Mittwoch, 6. Dezember 2023

Aufgeschnappt (bei Franz Kafka)

Jeder, der sich mit mir verfeindet oder dem ich gleichgültig oder lästig werde, ist zu beneiden um die Leichtigkeit, mit der er mich loswerden kann.

Dienstag, 5. Dezember 2023

Universalität einfachen Menschseins oder Herrenmenschentum?

„Der selbstlose Universalismus, der sich für die meisten Deutschen und Europäer in den vergangenen Jahrzehnten herausgebildet hat, kann für Israelis nach 1945 nur noch als ideales Bild existieren, nicht als Lebenswelt. (…) Für uns Juden und insbesondere Israelis gab und gibt es keine Nachkriegszeit. Die Zeit nach der Schoa ist nie 'danach', sie ist immer im Jetzt. Wenn man das nicht verstehen und erkennen kann und sich der Illusion des einfachen Menschseins hingibt, dann können die Konsequenzen prekär sein, das ist unsere Erfahrung. Das Bestehen auf dieser nicht universellen Haltung zur Welt ist eine schwer erträgliche Zumutung in einer Gesellschaft gleicher Freiheits- und Rederechte, die ja darauf aufbaut, dass alle Menschen gleich sind. Mit diesen Widersprüchen wollen, können und müssen die meisten Israelis leben. Das erklärt auch die israelische Entschlossenheit, sich zu verteidigen und sicherzugehen, dass so ein Angriff nie wieder geschehen wird. Selbst wenn der moralische und politische Preis sehr hoch sein wird.“ (Natan Sznaider, SpiegelOnline, 28. November 2023)
Diese Sätze Herrn Sznaiders, die ich im Internet gefunden habe, sind monströs. Es handelt sich um nicht Geringeres als die Aufkündigung des ethischen, Universalismus, der universellen Geltung menschlicher Rechte, der gemeinsamen Menschlichkeit.
Sznaider zufolge bedeutet die historische Erfahrung des „Holocaust“ für „Juden und Israelis“ eine Situation (oder zumindest ein Gefühl) permanenter Bedrohung, die im Widerspruch zu einer „Illusion einfachen Menschseins“ steht und eine „Entschlossenheit, sich zu verteidigen“ bedingt, die keine moralischen und politischen Rücksichten kennt, also, so darf man das wohl verstehen, jederzeit mit ethischen Normen und juristischen zu brechen bereit ist.
Wenn nun also, Sznaider zufolge, Juden keine „einfachen Menschen“ sind, was sind sie dann?
Die nationalsozialistischen Deutschen hatten, bevor und während sie den „Holocaust“ ins Werk setzten auf eine Antwort darauf: Juden sind weniger als Menschen. Deutsche hingegen sind Menschen mit besonderen Rechten, nämlich Herrenmenschen. Die Nichtdeutschen können und sollen massenhaft verschwinden, am besten sterben, darauf kommt es nicht an, nur auf die Deutschen kommt es an. Für die Juden war Vertreibung und schließlich Ausrottung vorgesehen, für die „Ostvölker“ die Dezimierung und Umwandlung in Sklavenvölker. Die Nazis also hingen ganz bestimmt keiner „Illusion einfachen Menschseins“ an.
Ist aber nicht die Möglichkeit, sich auf das gemeinsame Menschsein, die Universalität von Menschenrechten (Sznaider nennt nur „Freiheits- und Rederechte“, aber es geht ja wohl auch um das fundamentale Recht auf Leben) und menschlicher Gleichheit berufen zu können, die Voraussetzung, um die völkermörderische nazistische Ideologie als ethisch völlig verwerflich kritisieren zu können? Welche Kriterien gäbe es sonst? Das Recht des Stärkeren? Wenn die Nazis Juden umbringen können, sind sie im Recht, wenn die Israelis mit allen Mitteln gegen (das, was sie als) Bedrohungen (erleben) vorgehen, sind sie im Recht?
Die mit der Metapher „Holocaust“ mehr schlecht als recht bezeichnete millionenfache Entrechtung, Entwürdigung, Beraubung, Verschleppung, Ermordung von Menschen mit der „Begründung“, es seien Juden und Jüdinnen, ist doch nicht deshalb völlig verwerflich, weil sie dieser und nicht jener Kategorie von Menschen galt, sondern weil sie überhaupt Menschen galt, weil das Entrechten, Entwürdigen, Berauben, Verschleppen, Quälen, Ermorden von Menschen ethisch verboten ist. Punkt.
Keine Erfahrung von Unrecht stellt den, dem es widerfährt, außerhalb des Rechts. Sonst gäbe es ja das Unrecht plötzlich gar nicht mehr. Wer sich also darauf beruft, dass ihm Unrecht geschieht (geschehen ist und geschehen könnte), muss umso mehr am Recht festhalten. Und hier selbstverständlich nicht bloß am gesetzten Recht, das so oder so ausfallen kann, sondern an den unveräußerlichen Rechten, die jedem Menschen einfach dadurch zukommen, dass er ein Mensch ist.
Wer hingegen die Erfahrung von Unrecht und Bedrohung zum Anlass nimmt, die Universalität aufzukündigen, stellt sich außerhalb der menschlichen Gemeinschaft, genauer gesagt: über sie, und wird potenziell deren Feind. Wer sich selbst auf Grund besonderer Unrechtserfahrungen zum besonders Berechtigten (also faktisch zum „Herrenmenschen“) stilisiert, der nur sich und die Rechte ― darunter vor allem das Recht auf Leben ― verteidigt, das er zugleich anderen abspricht, wird in der Tat diese anderen einen hohen moralischen und politischen Preis zahlen lassen. Das ist verwerflich und widerwärtig.
Oder mit den klaren Worten von Jean-Philippe Kindler, die dieser in ganz anderem Zusammenhang geäußert hat: „Wer sich gegen die universalistische Idee stellt, wer anzweifelt, dass Menschen gleich und als Gleiche zu behandeln sind, der ist als politischer Feind auf radikalste Weise zu bekämpfen.