Sonntag, 11. März 2012

Wortschatzübung

In dem auch sonst unerfreulichen, weil gänzlich überflüssigen Vorwort zur neuen Übersetzung eines mehr als dreißig Jahre alten amerikanischen Romans (den jetzt wiederveröffentlicht zu haben für sich genommen übrigens durchaus verdienstvoll ist) entdecke ich das bemerkenswerte Wort „Hauptprotagonist“. Ach du liebe Zeit! Ob es im Sprachgebrauch des Vorwortverfassers auch „Nebenprotagonisten“ gibt? Ihm und allen, die mit der Veröffentlichung des Buches zu tun hatten und die derlei Denk- und Schreib-Dummheiten offensichtlich nicht stören, lege ich, wenn wir schon dabei sind, auch noch diese Wortschatzerweiterungen ans Herz: Gegenantagonist, Randperipherie, Additionssumme, Heilmedikament, Rechencomputer, Vernunftrationalität, Musikorchester, Tipptastatur, Riesengigant, Vorhanggardine, Verhütungspräservativ und Zustandsstatus.

Montag, 5. März 2012

Für Muslime ohne Religion?

Peter Holtz, einer der Autoren jener vor ein paar Tagen durch die Berichterstattung gehuschten Studie zu den Lebenswelten junger Muslime in Deutschland, die das Bundesinnenministerium finanziert hatte, hat unlängst (3. März 2012) in einem Gastbeitrag für „Spiegel Online“ erklärt, dass der von ihm mitverfasste Text häufig falsch zitiert und falsch verstanden werde. Die Enttäuschung des Wissenschaftlers ist groß. Er scheint zwar geahnt zu haben, dass in der Studie enthaltene Zahlen „aus dem Zusammenhang gerissen ein furchtbares mediales Echo erzeugen“ könnten, entschied sich aber doch für die Hoffnung, „dass sie in unserem Sinne verstanden werden und dass auch der Rest des Berichts oder zumindest der Presseerklärung gelesen wird“. Um diese Illusion dürfte er mittlerweile ärmer sein.
Mich interessiert hier aber nicht das Missverhältnis zwischen einerseits Holtzens vermessenem Wunsch, durch Gespräch mit 56 Musliminnen und Muslimen gleich nicht weniger als „vier Millionen Menschen (…) eine Stimme zu geben“ und andererseits den öffentlichen Reaktionen, die vor allem über Tendenzen zur Integrationsverweigerung spekulieren. Vielmehr sind mir in Holtzens Bericht darüber, was er anders gewollt und anderes wahrgenommen hatte, ein paar Formulierungen aufgefallen, die mich befürchten lassen, dass selbst bei den Wohlmeinendsten und Aufgeklärtesten, zu denen man Holtz zählen dürfen wird, einige Haltungen zu finden sind, die „Integration“ zur Falle werden lassen.
Holtz erwähnt (unter der Überschrift „Auch perfekt integrierte Muslime werden diskriminiert“) einen jungen Mann, „der über seine Probleme berichtet hat, in einer deutschen Großstadt einen WG-Platz zu finden, weil andere junge Menschen denken, Muslime wie er würden keinen Alkohol trinken und keine Partys mögen. Er ist gar nicht religiös und bezeichnet sich als Atheisten. Trotzdem wird er diskriminiert.“
Trotzdem diskriminiert? Soll das heißen, wäre er kein Atheist, sondern religiös, wäre seine Diskriminierung berechtigt oder zumindest plausibel? Warum wird der Student von Holtz überhaupt als Muslim kategorisiert, wenn er doch gar keiner ist, sondern Atheist? Welcher merkwürdige Begriff von Religionszugehörigkeit steht dahinter? Ein rein standesamtlicher offenkundig.
Holtz erwähnt die Situation noch anderer Studienteilnehmer und schreibt dann: „Ich muss auch an die vielfältigen Erfahrungen mit religiösen Muslimen denken. [Was wohl „nichtreligiöse Muslime“ sind? Anm. St.B.] Religion kann für junge Menschen eine Brücke zum ‘Land der Vorfahren’ oder auch eine Verbindung zu den eigenen Wurzeln sein.“ Und fährt dann fort: „Bei den streng Religiösen vermag Religion noch viel mehr. Sie bietet eine Chance, sich im religiösen Sinn neu zu finden oder sich im sozialwissenschaftlichen Sinn selbst zu erfinden. Mitunter wird die Teilhabe an der ‘Mehrheitsgesellschaft’ dafür geopfert, in der man sich aber ohnehin unerwünscht fühlt. Man erhält Zugang zu einer Gemeinschaft, in der weder Nationalität noch Ethnizität noch sozialer Status zählen. Es ist egal, ob man Deutscher, Türke oder Araber ist. Und man muss sich endlich nicht mehr schämen, eine Muslima oder ein Muslim zu sein.“
Das klingt doch gut. Holtz gibt dem aber eine recht unschöne Wendung: „Man genießt sogar bisweilen die Reaktionen vieler Deutscher auf die äußeren Symbole dieser neuen Identität — das Kopftuch oder den langen Bart. Man wird endlich nicht mehr subtil diskriminiert, sondern wenigstens offen und ehrlich.“
Nun zwingt ja eigentlich niemand irgendwen, auf Bart und Kopftuch diskriminierend zu reagieren. Aber Holtz stellt keinem Moment lang die Selbstverständlichkeit solcher Reaktionen in Frage. Stattdessen fährt er fort: „Innerhalb dieser sehr religiösen Gemeinschaften gibt es vereinzelt Gruppierungen, die sich vorwiegend über den Hass auf den Westen definieren und innerhalb dieser Gruppierungen gibt es vereinzelt Menschen, die sich für ihren oft neu gefundenen und falsch verstandenen Glauben ‘opfern’ oder zumindest dafür kämpfen wollen. Aber sogar die meisten streng religiösen Muslime kennen solche Menschen nur aus den Medien, genauso wie ich.“
Anscheinend kennt Holtz, wenn überhaupt, vieles nur aus zweiter oder dritter Hand. Trotzdem gibt er starke Urteile ab. Was aber berechtigt ihn eigentlich, einen Glauben als „falsch verstanden“ zu klassifizieren? Woher weiß ausgerechnet er, wie welcher Glaube richtig zu verstehen ist?
Die Zwischenüberschrift des zuletzt zitierten Absatzes, der den Übergang von rein formeller Religionszugehörigkeit über echte Religiosität zu auch politisch wirksamem Fanatismus skizziert, lautet. „Der Fehler, vier Millionen Menschen nur auf ihre Religion zu reduzieren“. Die vier Millionen, von denen die Rede ist, sind die ungefähr vier Millionen in Deutschland lebenden Musliminnen und Muslime. Was aber, wenn nicht ihre Religion, der Islam ist das Kennzeichen von Muslimen? Holtz optiert offenkundig für eine Ethnisierung oder Kulturalisierung der Religionszugehörigkeit nach dem Modell der Taufscheinchristen — jener Karteileichen, die zwar nominell einer christlichen Gemeinschaft angehören, aber zum Teil oder ganz deren Überzeugungen nicht teilen und deren Regeln nicht befolgen. Mit anderen Worten Holtz plädiert im Grunde für einen säkularisierten, entislamisierten Islam.
Religion scheint Holtz etwas Unheimliches zu sein. Je ernster sie jemand nimmt, so stellt es sich ihm anscheinend dar, desto eher läuft er Gefahr, nicht so zu sein, wie man als braver Bürger einer westlichen Demokratie und als gehorsamer Konsument und Produzent im Kapitalismus zu sein hat.
Nun verlangen eigentlich alle Religionen von ihren Anhängern, ernst genommen zu werden und das Verhalten an ihnen auszurichten. Das ist kein Spezifikum des Islams. Ein religiöser Glaube, der nicht das ganze Leben mitbestimmt, ist keiner. Religion als Privatsache ist bereits Atheismus light, letztlich eine Mischung aus unreflektierter Folklore und unverbindlicher Erbauung. Das entspricht werde den religiösen Bedürfnissen noch der religiöse Erfahrung der meisten Menschen in dieser Welt. Man hat sich lediglich im Westen, besonders in Deutschland, an praktisch-implizten Atheismus, an ein bloß verbales, aber zu nichts mehr verpflichtendes „Christentum“, ein areligiöses Judesein und an das Zirkulieren belanglos-dekorativer Versatzstücke fernöstlicher „Spiritualität“ gewöhnt, dass man sich unangenehm berührt fühlt, ja sich gar ängstigt, wenn Menschen religiöse Überzeugungen haben und gemäß diesen auch leben wollen.
Das Problem ist nicht der Islam. Der ist nicht politischer oder „gefährlicher“ als jede andere ernstgenommene Religion auch. Das Problem ist die säkularisierte Gesellschaft, der jeder Sinn für die Ernsthaftigkeit von Überzeugungen abhanden gekommen ist. Aber wie auch anders? Nur im Unverbindlichen und Beliebigen sich austobende Haltungen zu Gott und der Welt sind mit dem Einverständnis mit der mit Ungerechtigkeiten gespickten modernen Gesellschaft vereinbar.
Daraus folgt übrigens nicht, dass religiöse Menschen, je religiöser sie sind, desto kritischer denken und umso konstruktiver handeln. Das Gegenteil ist zuweilen der Fall (was man beispielsweise derzeit an den republikanischen Bewerbern um die Kandidatur als US-amerikanischer Präsident gut sehen kann). Gewisse „religiöse“ Einstellungen können ebenso menschenverachtend sein wie ihre areligiösen und antireligiösen Gegenstücke. Fundamentalismus und Säkularismus sind Zwillinge.
Aus lauter Angst vor „Islamismus“ Muslimen und Musliminnen nur dann ihre Religion zu gestatten, wenn sie sie möglichst wenig ausüben, ist jedenfalls keine Lösung, sondern Teil des Problems. Religiöse Einstellungen sind nicht danach zu beurteilen, ob sie möglichst unauffällig sind und sich gut in die herrschenden Verhältnisse einfügen, sondern danach, was die Menschen, die solche Einstellungen vertreten, zur Verbesserung dieser Verhältnisse beitragen.