es klingt hohl, ist das dann allemal im Buch?“ Analog könnte man fragen: Wenn die sogenannte „Lebenswirklichkeit“ der Menschen und die Morallehre der katholischen Kirche zusammenstoßen, und es klingt misstönig, ist dann allemal die Lehre zu ändern?
Moralische Normen haben es nun einmal so an sich, dass sie nicht das abbilden, was die Leute tun oder tun möchten, sondern das vorschreiben, was sie tun sollen. Nicht Fakten sind das Maß von Normen, sondern umgekehrt. Wäre es anders, bedürfte es keiner Moral. Wäre einfach das immer das Richtige, was geschieht, müsste zwischen richtig und falsch nicht mehr unterschieden werden. Hätten sich die Normen den Fakten anzupassen, so wäre zu lügen, zu stehlen, zu morden moralisch einwandfrei, einfach deshalb, weil ja viel gelogen, hin und wieder gestohlen und ab und zu sogar gemordet wird.
Nun kann niemand leugnen, dass auch moralische Normen der Veränderung unterworfen sind. Ganz offensichtlich ist das bei der sogenannten Sexualmoral. Galten früheren Zeiten vor- und außerehelicher Sex, Ehebruch, Selbstbefriedigung und Homosexualität als unanständig (und war oft sogar strafbar), ist das in den meisten westlichen Gesellschaften heute anders. (Oder wenigstens zum Teil: Immer noch wird homosexuelles Verhalten anders wahrgenommen als heterosexuelles, gilt „Wichser“ als Schimpfwort, kann ein beim Ehebruch ertappter US-Politiker seine Karriere vergessen und wird die Sexualität von Kindern und Jugendlichen streng reglementiert.)
Ein solcher Wandel im Umgang mit moralischen Normen kann als kultureller beschrieben werden. Verschiedene Kulturen haben verschiedene moralische Problematisierungsstrategien. Lügen, Stehlen und Morden findet wohl keine Kultur richtig, aber die Umstände, unter denen eigentlich Verbotenes oder Unerwünschtes doch erlaubt, womöglich sogar erwünscht und geboten erscheinen, können entscheidend sein: Töten ist im Krieg eine Selbstverständlichkeit, aus öffentlichem Interesse darf enteignet werden und Lügen in Namen der nationalen Sicherheit sind völlig normal.
Moral gilt ohnehin vielfach als etwas, was vor allem andere verpflichtet. Dasselbe Kind, das von Eltern, Lehrern, Mitschülern nicht belogen werden möchte, findet nichts dabei, bei der Klassenarbeit zu schummeln. Derselbe Erwachsene, der seinen Nachbarn am liebsten anzeigen möchte, wenn er zur falschen Zeit den Rasen mäht, findet nichts dabei, sein Auto falsch zu parken oder die erlaubte Höchstgeschwindigkeit zu übertreten.
Mindestens so flexibel war und ist der Umgang mit der Sexualmoral. Dieselbe Gesellschaft, die es für wünschenswert hielt, dass Frauen jungfräulich in die Ehe gehen, konnte Männern den Gang zu Prostituierten vor und während der Ehe nachsehen. Dieselbe Gesellschaft, die Pädophilie ächtet, wünscht die Straffreiheit von Abtreibungen.
Mit all diesen Wandlungen, Biegsamkeiten, Doppel- und Mehrfachmoralen hat nun aber eine theologisch fundierte Morallehre nichts zu tun. Kultureller Wandel ist für sie nicht von Bedeutung. Gewiss gehen auch in sie manche zeitlich bedingte Vorstellungen ein und selbstverständlich verändert sich die Art und Weise, in der bestimmte Wertvorstellungen formuliert und kommuniziert werden. Sofern aber, wie es bei der katholischen Kirche nun einmal der Fall ist, der Anspruch besteht, dass die verkündete Normativität nicht auf menschliche Setzung oder kulturelle Kontingenz zurückgeht, sondern im Kern auf Gott und die von Gott geschaffene Natur selbst, so ist klar, dass es nicht den mindesten Grund gibt, an der bestehenden Lehre irgendwelche Abstriche zu machen und sich dem Zeitgeist anzupassen, bloß weil die Leute es gern so hätten.
Tatsächlich stehen kirchliche Lehre und übliche Praxis regelmäßig in Widerspruch. Nur ist das nichts Neues. Es bedürfte des Begriffes der Sünde nicht, wenn niemals Verstöße gegen göttliches Gebot, natürliches Sittengesetz (wie es von der Kirche interpretiert wird) und kirchliche Satzung vorkämen. Und ohne Sünde kein Bedarf an Sündenvergebung, keine Notwendigkeit des Opfertodes des Sohnes Gottes, also keine Erlösung, keine Sakramente, kein Evangelium, keine Kirche. Es gibt aber die Kirche, sie stellt fest, dass es Sünde gibt, und ist dagegen.
Dass die bloße Tatsache des Vorkommens von Normverstößen kein Argument für Abschaffung der betroffenen Norm ist, ist leicht einzusehen. Eine Zunahme von Ladendiebstählen kann das Eigentumsrecht nicht ändern und wohl niemand wird auf die Idee kommen, deswegen das Strafrecht umschreiben zu wollen. Was für Gesetzesrecht gilt, gilt auch für Anstand und Moral. Auch wenn es unüblich würde, Bedürftigen in Verkehrsmitteln den eigenen Sitzplatz anzubieten, so bleibt es doch anständig und moralisch richtig.
Weder ein Wertewandel noch eine abweichende Praxis vermag also eine Notwendigkeit zu begründen, dass die katholische Kirche ihre Auffassungen über Moralisches zu ändern habe. Tatsächlich wären solche Veränderungen im Grundsatz auch gar nicht möglich. Oder nur um den Preis der Selbstaufgabe.
Wer die katholische Morallehre für falsch hält, mag das tun. Man kann die katholische Moral ebenso wie das katholische Dogma verwerfen. Was man aber, wenn man die theologische Argumentation verstanden hat und redlich ist, nicht kann, ist einmal Festgelegtes für verhandelbar zu halten. Mit der Offenbarung diskutiert man nicht. Entweder die zuständigen Instanzen der katholischen Kirche sind befugt, Normen ein für allemal verbindlich festzulegen, dann gibt es daran nichts zu rütteln — und nicht das Sollen ist dem Sein, sondern dieses jenem anzupassen —; oder diese Befugnis besteht nicht, dann gibt es aber überhaupt keinen legitimen Grund für die Existenz der katholischen Kirche als solcher. Entweder eine wirklich katholische Kirche, dann auch eine unwandelbare Lehre, auch in moralibus, oder eine nach den scheinbaren Erfordernissen der Zeit gemodelte Lehre, dann keine katholische Kirche, sondern sektiererisches, letztlich protestantisches Wischiwaschi oder ehrlicherweise gleich Atheismus.
Umgekehrt gilt der geschichtlichen Erfahrung zufolge auch: Je mehr man katholischerseits den Leuten nach dem Mund redet und die Verbindlichkeit von Dogma und Norm herunterspielt, desto mehr schwindet der gesellschaftliche Einfluss und desto leerer werden die Kirchen. Je bestimmter und unangepasster man hingegen auftritt, desto glaubwürdiger wird man und desto lebendiger wird das kirchliche Leben. Das muss und wird nicht jedem gefallen. Aber so sind nun einmal die Fakten.