Sonntag, 27. März 2011

Gelassenheit oder Vertrauen?

Robert Spaemann hat (jüngst in „Christ und Welt“) behauptet, die gelassenen Reaktionen der japanischen Bevölkerung auf die Katastrophen in ihrem Land machten den Unterschied zwischen dem ostasiatischen Buddhismus und dem christlichen Glauben deutlich. Zwar bewiesen die Japaner stoische Ruhe und Gelassenheit, was von Christen und Nichtjapanern nur bewundert werden könne. Dennoch hätten Christen einen Vorteil gegenüber den nichtchristlichen Japanern, nämlich Gott-Vertrauen. Das sei zukunftsweisender als stoisches Aushalten. Für Christen sei es möglich, die schlimmsten Dinge nicht nur resignativ hinzunehmen, sondern im Vertrauen anzunehmen.
Wenn man den unangenehmen Unterton abendländischer Arroganz überhört, der bei solchen Thesen unweigerlich mitschwingt, hier aber keineswegs als  intendiert unterstellt werden soll, kann man sagen: In der der Theorie klingt das gar nicht mal so übel. Doch in der Praxis? Wer sind denn diese Christen, von denen Spaemann da phantasiert? Glaubt er im Ernst, Ähnliches wie Tsunami und Fukushima hätten in Europa oder den USA das Gottvertrauen gestärkt? Gewiss, manche nähmen ihre Zuflucht beim erhofften Reparaturdienst des Allmächtigen, der alles schon irgendwie wieder hinbiegen werde oder zumindest ein Plan habe. Aber die meisten im Westen, wären sie von dem japanischen Unglück Ähnlichem betroffen, mit Sicherheit keine Psalmen, sondern verfielen in hysterisches Gejammer. Warum ich? Warum jetzt? Warum so?
Schon jetzt sorgen sich die Bewohner der „christlichen“ Welt mehr um die möglichen Folgen für sich als um die wirkliche Lage der Japaner. Zählt denn Spaemann die Deutschen, in großer Zahl formelle Kirchenmitglieder, nicht zu den Christen oder zumindest zu Angehörigen einer christlich geprägten Kultur? Ist Deutschland aber nicht ein Land, dem mehr Stoizismus ganz gut täte, in dem nämlich für gewöhnlich über jede Kleinigkeit gejammert und geklagt wird? Von Gottvertrauen weit und breit keine Spur.
Nein, man mag den Buddhismus, wenn der denn der denn der Grund für japanische Gelassenheit ist, für manches kritisieren, nicht aber für seine Unaufgeregtheit und seine Gegnerschaft zur Aufgeregtheit über das eigene Ego.
Es ist andererseits zweifellos die historische Schuld der real existierenden Christentümer, dem Kult der Innerlichkeit, dem moralischen Subjektivismus, dem konsumistischen Inidivualismus, der halb weinerlichen, halb größenwahnsinnigen Egomanie (auch in kollektivistischen Formen) Vorschub geleistet zu haben. Zurecht kritisiert Spaemann den uneingeschränkten Glauben an technische Fortschritte, wonach sich Wissen und Möglichkeiten dauernd vermehrten, woraus man ableite, dass diese unsere Zivilisation auf ewig weiterexistieren werde, eine Annahme, für die es, wie Spaemann zurecht feststellt, nicht den geringsten Grund gibt.
Gerade aber, wenn man die Relativität der christlich geprägten Kultur einsieht, kann das nicht ohne Folgen für Absolutheits- und Überlegenheitsansprüche der prägenden christlichen Kräfte sein. Zumindest müsste man — auch das eine christliche Tradition — scharf unterscheiden zwischen Ansprüchen und Verwirklichung, zwischen der Botschaft Jesu, der Lehre der Kirchen und dem gelebten Leben der Leute. Spaemann hat  in der Theorie womöglich Recht. In der Praxis aber sieht es leider ganz anders aus.

Oculi

Gott ist tot, heißt es, und wir haben ihn getötet. Aber nicht das ist die bemerkenswerte Botschaft, dass Gott tot ist — hierin irrte Nietzsche —, denn das Sterben eines Gottes ist von alters her fester Bestandteil der Lehren vieler Religionen. Vielmehr verdient das, was viele Religionen ebenfalls verkünden, die eigentliche Aufmerksamkeit: Er starb und stand von den Toten auf. Wenn das wahr ist, gibt es Hoffnung. Wenn nicht …
Mir selbst ist es, wenn ich dies persönliche Bekenntnis wagen darf, nicht verständlich, wie man leben kann ohne Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod. Ich meine damit nicht den egomanischen Wunsch nach einem eigenen Weiterexistieren. Ob es mich gibt oder nicht, ist mir nicht so wichtig. Ich klammere mich nicht an mein Dasein und fürchte mich nicht vor dem Tod. Ich habe das eigene Totsein nie erlebt und kann darum nicht sagen, ob ich dafür oder dagegen bin. Was ich aber erlebt habe, ist das Sterben und Totsein anderer. Und da nun tut sich für mich die Notwendigkeit der Hoffnung auf.
Ich kann nicht nachvollziehen, dass es Menschen gibt, die von einem anderen Menschen, den sie angeblich geliebt haben und der gestorben ist, sagen können: Jetzt existiert er nicht mehr. Mir ist die Vorstellung, der geliebte Mensch sei ein Nichts, völlig unerträglich. Wie weiterleben, wenn er nicht mehr lebt?
Selbstverständlich kann man nun einwenden: Es geht dir nur um deine Gefühle, du willst die Realität nicht wahrhaben, kannst sie nicht ertragen und flüchtest dich darum in eine Illusion.
Dem kann ich nichts entgegensetzen als meine Wahrnehmung der Wirklichkeit: Ich kann nun einmal nicht anders, ich kann die Endgültigkeit des Todes nicht anerkennen. Und ich verstehe nicht, wie das irgendjemand können kann.
Wirklichkeit ist für mich das, was ich nicht beliebig so oder so verstehen kann, sondern unter den und den Bedingungen also so und so seiend hinnehmen muss. Ich mag es verändern können, aber zunächst einmal setzt es meinem Wunsch und Willen Widerstand entgegen. Real ist, was Grenzen zieht. Insofern ist mein Unvermögen, mit der Endgültigkeit des Todes des geliebten Anderen zu leben, Bedingung meiner Wirklichkeit.
Das begründet noch keine Religion. Aber es hält zumindest offen für Transzendenz. Dass das, was immanent erfahrbar ist, was erklärbar und gewiss scheint, nicht alles sein kann, ist selbst eine Erfahrung innerhalb der Immanenz. Man könnte sagen, Immanenz ist ohne Transzendenz nicht denkbar. Und schon gar nicht erträglich.

Samstag, 26. März 2011

Kunstsperma

O Jahrhundert, o Wissenschaften, endlich ist es soweit! Der Beitrag der Männer zur Fortpflanzung, ohnehin schon bisher ziemlich gering, wird wohl demnächst überflüssig. Japanischen Wissenschaftlern, so heißt es, sei es gelungen, aus dem Hodengewebe von Mäusen voll funktionsfähige Spermatozoen zu züchten. Das sei, so heißt es weiter, prinzipiell auch beim Menschen möglich.
Dieser wissenschaftliche Fortschritt ist zu begrüßen und seine baldige Ausbreitung zu wünschen. Sobald das Fabrizieren von Sperma im Laboratorium zum Standard wird, gibt es endlich für die verhängnisvolle Neigung mancher Männer, mit Frauen zu schlafen, keine Ausrede mehr. Die Fortpflanzung der Menschheit, bisher seltsamerweise vielen ein Anliegen und eine Sorge, ist dann etwas, was man getrost Reproduktionstechnikerinnen überlassen kann. Männer hingegen können sich auf den Spaß konzentrieren, aufs Ficken ohne Schwangerschaftsrisiko, ja ohne Schwängerungsmöglichkeit. Die Heterosexualität, diese ebenso unappetitliche wie unanständige (weil psychisch offensichtlich verstümmelnde) schlechte Angewohnheit, wird somit endgültig zum Auslaufmodell. Nur noch religiöse Fanatiker und andere Geisteskranke werden derlei praktizieren. Der glückliche Rest der Menschheit aber kann sich endlich von den Frauen und ihrer Fortpflanzerei emanzipieren. Hurrah!

Freitag, 25. März 2011

Beiläufiges zur Methode

In Diskussionen zu tagesaktuellen Themen stelle ich immer mal wieder fest, dass ich bei weitem nicht so viele Einzelheiten dazu anzugeben weiß, wie mancher Mitdiskutant (allerdings öfter noch durchaus mehr als manch anderer Mitdiskutierender). Woher die Leute die Zeit nehmen, sich so detailfreudig zu informieren, ist mir ein Rätsel. Mir genügen oft die groben Züge oder ein bestimmtes Detail, um mir eine, wie ich meine, angemessene, weil begründbare Meinung zu bilden. Trotzdem meinen manchmal manche, ich müsste, wüsste ich um diese oder jene von mir anscheinend nicht bedachte Einzelheit, meine Meinung ändern. Allerdings habe ich bisher meist die Erfahrung gemacht, nicht mein Urteil ändert sich, wenn ich noch mehr beiläufiges Material berücksichtige, sondern nur die Umständlichkeit, mit der es zu erklären ist. Man kommt vom Hölzchen aufs Stöckchen und vor lauter Argumenten sieht man die Kriterien nicht mehr und unter lauter Informationen wird die Wahrheit begraben.
Nun wäre es selbstverständlich falsch, sich aus Gründen bornierter Parteilichkeit und schierer Voreingenommenheit nur auf das zu beschränken, was einem in dem bestätigt, was man sowieso schon zu wissen glaubt. Andererseits wissen viele viel und verstehen doch nichts. Die gleichsam mittlere Lösung besteht für mich darin, nicht alles über alles, sondern bloß Relevantes über Bestimmtes wissen zu wollen. Wie man dahin gelangt, ist freilich im voraus nicht festgelegt, sondern eine Frage des Gespürs, der Intuition, der produktiven Einbildungskraft. Sowie ein klares Bewusstsein der eigenen Grundsätze.
Wenig hilfreich scheint mir nämlich der allzu überbordende Konsum meinungsstarker Medien. Bei allem Respekt vor gutem Jornalismus meine ich doch, dass eine gewisse intellektuelle Abgestumpftheit, ja Herzensroheit dazugehört, täglich mehrere Zeitungen zu lesen. Man müsste wohl ein Karl Kraus sein, um derlei unbeschadet zu überstehen, aber wer ist das schon. Die Wirklichkeit, so meine ich, besteht ja auch nicht aus den fein gesponnenen Synthesen irgendwelcher Leitartikel und spiegelt sich darin auch nicht unverzerrt wieder, sondern sie muss aus dem Rohmaterial der unzähligen heterogenen, widersprüchlichen, für sich genommen oft bedeutungsarm scheinenden Schnippseln und Splittern rekonstruiert werden, die aus Zufall oder selbst erst wieder herbeizudeutender Notwendigkeit durch die Kanäle des öffentlichen und privaten Lebens gespült werden.
Dass damit kein Plädoyer für das Geschwätz der virtuellen Stammtische des Internets gehalten werden soll, versteht sich hoffentlich von selbst. Auch dort geht es meinungsstark zu, nur dass die allermeisten Meinung noch weniger begründet sind als dort, wo handwerkliches Können und redaktionelle Einbindung gewisse Korrektive gewähren.
Eher scheint es mir sinnvoll, die verschiedenen Medien gegeneinander auszuspielen, hier das und dort jenes aufzuschnappen, niemals aber alles mitzunehmen und über dem Geordneten und Zugerüsteten das Zufällige und Rohe nicht zuvergessen. Um sich die Rosinen aus dem Kuchen picken zu können, muss man freilich unterscheiden können, was Rosine ist und was versehentlich mitgebackene Kakerlake. Extrapolation ist eben eine Kunst, die sich nicht jeder zutrauen sollte.
Beschränken aber muss man sich, sonst wird man beschränkt. Zu viele Details führen mit ziemlicher Sicherheit bei den meisten Medienkonsumenten zu Betriebsfehlsichtigkeit. Allzu viel gängige Informiertheit lässt leicht den kritischen Überblick verlieren und mit dem Hauptstrom schwimmen. Nicht, dass Vorurteile besser wären als Nachprüfungen, aber wer meint, das wahre Wissen zwanglos aus den üblichen Diskursen schöpfen zu können, sitzt schließlich doch bloß einem großen Haufen von Vorurteilen auf.
Es gibt auch da wohl eine Art Konformismus zweiter Stufe, ich nennen ihn den Hyperkonformismus, der darin besteht, nicht, nach Art der Konformisten, so denken zu wollen, wie man eben so denkt, sondern aus lauter Nüchternheit, Ausgewogenheit, Realismus das, was man so denkt, für die Realität zu halten, mit der man sich abfinden müsse. Der Konformist verzichtet auf ein eigenes Urteil, weil er sein will wie die anderen. Der Hyperkonformist erarbeitet sich ein eigenes, oft sehr kritisches Urteil und übersieht dabei, das die Kriterien dafür nicht von ihm stammen.
Ich für meinen Teil ziehe es jedenfalls nach wie vor vor, mir meine Meinung selbst zu bilden und mich dabei in Bejahung und Verneinung in der Regel weder — um zwei Pole zu benennen — an der „Bild-Zeitung“/„Kronenzeitung“ noch an der „FAZ“/„Presse“, weder am Rauschen des Internets noch an den Einseitigkeiten von (vermeintlichen) Fachleuten zu orientieren. Dass ich in der Wahl meiner Argumente oft intuitiv verfahre, spricht nicht gegen die Resultate, deren Wert sich an den Reaktionen erweist. Wenn ich an die Grenzen des Verständnisses gestoßen bin, habe ich mein Ziel erreicht. Dort, wo man mir nicht mehr zustimmen kann, sitzt nicht unbedingt mein Irrtum oder meine Täuschung (obwohl ich auch das keineswegs ausschließe), sondern meist das Vorurteil oder Ressentiment der anderen.
Man spricht gern von Medienkompetenz, aber das klingt mir zu technisch. Ich spräche lieber von poetischer Phänomenologie oder intuitiver Mytho-Analyse. Die Erfahrung scheint mir recht zu geben. Denn ich kenne manchen, der Detailwissen um Detailwissen in der oder jener Sache anhäuft, darüber aber das Wesentliche übersieht und mit seinem Urteil nur zu dem gelangt, was ohnehin alle sagen. Mir genügt oft ein — und hier eben setzt das weder zu erklärende noch zu rechtfertigende Mythisch-Poetische ein — charakteristisches Detail, ein scharfer Blick auf Kontext und Hintergrund, um zu einer Beurteilung zu gelangen, die von der durch den Hauptstrom abweicht. Nicht aus Originalitätssüchtelei abweiche ich geradezu gewohnheitsmäßig vom Gewöhnlichen ab, sondern wiederum aus Erfahrung, nämlich der, dass das, was alle Welt so denkt, nicht das zu sein pflegt, was den Kern der Sache trifft. Woraus umgekehrt nicht folgt, jeder Unsinn, sei er nur abseitig genug, sei unfehlbar wahr.

Was ich hier über mein Verhältnis zu tagesaktuellen Diskussionen darzustellen bemüht war, gilt übrigens selbstverständlich auch für philosophische Auseinandersetzungen. Da mache ich im Grunde nicht viel Unterschied. Es ist, wie es ist: Ich erfasse die Wirklichkeit oder das, was ich für sie halte, eher in Emblemen und Chiffren, weniger in abstrakten Begriffen. (Deren so reibungslosem Funktionieren in den Denkmschinen berühmter Philosophen ich stets mit Unbehagen und Unverständnis zusehe.)
Vielleicht aber kann ich das, was ich hier sagen wollte, gerade darum nicht besser sagen, als ich es versucht habe, weil es den Horizont meines Denkens ausmacht. Ich gelange darum nicht weiter als zum Anspruch auf argumentative Intuition und intuitive Argumentation. Überprüfbar sind die Ergebnisse solchen Bemühens erst in der Diskussion, im Dialog, denn niemand kann jenseits der Grenzen seines Denkens denken. Aber man kann sich von anderen sagen lassen, was sie denken, dass man denkt.

Mittwoch, 23. März 2011

Sonntag, 20. März 2011

Reminiscere

Nein, selbstverständlich bedarf es nicht des Fastens, auch nicht des rituellen, und nicht der Fastenzeit, um sich der eigenen Bedürftigkeit bewusst zu werden und die eigenen Bedürfnisse im Hinblick auf ihre Manipuliertheit zu kritisieren. Aber die Fastenzeit steht so schön quer zum Strom der Zeit, dass es eine Schande wäre, nicht ihre Partei zu ergreifen und ihre Fahne gegen die konsumistische Gleichgültigkeit hochzuhalten.
Was hat der Mensch und was davon braucht er wirklich? Was fehlt ihm? Die Welt besteht nicht nur aus Elend, sondern auch aus Not. Was aber ist wirklich nötig und wofür?
Gesetzt, man entbehrte nichts von dem, was die Welt zu geben hat, es fehlte nicht an Hab und Gut, nicht an Freude und Freudschaft, nicht an Kurzweil und Bildung, nicht an Leidenschft und Muße, nicht an Ruhm und Macht. Wäre das alles?
Das letzte Hemd hat keine Taschen. Wenn einer auch alles gehabt und alles genossen hätte, er nähme nichts mit über den Tod hinaus. Der Weise mag sich damit beruhigen, dass er nicht tot ist, solange er lebt, und wenn er tot ist und nicht mehr lebt, es ihn auch nicht mehr sorgen muss, dass ihm nichts bleibt. Hinterbliebene sollte das nicht trösten können. Der Andere ist tot und ich lebe. Sein Verlust ist mein Verlust. Schal wirkt der Versuch, sich mit dem Gerede vom Weiterleben in der Erinnerung darüber hinwegzuschwindeln, dass der andere tot ist und ich das weiß.
Erbarmungsloserweise endet das Leben mit dem Tod. Der Tod ist das Kriterium des Lebens. Die einen sagen, es komme darauf an, was man im Leben gehabt habe. Die anderen sagen, es komme darauf an, was man im Tod verliere. Ich glaube, es kommt auf das an, was man nie besitzen und nie verlieren kann.
Das Leben ist das Kriterium des Todes. Das Leben muss weitergehen. Aber nicht im Sinne der Vertröster, der Beschwichtiger, der Abwiegler. Sie zerreden den Tod, als ob sie nicht richtig zugehört hätten. Das Leben muss weitergehen, weil der Tod des Anderen nicht hinnehmbar ist. Besonders dann nicht, wen er immer noch geliebt wird.
Das Leben muss weitergehen. Hienieden kann es das nicht oder nur bis zum nächsten Sterben. Es muss weitergehen, wenn es je Sinn gehabt haben soll. Daran hängt alles, aber nichts, was man hat und woran man hängt, kann das ermöglichen. Der Tod, nämlich der Tod des anderen, der totale Weltverlust, den ich erleide, weil er ihm widerfahren ist, ist die unstillbare Not, aus der sich die Notwendigkeit einer Lösung ergibt.
Die Fastenzeit arbeitet auf den Tod hin. Einer wird sterben, darum geht es. Er ist schon gestorben — und auferstanden. Das ist der Mythos der Christen. Man mag an ihn glauben oder nicht, am Ende ist man, ob man’s schon weiß oder nicht, vor die Wahl gestellt, sich der äußersten Not zu stellen. Gott ist tot. Wer lebt?

Ordnung und Werte

Fast hätte man schon vergessen können, dass die Republik sich dieses kostspielige Dekorationspöstchen überhaupt leistet, so wenig ist das bundesdeutsche Staatsoberhaupt in letzter Zeit in der breiten Öffentlichkeit aufgefallen. Einige Monate ist es nun schon her, dass Christian Wulff mit dem Satz, der Islam gehöre zu Deutschland, für Schlagzeilen und so etwas Ähnliches wie eine Debatte sorgte. Dem Islam bzw. der deutschen Besessenheit von diesem Thema verdankt Wulff es nun auch, dass ein paar Sätze von ihm wieder als Agenturmeldungen durch die Medien huschen. Dabei war es in dem Interview, das am 17. März in der „Neuen Osnabrücker Zeitung“ erschien, nur am Rande um die Jünger des Propheten gegangen, vielmehr hatte sich Wulff zu seinem eigentlichen Lieblingsthema geäußert: Osnabrück. Doch dann kommt die Rede auch auf das Zentrum für Islamstudien an der Osnabrücker Universität, und der Bundespräsident macht in diesem Zusammenhang die Bemerkung: „Die Toleranz und Offenheit unserer Gesellschaft erfordern im Gegenzug aber auch die Bereitschaft der Muslime, unsere Werte, unsere Ordnung anzuerkennen und zu verteidigen. Es braucht einen aufgeklärten Islam, der die Trennung von Kirche und Staat anerkennt.“
Dazu kann man einiges anmerken. Zunächst: Muslime gehören keiner Kirche an, von der „Trennung von Kirche und Staat“ wären sie also nur indirekt betroffen. Aber vermutlich meint Wulff ohnehin allgemein „Trennung von Religion und Staat“. Dieses Ideologem ist ebenso beliebt wie verlogen. In Wahrheit ist damit ja gar nicht Trennung gemeint, sondern die Unterordnung des Religiösen unter das Staatliche. Etwas, was seinem Wesen nach gar nicht bloße Privatsache sein kann, wird als solche beiseitedefiniert und dem Weltlichen nachgeordnet. Der Staat gibt vor, was Religion darf und was nicht. Im Zweifelsfall gelten seine Normen, nicht die der Religionen.
Gewiss, das ist „aufgeklärt“, nämlich im Einklang mit den Vorurteilen des Säkularismus. Es ist aber auch, wie gesagt, verlogen. Befürwortete nämlich zum Beispiel Wulff wirklich eine Trennung von Religion und Staat, dann dürfte er sich als Bundespräsident, also als Staatsorgan, gar nicht zu etwas Religions- und nicht Staatsbezogenem, also auch nicht zum Islam äußern und ihm vorschreiben wollen, er habe aufgeklärt zu sein. So wenig wie der Islam in die Politik dürfte sich dann die Politik in den Islam einmischen. Ob eine Religion „aufgeklärt“ ist oder nicht, mag der Staat anhand von politisch oder juristischen Kriterien feststellen wollen dürfen, aber ihre Theologie darf er ihr nicht vorschreiben wollen. Jedenfalls nicht, wenn es ihm mit der geforderten „Trennung“ ernst ist.
Nicht besser steht es um Wulffs Forderung nach einer „Bereitschaft der Muslime, unsere Werte, unsere Ordnung anzuerkennen und zu verteidigen“. Von welcher Ordnung spricht der gute Mann? Vermutlich die deutsche Rechtsordnung vom Grundgesetz abwärts. Diese gilt jedoch, dem staatlichen Verständnis nach, so oder so, ob sie sie nun anerkannt wird oder nicht, und ist für alle gleichermaßen verbindlich. Welchen Zweck hätte da eine „Anerkennung“ durch Muslime? Warum sollen diese eigens anerkennen müssen, was alle anderen stillschweigend hinnehmen dürfen? Ist die deutsche Rechtsordnung etwa etwas im Kern Nicht-Islamisches, gar Anti-Islamisches, sodass ihre „Anerkennung“ im Grunde eine Unterwerfung und ein Abschwören bedeuten soll: Wir sind insoweit nur Muslime, wie der deutsche Staat es uns erlaubt.
Anerkennen und verteidigen: Worin soll diese Verteidigung bestehen? Der Staat fordert die Einhaltung der Rechtsordnung und erzwingt sie im Zweifelsfalle, er verteidigt sie gegen Missachtung und besitzt dabei das Gewaltmonopol. Was hätten die Muslime in Deutschland, von den viele gar keine deutschen Staatsbürger sind, da zu verteidigen? Sollen sie Lobeshymnen singen auf das Grundgesetz und seine tollen Menschen- und Bürgerrechte? Dann muss man sie auch uneingeschränkt man diesen teilhaben lassen — und sie nicht, wie es nun einmal deutsche Realität ist, als Nichtbürger und Menschen zweiter Klasse behandelt.
Unsere Ordnung und unsere Werte. Das mit der Ordnung mag noch verständlich sein. Aber welche „Werte“ meint Wulff?
Welche Werte gelten denn in Deutschland, die anderswo so nicht gelten? Was macht Deutschland zu etwas Besonderem? Dass jedes sechste Kind in Armut lebt? Dass man weltweit der drittgrößte Waffenexporteur ist? Dass das ästhetische Ideal der Mädchen das „model“ (auf Deutsch: das magersüchtige Flittchen) ist? Dass die meistgelesene Zeitung auch die verdummendste ist? Dass hierzulande die Zahl der christlichen Gottesdienstbesucher unter der Einschaltquote von „Wetten dass …?“ liegt? Dass das Nationalgericht die Currywurst und Pommes Schranke ist? Dass usw. usf.
Kurzum, ist denn Deutschland, so wie es ist, wirklich so großartig, dass alle, die hierherkommen, sich nichts besseres wünschen können, als ganz schnell so zu werden, wie „die Deutschen“, nämlich die bisherigen, schon sind, und das für gut zu halten, was die für gut halten? Kann am deutschen Werte-Wesen wirklich der Islam genesen?
Oder meint Wullff nicht bloß deutsche, sondern ganz allgemein westliche „Werte“? Für die ja Deutschen, denen man 1945 den Nazismus erst herausprügeln musste, recht spät berufene Experten sind. In Deutschland hat man „Demokratie“ und „Menschenrechte“, bei aller Liebe, nicht gerade erfunden. Allerdings bezeichnen diese beiden schönen Vokabeln in Wahrheit auch nicht die wirklichen „Werte“ des Westens, sondern vernebeln (von Ausnahmefällen abgesehen) bloß die tatsächlichen Interessen und Praktiken. Die westliche Wirklichkeit ist und war Ausbeutung und Umweltzerstörung, Verdummung und Entseelung. Der Westen, dass ist Kapitalismus, Imperialismus, Kolonialismus und militärisch-industrielle Globalisierung.
Das alles meint Wulff nicht. Er müsste es aber meinen, wenn er wirklich etwas sagen wollte. So bleibt seine Rede von Ordnung und Werten bloßes Gewäsch. Ich bin weder Moslem, noch habe ich vor, einer zu werden. Wäre ich einer und lebte in Deutschland, ich fände Wulffs Forderung nach „aufgeklärtem Islam“ eine Frechheit, solange es der deutsche Staat nicht schafft, sich ein „aufgeklärtes“ Staatsoberhapt zu geben, also eines, das nicht ideologische Versatzstücke nachplappert, sondern den Tatsachen ins Auge blickt. Es gibt zwar in jedem Land ein gewisses Recht auf gedeihliches Zusammenleben und darum eine gewisse Verpflichtung dazu. Eine Pflicht für in Deutschland Lebende, „deutsch“ zu werden, gibt es nicht. Und kein Recht des Staates, derlei einzufordern. Schon gar nicht im Namen von Toleranz und Offenheit, Ordnung und Werten.

Sonntag, 13. März 2011

Invocabit

Die grundlegende Bedürftigkeit des Menschen ist nicht zu leugnen. Er muss haben, um sein zu können, und er muss bekommen und behalten, um am Leben zu bleiben. Auch darum sind Menschen aufeinander verwiesen. Doch dem gedeihlichen Zusammenwirken sind Grenzen gesetzt, denn statt dass alle für jeden einzelnen sorgen, kümmert sich fast jeder vor allem um das, was er für das Seine hält. Was du hast, habe ich nicht, denkt man, und was ich habe, hast du nicht. Deine Bedürfnisse sind also die Freinde meiner Bedürfnisse.
An den Grenzen gemeinsamer und wechselseitiger Versorgung ist allerdings nichts „natürlich“. So wenig wie meine Freiheit dort aufhört, wo deine beginnt — weil vielmehr die Freiheit des einen die Freiheit des anderen ermöglicht —, so wenig schränken dein Bedarf und deine Bedürfnisse meinen Bedarf und meine Bedürfnisse prinzipiell ein. Zusammenarbeit wäre hier allemal fruchtbringender als Ressourcen vernichtendes Gegeneinander.
Die modernen Herrschaftstechniken, ja vielleicht Herrschaftstechniken überhaupt, beruhen darauf, die Bedürftigkeit der einen gegen die der anderen auszuspielen. Die Gesellschaft wird als so strukturiert gedacht, dass die einen die anderen in ihrer Bedarfsdeckung und Bedürfnisbefriedigung bedrohen, woraufhin dann die Lösung allein in der Anerkennung einer übergeordneten Macht bestehen soll, die alle in Schach hält. Es geht uns gut, es könnte uns schlechter gehen, also soll alles bleiben, wie es ist. Das ist der Trick.
Man muss nun aber sehr vielen etwas vorenthalten, um ganz wenigen sehr viel zu verschaffen. Und um vielen etwas vorzuenthalten, muss man einige gut versorgen. Das gilt auch in globaler Dimension. Es darf freilich nicht so sein, dass die einen nichts und die anderen alles haben, zumindest nicht nebeneinander, denn zu große sichtbare Unterschiede drohen zu gewaltsamem Ausgleich zu führen. Also muss einerseits für ein kompliziertes Gegeneinander, andererseits für Ablenkung und Zerstreuung gesorgt werden. Abhängigkeit, Komplizenschaft, Amüsement und Verdblödung regieren die Welt.
Was dagegen zu tun wäre, ist offensichtlich: den Verblödungszusammenhang durchbrechen, den schalen Spaß verderben, die aktive und passive Konformität aufkündigen und sich von angeblichen Sachzwängen und vermeintlichen Notwendigkeiten emanzipieren. Kurzum: sich um das Wesentliche kümmern. 
Bloß wie? Wenn unter den gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen materielle Unabhängigkeit nicht wirklich erreichbar scheint, so könnte doch immerhin mit geistiger Unabhängigkeit begonnen werden. Bedürftigkeit mag Voraussetzung sein, aber das macht sie nicht unreflektierbar. Bedürfniskritik wäre also ein guter Anfang. Was brauche ich wirklich? Was habe ich aus falschen Gründen? Warum will ich, was ich will? Wer will das?
Der Mensch ist kein Tier, er ist dem, was man für seine Instinkte halten möchte, nicht widerstandslos ausgeliefert. Er kann, aber er muss nicht. Seit Urzeiten ist darum der bewusste Verzicht gerade auf das, was unabdingbar scheint — Nahrung etwa —, den Menschen wesentlich, um sich dem Alltäglichen, Gewöhnlichen, Vorherrschenden zu entziehen und ihre Freiheit zurückzugewinnen. Der moderne Mensch scheint das vergessen zu haben. Die vorösterliche Fastenzeit wäre eine gute Gelegenheit, es ihm wieder in Erinnerung zu rufen.

Auch die Ereignisse in Japan können gerade in dieser Hinsicht zu denken geben. Es ist ja der maßlose „Energiehunger“ des modernen Wirtschaftens, der in den Aberglauben der verlustlosen Beherrscharkeit der Nukleartechnologie hineingetrieben hat — falls diesen Glauben wirklich jemals jemand hatte und ihn nicht nur Interessierte anderen aufzuerlegen versuchen. Gewiss sind Erdbeben und Flutwellen unverfügbare äußere Einwirkungen, doch so, wie der Mensch lebt, so wird er auch von den Naturgewalten erreicht. Schlagartig kann alles wegbrechen, woran man eben noch sein Herz gehängt hatte, und so erschreckend viele sind jetzt schon froh, wenn sie halbwegs davon gekommen sind und ein Dach über dem Kopf, ausreichend Nahrung, trockene Kleidung und dringend benötigte Medikamente haben. Wenn es Situationen gibt, in denen der kostbarste Besitz schon eine Decke ist, warum glaubt der Mensch dann eigentlich sonst sehr oft, so vieler irdische Güter zu bedürfen?

Samstag, 12. März 2011

Katastrophe und „Kultur“

„Angesichts der Katastrophe in Japan kommt uns die Feuilletonrundschau ziemlich unwichtig vor. Hier ist sie dennoch (…)“, heißt es bei „Perlentaucher“. Hier lässt der unschuldig wirkende Ungeist kurz seine Maske fallen, als er zwischen der Rolle der Routine und der der Betroffenheit wechselt und wieder zurück. Vor neuneinhalb Jahren, als das symbolischen Universum des Westens endlich die Kränkung real erfahren durfte, die es sich schon so lange zurechtphantasiert hatte, waren ähnliche Fragen zu hören gewesen und bei anderen Gelegenheiten wie dem Weihnachtstsunami 2004 auch. Darf man, wenn alle das gerade aktuelle Unglück bestaunen, weiter von Kunst und Musik, Literatur und Philosophie reden?
Die Antwort ist einfach: Wenn man sich je damit beschäftigen darf, dann auch dann. Wenn das alles aber sowieso nur belanglose Spielerei ist, dann ist es in den Verhältnissen, in denen wir leben, immer schon Unrecht, nicht erst, wenn besonders hervorgehobene Unglücksfälle eintreten.
Für viele ist offensichtlich die in den Feuilletons verhandelte „Kultur“ bloß Zeitvertreib (oder Geschäft). Wie „Sport“, nur eben mit Denken. Gerade wenn dem so ist, stellt sich tatsächlich die Frage, ob all das Geblödel und Geschwafel, all das Zeittotschlagen und Materialverschwenden wirklich so harmlos ist, wie man es gerne haben möchte. Dient dann der ganze Kulturbetrieb nicht einfach der Zerstreuung und Ablenkung, damit die Leute aufs Wesentliche nicht aufmerksam werden?
Die Ereignisse in Japan und ihre heute noch gar nicht abzuschätzenden Folgen sind schrecklich, das stimmt, und es kann einem schon den Appetit auf Amüsement verschlagen, wenn man an die Ertrunkenen und Verstrahlten denkt. Aber finden furchtbare Katastrophen nicht jeden Tag statt?
Eben war ja noch Libyen ein Thema. Doch nicht nur dort sterben Menschen in Kriegen und anderen gewaltsamen Auseiandersetzungen. Andere verrecken an vermeidbaren Krankheiten oder an Unterernährung. Kurzum, die Welt ist für viele, viel zu viele eine reale Hölle. Sie ist erfüllt von himmelschreiendem Unrecht aber rings um das, was Fernsehen und Internet thematisieren, herrscht bemerkenswerte Stille.
Wozu „Kultur“, wenn sie zum Wesentlichen schweigt? Muss sie unbedingt so geistlos sein, wie die, die von ihren Effekten profitieren, sie haben möchten? In Wahrheit muss die Frage nach der Berechtigung von Feuilletons in Zeiten des Unglücks nämlich ganz anders gestellt werden als anhand der bloß eingebildenten Alternative von „Kultur statt Katastrophe“ oder „Katastrophe statt Kultur“. Man sollte vielmehr endlich aufhören, so zu tun, als wüsste man nicht, dass „Kultur“ ein wichtiger Teil des Katastrophischen ist, das sie nur ausschnittsweise thematisiert.
Wenn es also angesichts der wirklichen Verhältnisse, in den Menschen leben — nicht zuletzt die außerhalb der Horizonte des Westens —, je legitim ist, Bücher und Artikel zu schreiben und zu lesen, Musik zu komponieren, sie aufzuführen und zu hören, Bilder und anderes zu herzustellen, auszustellen und zu betrachten, Theater zu machen und ins Theater zu gehen, wenn es je legitim ist Wissenschaft zu treiben und über Gott und Welt, Recht und Unrecht, Glück und Unglück, Wünsche und Möglichkeiten nachzudenken — dann ist es das auch jetzt. Und wenn es das sonst nicht ist, sollte es ab heute gefälligst endlich so werden.

Mittwoch, 9. März 2011

„… ist alles vorbei“

Selten noch habe ich mich auf einen Aschermittwoch so gefreut wie auf diesen. Die alle Fernsehkanäle verstopfende Feierlaune des losgelassenen Spießertums war diesmal besonders aufdringlich. Warum die Leute glauben, sie müssten sich verkleiden und schunkeln, damit man sie als Narren erkennt, weiß ich nicht, mir gelingt das doch das ganze Jahr über auch so. Außerdem: Lustig geht anders. Wenn das Fröhlichkeit ist, bin ich lieber schwer depressiv. Ohnehin ist mir ein Rätsel, wie man auf Kommando gut drauf sein kann. Zumal der Sinn des vorschriftsmäßigen Ausgelassenheit gänzlich abhanden gekommen sein dürfte. Denn eigentlich hatte, wer ab heute nicht fastet, weder Anlass, noch Grund, noch Recht, den Fasching zu feiern. Und Fasten meint, wohlgemerkt, nicht „Entschlackung“. Es geht keineswegs um Wellness, sondern um Konsumverzicht.
Im real existierenden Totalkonsumismus wäre das freilich eine Monstrosität. Und kommt darum gar nicht ernsthaft in Frage. Zwischen Aschermittwoch (gern mit Heringsschmaus) und Ostern herrscht vielmehr ungestörter Geschäftsbetrieb. Längst sind ja auch Ostereier im Handel erhältlich — wer die dann uralten Dinger in sieben Wochen noch fressen soll, weiß der Teufel. Auch der Osterhase spukt (wie vor einem halben Jahr der Weihnachtsmann) schon lange vor dem Fest durch die Dekoration, weshalb das eigentlich zu Feiernde gar nicht mehr zum Vorschein kommen kann. Zumal es nichts mit Hasen oder Eiern zu tun hat.
Gottes Sohn ist gestorben und auferstanden? Der Durchschnittsbürger der westlichen Industriegesellschaften reagiert darauf bestenfalls mit einem Schulterzucken. Er hat andere Sorgen als die Ewigkeit. Er fragt sich lieber: Was und wie konsumiere ich heute?
Kurzum: Nie war Fastenzeit so nötig wie heute. Schon immer war das die einzige Karnevalsliedzeile, die mir wirklich zu Herzen ging: „Am Aschermittwoch …“

Dienstag, 1. März 2011

Einer geht doch

Gänsefüßchen und Fußnoten: Um solche Sorgen kann sich Deutschland vom Rest der Welt durchaus beneiden lassen. Aber nun dürfte das wochenlange Gezerre und Gezetere um eine abgeschriebene Abschlussarbeit ja wohl endlich ein Ende haben, denn Baron Guttenberg ist als Verteidigungsminister zurückgetreten.
Damit verliert das Land einen einen Politiker, der intelligent, dynamisch und rhetorisch begabt erschien und erstaunlicherweise trotzdem Popularität genoss. Dass ich selbst  mit dem Mann politisch nicht auf einer Linie liege, brauche ich kaum eigens zu betonen. Gleichwohl kann ich seine ungewöhnliche Begabtheit respektieren, deren Erscheinungsbild umso außergewöhnlicher ist, wenn man sie mit dem Auftreten des übrigen deutschen politischen Personals vergleicht. Neben den Merkels und Westerwelles, den Brüderles und Schavans, den Mappüssen und Scholzens dieser Republik musste Guttenberg tatsächlich als Lichtgestalt erscheinen. (Von den zu Politikerdarstellern umfunktionierten Kleingartenzwergen alpenländischer Provenienz gar nicht zu reden.)
Dass die Öffentlichkeit es ihm weitgehend nicht übel nahm, dass er reden kann und ein sicheres Auftreten hat, war wie gesagt erstaunlich. (Das mit dem angeblichen glamour habe ich übrigens nie verstanden. Ich finde nicht einmal, dass der Mann gut aussieht. Aber de gustibus …) Doch wer in Deutschland bei den einen beliebt ist, braucht sich um die Häme der anderen nicht zu sorgen. Ich erinnere mich des Auftrittes eine Kabarettisten, der in einer Nummer nichts anders tat, als sämtliche Vornamen Guttenbergs aufzuzählen und ihn damit für erledigt zu erklären. Primitiver kann Gehässigkeit nicht sein. Als ob der Baron etwas für seinen Taufschein könnte!
Überhaupt, der stets erwähnte „Adel“! Dass dessen gesetzliche Abschaffung nach dem ersten Weltkrieg nichts als eine spießbürgerliche Pöbelei war, zeigt sich daran, dass, wenn es den Bürgerlichen gefällt (und es gefällt ihnen fast immer), der rechtlich gar nicht mehr bestehende Adel doch immer wieder aufs Tapet kommt. Für die, die vormalige Adelstitel und Prädikate als „Namensbestandteile“ auf den Lebensweg mitbekommen haben, scheint es kein Recht zu geben, als Gleiche unter Gleichen behandelt zu werden. Guttenberg kann dafür nichts, dass seine Vorfahren Freiherren waren und er selbst den „Freiherrn“ im Namen hat. Darauf herumzureiten, wie es Land auf, Land ab, während seiner sämtlichen Amtszeiten als CSU-Generalsekretär, als Wirtschafts- und als Verteidigungsminister geschah, ist unter jedem erträglichen Niveau politischer Auseinandersetzung.
Und die Fußnoten und Gänsefüßchen, über die der sogenannte Lügenbaron zuletzt doch noch gestolpert ist? Banalitäten, die überhaupt nichts mit seiner Politik nichts zu tun haben. Für diese hätte man ihn kritisieren sollen, nicht für den akademischen Quatsch. Mutti darf bleiben, aber Gutti muss gehen? Das verstehe, wer will. Ich verstehe es nicht und billige es nicht.
Gewiss, Abschreiben ist kein Kavaliersdelikt. Obwohl Millionen von Schülern das ganz anders sehen. Doch ist mit dem Abgang des Plagiators denn nun der gute Ruf des Wissenschaftsbetriebes wirklich gerettet? Meiner Meinung nach haben sich die Zigtausenden von Doktoranden und Doktorierten, die mit einem Offenen Brief an die Kanzlerin gegen das Bagatellisieren des Plagiierens protestiert haben, mit Verlaub, recht lächerlich gemacht. Wer außer Dissertanten und Dissertierten nimmt den Dissertationen heutzutage noch ernst? Die Abertausende von akademischen Arbeiten, die Jahr für Jahr produziert werden, sind fast ausnahmslos ohne jede Bedeutung. Dass sich die Protestierer an die Relevanz ihrer Titelchen klammern, ist verständlich, bilden sie doch einen Teil des bisschen symbolischen Kapitals, dessen sie für ihre in der Regel höchst bescheidenen Karrieren so dringend bedürfen. Aber für den Rest der Gesellschaft geht es da bloß um irgendeine Formalität, die halt abzuhaken ist, weil es nun einmal irgendwie dazugehört.
Guttenbergs Geschummel (und Muttis Augen-zu-und-Durch-Politik) soll das Ansehen der Wissenschaft beschädigt haben. Aber ist die Juristerei überhaupt eine Wissenschaft?  Und grundsätzlicher gefragt: Sind die universitären Ausbildungsgänge überhaupt noch in einem substanziellen Sinne wissenschaftlich? Ist die Wissenschaft von heute überhaupt noch etwas, was in jedem Fall Respekt verdient, einfach weil sie ihn beansprucht? Das sind Fragen, die vom Umgang der Institutionen mit der Guttenberg-Affäre verdeckt und durch das nunmehrige Ende der Affäre keineswegs beantwortet werden.
Es ist so oder so kein guter Tag, an dem Karl-Theodor Freiherr von und zu Guttenberg als Bundesminister der Verteidigung zurückgetreten ist. Deutschland hat damit kein einziges seiner Probleme gelöst. Es hat sich aber eines talentierten Politikers entledigt. Kommt es zu keinem come-back, wird man ihn wohl an die Wirtschaft verloren haben. Ob das besser ist?