Sonntag, 29. März 2020

Was ist bloß los mit mir?

Man kann es wohl nicht verstehen, wenn man es nicht selbst erlebt hat. Es ist furchtbar. Ich erlebe es so: Ich weiß, dass zweimal zwei vier ist. Alle Welt um mich herum behauptet aber, es sei fünf, wenn nicht gar sechs. Selbst die Wohlmeinendsten konzedieren bloß, dass das Produkt der Multiplikation von zwei mit zwei zwar vielleicht nicht unbedingt fünf, aber doch auch nur schwerlich vier sei, wahrscheinlich eher so vierkommafünf, vierkommasechs oder um den Dreh.
Bin ich verrückt oder die anderen? Ich rechne nach. Zweimal zwei Äpfel macht vier Äpfel. Zweimal zwei Birnen macht vier Birnen. Es stimmt. Warum sagen die anderen, es seien fünf Bananen?
Ich mache mein abweichendes Rechenergebnis öffentlich. Ich bringe Belege. Ich lasse andere zu Wort kommen, die auch auf vier, nicht auf fünf kommen. Die hätten wohl den Schuss nicht gehört, heißt es daraufhin. Ich solle doch bitte nicht solchen Quatsch verbreiten. Das sei unverantwortlich. Ich hätte wohl den Ernst der Lage nicht begriffen. Jetzt müssten wir alle zusammenhalten und fünfe gerade sein lassen. Ob ich denn an eine Verschwörung glaubte? Es sei doch wohl höchst unwahrscheinlich, dass alle Welt sich dermaßen verrechnet hätte. Selbst wenn fünf oder sechs nicht stimme, vier sei ganz bestimmt falsch. Dann halte man sich lieber an fünf.
Es zermürbt mich. Auch helle Köpfe, oder die ich dafür hielt, stecken den Kopf in den Sand. Vorher murmeln sie noch: Fünf, fünf, fünf, es sind sicher fünf … Dann höre ich nichts mehr von ihnen. Sie wollen nicht mehr mit mir reden.
Ich zweifle an mir. Ich rechne nach. Es kommt vier heraus. Immer wieder. Ich kann einfach nicht verstehen, warum alle sagen, das sei falsch.
Oder fast alle. Denn langsam mehren sich die Stimmen, die Äpfel und Birnen wieder getrennt verrechnen und auch von Bananen unterscheiden wollen. Die vier für möglich halten. Die immer schon gesagt haben wollen: Zweimal zwei ist vier.
Bis sich das durchsetzt, wenn überhaupt, ist viel Obst verfault. Siehst du, wird man mir dann sagen, wir hatten Recht, es war zu viel Obst; reden wir also von Gemüse.
Entschuldigen wird sich bei mir keiner. Es wird mir nichts nützen, richtig gerechnet zu haben. Davon wird keine Rede sein. Das war Zufall, wird man bestenfalls sagen. Vielleicht hattest du Recht, vielleicht auch nicht. Eher nicht. Selbst wenn fünf nicht stimmte, das konnte ja niemand wissen.
Beim nächsten Mal werden sie wieder an irgendeine Zahl glauben wollen. Es wird wieder eine falsche sein. Woher ich das weiß? Ich kann rechnen. Das hoffe ich zumindest. Vielleicht bin ja aber ich der Verrückte.

Samstag, 28. März 2020

Notiz über „Ängste“ und Lust

Es ist mal wieder von „Ängsten“ die Rede. Die Leute hätten Angst um ihre Gesundheit, letztlich im ihr Leben. Das mag sein, aber es erklärt nicht alles. Nicht die Freude am Gehorsam und die Wut gegen Kritiker.
Es gibt auch die Lust daran, sich der Obrigkeit zu unterwerfen, andere zur Unterwerfung zu drängen und Ungehorsame zu denunzieren. Und auch die Lust, das Eigene gegen ein bedrohliches Außen abzuschotten.
Genauso wenig, wie Rechtspopulismus bloß mit den Verlustängsten von Abgehängten Stimmung macht, sondern wesentlich auf der Lust beruht, auszugrenzen, abzuwerten, zu schikanieren, Ressentiments auszuleben und einfach mal menschenverachtenden Unsinn auszusprechen, kurzum: auf dem Angebot, hassen zu dürfen, beruht auch die schöne neue Volksgemeinschaft („Solidarität! Gemeinsam stehen wir das durch! Wir schaffen das!“) nicht bloß auf Angst vor Krankheit und Tod, sondern ganz wesentlich auf der Lust am kritikbefreiten Ausleben des Herdentriebs.

Mittwoch, 25. März 2020

Notiz über Staat und Gesundheit

Das staatliche (oder private, vom Staat reglementierte) Gesundheitssystem ist eine wunderbare Einrichtung, wenn es funktioniert, in reichen Ländern naturgemäß besser als in armen, denn es rettet Leben, und das ist gut so, aber auch dann, wenn alle Teile der Bevölkerung einigermaßen gleichen Zugang zu Behandlung und Medikamenten haben, ohne sich gleich maßlos verschulden zu müssen, bleibt der Staat, der das fördert, ein Staat und ist als solcher böse. Zweck des modernen Staates ist die Sicherstellung von Ausbeutung, Zerstörung und Verdummung, das Reicherwerden der Reichen und das In-Schach-Halten der Armen. In den Gesellschaften des globalen Nordwestens wird dazu die Mittelschicht mit dem Zuckerbrot des relativen Wohlstandes und der Peitsche von Abstiegsangst und Sinnlosigkeit gefügig gemacht. Hedonistischer Konsumismus und individualistischer Konformismus gehören zusammen. Der Staat ist also, klassisch formuliert, nach wie vor ein Instrument der Klassenherrschaft. Manche profitieren von ihm. Viele nicht. Moralisch gesehen niemand.
Trotzdem gibt es, gerade in der Krise, Leute, die dem Staat unbedingt vertrauen und von ihm Rettung erwarten. Was dieselben Politiker, die sich sonst als Schwätzer und leicht zu korrumpierende Handlanger von Wirtschaftssinteressen erweisen, plötzlich zu klugen Ratgebern und legitimen Bestimmern über Tun und Lassen machen soll, ist freilich unerfindlich.
Seid solidarisch und bleibt zu Hause“, fordert der Staat. Dass das paradox ist, fällt sogar einer Frau Merkel auf. Ohnehin klingt es obszön, wenn eine Politikerin, die sonst Tag für Tag die Entsolidarisierung und Segmentierung der Gesellschaft vorantreibt, von „Solidarität“ spricht.
Die Verminderung von Sozialkontakten soll Leben retten, glauben viele. Das ist Unsinn. Es geht darum, die Zahl der Neuinfektionen langsamer ansteigen zu lassen: die berühmte „Abflachung der Kurve“. Krankheit und Gesundheit, Leben und Tod sind Zahlen, die sich zu einer Statistik (von nlat. status „der Stand, der Staat“) fügen, die, als Diagramm anschaulich gemacht, die Realität weniger abbildet als vorgibt. Die absoluten Zahlen der Infektionen und Toten bleiben in diesem Modell gleich. Es wird also keineswegs, wie das Gerede besagt, „das Virus gestoppt“, noch werden „Leben gerettet“. Es geht nur darum, die Zahl derer, die in Krankenhäusern behandelt werden, auf einen längeren Zeitraum zu verteilen, weil ansonsten womöglich die Kapazitäten an Personal, Betten und Geräten nicht ausreichen. Dann sterben Menschen voraussichtlich nicht wegen der Pandemie, sondern wegen des überlasteten Gesundheitssystems.
Der Staat „schützt“ also niemanden vor dem Virus und dem Tod durch Erkrankung ― zumal es kein Heilmittel gibt, die Behandlung in den Krankenhäusern also allenfalls Symptome lindern und das Sterben, wenn es denn ansteht, hinauszögern kann. Er will nur vor den zusätzlichen Toten „schützen“, die das von ihm unterhaltene Gesundheitssystem produziert. Zu Recht weisen Kritiker darauf hin, dass die neoliberale Logik, wonach Krankenhäuser Betriebe sind, die Profit erwirtschaften müssen, erst zu einer Ausdünnung und Unterbezahlung des ärztlichen und pflegerischen Personals geführt hat, die sich nun, in der „Krise“ rächt.

Samstag, 14. März 2020

Ein Faschismus unserer Tage

Die „Bewegung“ mit dem schönen Anglizismus #staythefuckhome als nom de guerre ist unverantwortlicher Unsinn. Die Epidemologen sind sich ziemlich einig, dass es in jedem Fall zu einer hohen Infektionsrate mit Covid-19 kommen wird, wohl um die 70% der Bevölkerung. So oder so. Die Mortalitätsrate ist noch nicht abzusehen, aber es wird die Risikogruppen (alte und Kranke) voll treffen. So oder so. Keine der derzeit vom Staat oder in vorauseilendem Gehorsam von Privaten gesetzten Maßnahmen ist geeignet, das Virus zu „stoppen". Es geht nur darum, die Ausbreitung zu verlangsamen. Nicht der Menschen wegen, die werden so oder so angesteckt werden, erkranken oder sterben, sondern um eine Überlastung des Gesundheitssystems zu verhindern. Es ist richtig, die Überlastung kann die Mortalität erhöhen. Aber das betrifft nicht allein Angehörige von Risikogruppen. Die sind nämlich ohnehin bei jedem Krankenhaushalt besonders gefährdet, weil Krankenhäuser ohnehin wunderbare Brutstätten von Keimen, Bakterien, Viren sind …
Das nunmalkluge und aggressiv vorgetragene #staythefuckhome ist also nichts anderes als Unterwerfung unter die Staatsräson, eine Affirmation des Terrors* und Schutz der bestehenden Verhältnisse. Mit anderen Worten: Ein Faschismus unserer Tage. 

Nachbemerkung. Viele verstehen den Unterschied nicht zwischen „Alle sollen zu Hause bleiben“ und „Menschen mit besonderer Gefährdung sollen besonders auf sich aufpassen (etwa, in dem sie möglichts nicht unter Menschen gehen)“. Das eine macht jeden Menschen zur bloßen Zahl in einer Statistik, das andere ist ein vernünftiger Ratschlag. Das eine dient dem System ― und das ist, trotz all der unzweifelhaften Vorteile, die es manchen bietet, kein gutes ―, das andere den Menschen. Seit Jahren rate ich zwecks Verhinderung von terroristischen Akten dazu, allen Menschen die Hände mit Handschellen auf den Rücken zu binden. Wer Hirn und Herz hat, mag darin Ironie in kritischer Absicht erkennen. Die anderen, sehr beschäftigt, ihr Leben zu retten (wofür eigentlich?), halten mich für einen verrückten Stänkerer. Ich weiß, wer Recht hat. 

* Terror, der: 1. [systematische] Verbreitung von Angst und Schrecken durch Gewaltaktionen (besonders zur Erreichung politischer Ziele). 2. Zwang, Druck [durch Gewaltanwendung]. 3. große Angst. 4. (ugs.) a) Zank und Streit, b) großes Aufheben um Geringfügigkeiten. (Duden) 

Gottvertrauen einst und jetzt

Gab's früher eine Seuche, taten die Menschen Buße und gelobten Wallfahrten und Kirchenbauten zur größeren Ehre Gottes.
Heute glauben sie fest an die Götzen Staat und Wissenschaft. Und gibt's eine Seuche, lassen sie auch schon mal die Gottesdienste ausfallen.
Dem Glauben ans Übernatürliche verdanken wir wesentliche Kulturgüter. Was werden wird dem Glauben an die modernen Götzen verdanken?

Qui vivra, verra.

Freitag, 13. März 2020

Ich frage für einen Freund

Was muss ich jetzt noch rasch vorsorglich einkaufen, falls ich später mal plündern möchte? Heugabel? Fackeln? Äh, nein, das ist wohl eher die Ausrüstung fürs Lynchen. Ach, ich kenn mich halt nicht aus mit Gewalttaten.

Warum ich gelassen bin


Wann und wie du stirbst, kannst du getrost dem lieben Gott überlassen. Der weiß schon, was er tut.

Wie du aber lebst, was du aus dem machst, was dir gegeben ist, das liegt in deiner Verantwortung.

Darum kann ich mich sehr darüber aufregen, wenn Menschen ihr oder mein Leben oder das von Dritten verunstalten und verpfuschen. Dem Tod aber sehe ich gelassen entgegen.

„An irgendwas muss man ja sterben“, pflege ich oft und gern zu sagen (und ernte regelmäßig Unverständnis in meiner humorlosen Mitwelt). Es stimmt aber doch.

Prioritäten in Zeiten der Krise

Wenigsten wird unmissverständlich klar, was eine Gesellschaft, die sich in der Krise glaubt, für entbehrlich hält: Schulen, Universitäten, Museen, Theater, Konzerte, Demonstrationen, Gottesdienste ...

Aber ohne Netflix u. dgl. gäb's wahrscheinlich einen Volksaufstand.

Zwischenfrage

Will man mir im Ernst erzählen, dass Jens Spahn, der bisher immer ein Depp war, jetzt plötzlich alles richtig macht?

Krise fürs System

Ach ja, die Biopolitik. Wer sich infiziert, erkrankt, stirbt, ist egal, es kommt auf die Zahlen an, nicht unbedingt darauf, ob sie hoch oder niedrig sind, das ist ohnedies höhere Gewalt, sondern darauf, wie sie sich verteilen, mithin auf die Kurve. Die soll flach sein. Also soll nicht verhindert werden, dass viele Menschen sich anstecken, erkranken, sterben – man wüsste auch gar nicht wie; sondern die Maßnahmen sollen verhindern, dass sie es gleichzeitig werden. Das könnte das System nicht verkraften. Das System aber ist wichtiger als Einzelne. Wichtiger also jeder Einzelne. Man könnte auch sagen: Das System ist das Gegenteil jedes Einzelnen. Der ist letztlich entbehrlich. Das Große Ganze nicht. Man lasse sich bloß nicht einreden „Das System, das sind wir alle“. Nein, ich bin nicht das, was mich verwaltet (auch wenn es mich zur Selbstverwaltung zwingen will). Das ist der Unterschied zwischen Fürsorge und Biopolitik: Du kümmerst dich um mich (oder nicht), ich kümmere mich um dich (oder nicht), das System sorgt nur für sich selbst. Die Effekte mögen dir oder mir gefallen oder missfallen, wir mögen davon davon profitieren oder nicht, darum geht es nicht. Wir sind, wie gesagt, entbehrlich. Nicht für einander, aber fürs System.

Donnerstag, 12. März 2020

Aufgeschnappt (bei Umberto Eco)

Stellt ein Mediziner fest, daß alle Patienten, die an hepatitischer Leberzirrhose leiden, entweder Whisky mit Soda oder Cognac mit Soda oder Gin mit Soda trinken, und zieht daraus den Schluss, dass Soda die hepatitische Leberzirrhose hervorruft, so irrt er sich.

Montag, 9. März 2020

Rationalität einst und jetzt

Früher gelobte man einfach der Allerheiligsten Dreifaltigkeit oder der Allerseligsten Jungfrau eine Kirche oder wenigstens Bildsäule – und die Seuche kam zum Erliegen.

Heute sperrt Italien mal eben ein Viertel seiner Bevölkerung weg*, der Bankkaufmann Jens Spahn ist deutscher Gesundheitsminister und Donald Trump erklärt, dass das mit dem Virus sich im April, wenn's wärmer wird, sowieso erledigt haben wird. Vom Nudelhamstern und Klopapiebunkern gar nicht zu reden.

Und jetzt sagt mir, was rationaler ist.

* Nachtrag: Zuletzt sogar die ganze.

Samstag, 7. März 2020

„Einfache Leute“ – Eine Erinnerung

„Masaryk war das Kind einfacher Leute.“ Ja was denn sonst? Doppelter Leute?

Zugegeben, der Einwand mit den doppelten Leuten stammt nicht von mir (er fiel mir nur ein, als ich obigen Satz las), sondern von P. Raphael Schulte, OSB. In dem Konversatorium, dass Prof. Schulte im zweiten Semester meines Theologiestudiums zu seiner Vorlesung „Einführung in das Heilsmysterium Christi“ abhielt, sprach ein Kollege beiläufig von „einfachen Leuten“. Prof. Schulte wies ihn freundlich-humorvoll darauf hin, dass es keine doppelten Leute gebe, die Rede von einfachen sich also erübrige. Seither ist mir der Ausdruck nie wieder über die Lippen gekommen (dem Kollegen hoffentlich auch nicht), und wenn ich ihn irgendwo höre oder lese, zucke ich zusammen und denke an den westfälische Benediktiner, der ihn mir dankenswerterweise verleidet hat. Vergelt’s Gott!

Versteh ich nicht

Es gibt Dinge, die ich nicht einfach verstehe, man kann sie mir so oft erklären, wie man will. Entropie. Derivative Finanzinstrumente. Reality TV. Die Spielregeln von Cricket.
Oder dass man, vor die Wahl zwischen Biden und Sanders gestellt, nicht den sympathischen, intelligenten Sozialisten wählt, sondern den senilen, selbstgefälligen Vertreter des Establishments.