Samstag, 23. März 2024

Moskau brennt (ein bisschen)

„Schreckliche Bilder“? Nein, finde ich nicht. Ich finde es schön, wenn Moskau ein bisschen brennt. Von mir aus könnte es als ganzes brennen. Und die 115 Toten, die vermeldet werden, sind eine gute Nachricht. Ein toter Russe kann keine Ukrainer mehr umbringen.
Ist das grausam, unmenschlich, böse? Keineswegs. C’est la guerre. Die Moskowiter haben dem Westen den Krieg erklärt. In der Ukraine (und Syrien und …) führen sie ihn schon. Grausam und unmenschlich. Nicht nur Putin, der moskowitische Staat und seine Bevölkerung, die ihn trägt und funktionieren lässt, sind böse.
Aber gibt es nicht auch Unschuldige und sogar Oppositionelle? Ja, sofern sie nicht tot oder weggesperrt oder emigiert sind. Aber ich vermute, sie gegen nicht in lustige Musicals, während ihr Feind die Ukraine mit Luftangriffen terrorisiert. Es ist gut, dass die Moskowiter mal spüren, wie es ist, wenn man seines Lebens nicht sicher sein kann.
Mir ist völlig egal, wer den Anschalg ausgeführt hat, der Is ider das Fähnchen Fieselschweif. Das Mörderregime wird dafür haftbar machen, wer immer ihm passt. Entscheidend ist der Effekt. Tote Russen sind, man muss es leider sagen, gute Russen. Terrorismus ist eine Reaktion auf Terror. Unzureichend, aber angemessen.
Sie haben Bosheit gesät, sie werden Bosheit ernten. Möge es China und all den anderen Diktaturen genauso ergehen.
 
Nachtrag. Nun sollen es schon mehr als 130 Tote sein.  Von mir aus auch gerne mehr. Das Land und sein Volk sind aus eigenem Antrieb im Krieg, da wird eben gestorben. Ich hätte auch kein Problem damit, wenn, wie es Putin gerne hätte, die Ukraine dahintersteckte (was freilich nicht der Fall ist). Damit gibt er ja nur zu, dass mitten in seiner Hauptstadt, allem Terror, aller Unterdrückung, aller Überwachung zum Trotz sein militärischer Gegner zuschlagen kann. Wenn es irgendwelche Terroristen waren (und sie waren es wohl), auch gut. Die Feinde unseres Feindes sind nicht unsere Freunde, aber wenn sie ihm schaden, dann ist das etwas Gutes.
Die Anteilnahme der westlichen Medien ist mir unverständlich. Von Russland ermordete Ukrainer sind augenscheinlich weniger interessamt als Russen, zu denen Tod und Schrecken, die sonst sie in die Welt bringen, zurückkehren. Rührende Bilder von Blumen und Teddybären. Als ob da ein Unfall passsiert wäre und nicht ein Gegenschlag in einem Krieg. (Welchem auch immer, Russland führt viele.) Und was sagt der Kreml dazu, ja was sagt er denn, sagt er bald was, warum sagt er denn nichts? Ach, jetzt sagt er was! Mir doch egal. Es sind sowieso Lügen. Warum wird solcher Unsinn überhaupt berichtet, mit Sondersendungen und von Expertinnen und Experten abgesondertem Deutungssekret.
Mögen die Toten in Frieden ruhen. Aber dass sie tot sind, ist nur bei den Einzelnen vielleicht betrauernswert, nicht aber politisch. Da haben sie es sich selbst zuzuschreiben.

Donnerstag, 21. März 2024

Glücklich und zufrieden?

Die Finnen und Finninnen sind die glücklichsten Menschen der Welt, lese ich. Und von den Österreichern und Österreicherinnen, lese ich, sind mehr als zwei Drittel mit ihrem Leben zufrieden. Da stellt sich mir doch die Frage: Und du, bist du glücklich?
‘tschuldigung, aber wie soll das gehen? In der Welt, in der ich lebe, verrecken Menschen an Hunger und hausen im Elend, werden in Kriegen zerfetzt, werden weggesperrt und gefoltert, werden systematisch ausgebeutet, vergiftet, verblödet. Die Weltordnung ist eine Weltunordnung und Menschen tun Menschen Böses an. In der Gesellschaft, in der ich lebe, sind ein Drittel der Leute bereit, ihre Stimme von Nazis kaum zu unterscheidenden Rechtspopulisten zu geben, und die anderen sind auch nicht besser, niemand scheint ersthaft daran interessiert, die sozialen, ökonomischen, ökologischen Probleme im eigenen Land geschweige in der Welt anzugehen. Und da soll ich glücklich und zufrieden sein?
Nun ja, wird man sagen, aber dein Glück hängt doch nicht vom Wohl und Wehe anderer ab. Doch, tut es. Dass Wissen um das ungeheure und so unnötige Leiden viel zu vieler meiner Mitmenschen, während andere in Saus und Braus leben, macht mich traurig und wütend. Ich bin entsetzt über die Missstände und den Mangel an Bereitschaft, etwas dagegen zu tun.
Manchmal möchte ich den Leuten ins Gesicht schlagen und sie in den Arsch treten. Seid ihr verrückt, möchte ich sie anschreien, euch das gefallen zu lassen! Wie könnt ihr es hinnehmen, von solchem Gesindel regiert zu werden? Mag sein, dass es euch gut geht oder zumindest erträglich, aber kapiert ihr denn nicht, dass ihr durch eure konsumistisch-hedinistischen Grundhaltung, eure Erwerbsgesinnung, euer Wir-wir-wir-Denken und all eure Anstrenungen der Unterhaltung, Ablenkung, Zerstreuung, Betäubung zu Komplizen und Komplizinnen einer menschenverachtenden Maschinerie des Unrechts, der Unmoral, der Unanständigkeit seid?
Wie kann man glücklich sein, wenn auch nur ein Menschenbruder oder eine Menschenschwester es nicht sein kann? Wie kann man zufrieden sein, wenn man nichts dagegen tut? Sich wehrt? Wenigstens dagegen ist?
Il faut cultiver notre jardin? Scheiß drauf. Wir müssen aus diesr Welt die beste aller möglichen machen. Das sind wir einander schuldig. Alles andere ist verbrecherisch. Für Glück ist dann immer noch Zeit genug. Vorher nicht.

Freitag, 1. März 2024

Meiner Omi zum 120. Geburtstag

Heute, am 1. März 2024, jährt sich zum einhundertundzwanzigsten Mal der Geburtstag meiner Großmutter. der Mutter meiner Mutter. Meine Omi war in meinen ersten fünf Lebensjahren meine wichtigste Bezugsperson. Sie wohnte bei uns und kümmerte sich um mich. Sie ging mit mir spazieren (wobei ich zunächst im Wägelchen lag oder saß) und sie war es auch, die mir vorlas und mir Kinderlieder beibrachte. Und andere Lieder. Denn neben „Alle meine Entchen“, „Fuchs, du hast die Gans gestohlen“ usw. begegnete ich durch sie auch Kunstliedern wie „Ich weiß nicht, was soll es bedeuten“, „Brüderlein fein“, „Am Brunnen vor dem Tore“ usw. Und auch Schlagern. Ganz besonders ist mir „Mein Schatz ist ein Matrose“ in schönster Erinnerung.
Ich war fünf, als Omi starb. Schlaganfall mit 67. Beugte sich am Tisch sitzend hinunter, um eine zu Boden gefallene Patience-Karte aufzuheben ― und zack! Ich war dabei. Seither (53 Jahre) kann ich mich zu nichts Hinuntergefallenem beugen, ohne an meine Großmutter und ihren plötzlichen Schlaganfall zu denken …
Weil ich so klein war, als meine Omi starb, sind fast alle anderen Anekdoten, die ich mit ihr verbinde, Erzählungen anderer. Etwa, dass ich beim gemeinsamen Spaziergang, auch schon aus dem Kinderwagen heraus, meine kleinen Hände gern durch Zäune steckte, weil ich unbedingt ein dahinter befindliches „Hundi“ streichen wollte, was bei meiner Großmutter selbstverständlich Entsetzen auslöste, weil sie wusste, dass nicht jeder Hund so lieb war, wie ich ihn hatte. Es ist mir zum Glück nie etwas passiert. Und ein Hundefreund bin ich geblieben.
Bezeichnend für mich ist auch die Geschichte, dass meine Omi beim Vorlesen von Märchen, Sagen, Kinderbüchern gern ein bisschen was übersprang, sei es, weil sie die Geschichten schon hundertmal hatte vorlesen müssen, sei es, weil sie müde war, woraufhin ich, dem die Texte ja nur allzu bekannt waren, immer gesagt haben soll: „Das stimmt nicht, da fehlt etwas!“
Mein Großmutter, eine ausgebildete Erzieherin (und später Hausfrau und Mutter, auch ihrer beiden Stiefsöhne), war das, was man eine einfache Frau nennt. Sie war zurückhaltend, ruhig, bescheiden, still, unauffällig, herzensgut und arm. Als sie starb, hinterließ sie nicht viel, schon gar nichts Wertvolles. Ich „erbte“ zwei Sachen, die sie immer in ihrem Nachtkästchen aufbewahrt hatte: eine Dose mit lauter einzelnen Knöpfen in unzähligen Formen und Farben und ein dickes, kleines, mit einer Messingschließe versehenes Buch mit starrem Einband, darauf ein Kruzifix, wohl eher aus aus Zellophan denn aus Bein, gar Elfenbein. Mit beidem, der Knopfsammlung und dem Gebetbuch, hatte ich ab und zu spielen dürfen. Gelesen hatte ich in dem Büchlein allerdings nie, ich lernte ja erst Lesen, als Omi schon tot war.
Lange Jahre bewahrte ich das Gebetbuch auf, vergaß es wohl fast, und erst als Jugendlicher, wohl mehr als zehn Jahre nach Omis Tod, fiel es mir wieder in die Hände und ich schlug es auf. Zu meinem großen Erstaunen war es auf Tschechisch verfasst!
„Deine Großmutter konnte noch Tschechisch, ihre Eltern waren ja Tschechen“, sagte meine Mutter ungerührt, als ich ihr von meiner Entdeckung berichtete. Ich war verblüfft. Ich hatte gewusst, dass die Mutter meiner Mutter in Wien geboren war. Nun erfuhr ich, dass ihre Eltern aus Mähren stammten, bei der Eisenbahn gearbeitet hatten („Eisenbahnerböhmen“ nannte und nennt man diese tschechischen Arbeitsmigranten in Wien; es gab zum Beispiel auch „Ziegelböhmen“, die in den Ziegeleien am Wienerberg schufteten). Meine Mutter konnte sich auch noch an den Vornamen ihres Großvaters und den Mädchennamen ihrer Großmutter erinnern. Ich staunte.
Die Nachricht, dass meine geliebte Omi Tschechisch gekonnt hatte, überraschte mich aber nicht nur, sie erschütterte mich. Wie gesagt, von ihr war ich in die Welt der gestalteten Sprache eingeführt worden, Märchen, Sagen, Kindergeschichten, Lieder und Gedichte hatte ich von ihr und durch sie gelernt. Aber kein einziges tschechisches Wort war ihr dabei je über die Lippen gekommen, kein Abzählreim, keine Liedzeile, nichts. Wie konnte das sein?
Ich weiß nicht, warum es so war, aber ich kann es mir denken. Tschechisch galt einst in Wien (und ganz Deutsch-Österreich) als unerwünscht, nicht erst nach dem Ersten Weltkrieg oder in der Nazi-Zeit. In der Reichshaupt- und Residenzstadt gab es eine große tschechische Minderheit, aus Böhmen, Mähren und Schlesien zugewanderte Handwerker, Arbeiter und Dienstboten (darunter die berühmte „böhmischen Köchinnen“, die die „Wiener Küche“ geschaffen haben). Im Laufe der Jahre kam es für einige zum sozialen Aufstieg, sogar ein Tschechisches Gymnasium gab es in Wien, und so wie die Deutsch-Böhmen betrachteten auch die die Deutsch-Wiener ihre tschechischen Mitbürger immer mehr als Konkurrenz und entwickelten eine bizarre Feindseligkeit. Unter dem heute fast nur noch für seinen strategischen Antisemitismus bekannten Bürgermeister Lueger mussten Tschechen und Tschechinnen, wenn sie das Wiener Bürgerrecht erwerben wollten, einen Eid ablegen, dass sie hinfort ihre Muttersprache nicht mehr gebrauchen, sondern nur noch Deutsch reden würden!
Es gab also gute Gründe, warum meine Großmutter, die den Untergang der Monarchie, die aufgewühlte Zwischenkriegszeit und die Nazizeit (in der sie in Thüringen in einem Kinderheim arbeitete, ihre kleine Tochter, meine Mutter, bei einer fürsorglichen Bauernfamilie zurücklassend, wo sie wie ein eigenes Kind aufwuchs) überstanden hatte, ihre Muttersprache „vergaß“, also lieber dauerhaft für sich behielt und nicht mehr verwendete. Mag ja sein, dass zwischen 1966 bis 1971, als sie mich aufzog, solche Vorsicht nicht mehr unbedingt nötig war, aber sie, die mir so viel an Liebe, Zuwendung und durch Vorlesen, Vorsingen, Vorsprechen eben auch sprachlicher Kompetenz schenkte, kam wohl gar nicht auf die Idee, mich auch mit ein paar Wörtern in der Sprache meiner Vorfahren zu beschenken. Das ist verständlich, aber traurig.
Ich mache meiner Großmutter nicht den geringsten Vorwurf. Im Gegenteil, ich sehe sie als Opfer (und in der Folge auch meine Mutter und mich). Ein Opfer der in Österreich üblichen Vergangenheitsunterdrückung durch Verleugnung und Vergessen. Ostösterreich war immer schon, seit Römerzeit und Mittelalter und erst recht seit den Zeiten der Vielvölkermonarchie, ein Einwanderungsland und ist es bis heute. Das macht auch viel vom Charme insbesondere Wiens aus, wo sich immer noch Menschen sehr verschiedener Herkünfte, Traditionen und Kulturen niederlassen. Aber offiziell wird davon nahezu nichts repräsentiert. Überall vorhanden, sind die Zugewanderten doch unauffällig. Man bleibt unter sich, passt sich an, gibt sich, übertrieben gesagt, auf. Die zweite, dritte Generation verliert unter Umständen schon die Muttersprache, das kulturelle Wissen, die Bräuche, vielleicht sogar die Religion der Herkunft. Alle reden nur noch „Deitsch“. Zumindest Wienerisch (was sie vom Gegrunze und Geröchel der Westösterreicher unterscheidet). So ist das eben.
Aber mir ist das nicht gleichgültig. Ich hätte gern als Fünfjähriger wenigsten auf Tschechisch bis fünf zählen können (wie ich es übrigens seit dreißig Jahren zufällig auf Finnisch kann). Oder ein tschechisch Lied im Ohr gehabt haben. Oder …
Es hat nicht sein sollen. Österreich ist eine gewaltige Herkunftsvernichtungsmaschine, geschichtsbesessen, aber auch geschichtenvergessen. Einer der vielen Gründe, warum ich mich hier, wo ich geboren bin und von Geburt an die Staatsbürgerschaft besitze, ganz im Ernst als Migrant fühle. Also nicht nur wegen meiner ukrainischen, slawonischen, „krowodischen“, banatdeutschen usw. usf. Vorfahren, sondern auch wegen der böhmischen, mährischen, schlesischen (wie ich inzwischen weiß: auch von der Seite des Vaters meiner Mutter).
Vor einiger Zeit tauchten alte Dokumente wieder auf, die die Erinnerung meiner Mutter an den Mädchennamen ihrer Großmutter bestätigten und die auch den Mädchennamen von deren Mutter nannten: Pinkas. Hoppla, ein eindeutig hebräischer Nachname! War die Mutter der Mutter der Mutter meiner Mutter jüdischer Abstammung? (Wodurch dann lustigerweise auch ich, halachisch gesehen, sozusagen Jude wäre …) Leider konnte ich dieses Stammbaumrätsel bisher nicht lösen. Auch ein Fall von Erinnerungsabbruch, Dokumentmangel nach zwei großen Krieg und anderen Verwüstungen. Es liegt ja aber auch nichts daran.
Obwohl ich also, abstammungsmäßig gesprochen, ein mindestens halber Tscheche bin (mit womöglich einem Einsprengsel vom Stamme Levi), kann ich bis heute nicht Tschechisch und war auch nur selten in der Tschechischen Republik. Vielleicht ist es zu spät für mich, mich mit meiner Herkunft zu identifizieren, aber um das angenehme Gefühl der Fremdheit zu haben, reicht es. Und zum Jammern über Verlorenes und Unmöglichgemachtes sowieso ― was wiederum sehr österreichisch ist.
Odpočívej v pokoji, babičko!