Mittwoch, 21. Dezember 2011

Aufgeschnappt (bei einem Wulff-Ratgeber)

Wenn ich er wär, dann würd einfach ganz schlicht sagen (...): „Ich bin ein armer Sünder, habe versagt, hab mich bestechen lassen. (...) Seid nicht so wie ich.“ (...) Ich stell mir das mal selber vor, wenn man mir sowas Unmögliches darlegen würde, da würd ich sagen, da müsst ich meinen Hirtenstab abgeben, da müsst ich resignieren.

S.Em. Joachim Kardinal Meisner (Erzbischof von Köln)

Sonntag, 18. Dezember 2011

Vermischte Meldungen (5)

Im Ernst? Die Glaubwürdigkeit Christian Wulffs leide? Das Ansehen des höchsten Amtes im Staat werde beschädigt? Na klar, weil ja Korruption, Vetternwirtschaft und Vermischungen von öffentlichen und privaten Interessen in der deutschen Politik völlig unüblich sind. Der jetzige Bundespräsident hat als Ministerpräsident die Wahrheit zu seinen Gunsten zurechtgebogen. Aha. Was wird als nächstes gemeldet? Dass Sigmar Gabriel Übergewicht hat?

* * *

In Österreich waren, unlängst veröffentlichter amtlicher Statistik zufolge, im Jahr 2010 rund zwölf Prozent der Bevölkerung armutsgefährdet, etwa eine halbe Million Menschen lebte in Armut. Als „ausgrenzungsgefährdet“ galten sogar 17 Prozent der Bevölkerung, das bedeutet, dass diese Menschen entweder armutsgefährdet oder „erheblich materiell depriviert sind“ oder einem Haushalte mit sehr geringer „Erwerbsintensität“ leben. (Als erheblich materiell depriviert gelten jene Haushalte, auf die zumindest vier der folgenden neun Merkmale zutreffen: Der Haushalt hat Zahlungsrückstände bei Miete, Strom oder Kreditraten; der Haushalt kann keine unerwarteten Ausgaben tätigen; der Haushalt kann sich nicht leisten: Heizen, ausgewogene Ernährung, Urlaub, Auto, Waschmaschine, Fernseher, Festnetz- oder Mobiltelephon. Als Erwerbslosenhaushalte werden Haushalte bezeichnet, in denen die „Vollzeiterwerbsintensität“ der Haushaltsmitglieder im Erwerbsalter höchstens ein Fünftel des gesamten „Erwerbspotentials“ beträgt.) — Ein Rücktritt der verantwortlichen Bundesregierung wurde übrigens bisher nicht vermeldet.

* * *

„Ich kann das verantworten“, sagt Herr Wulff. Wenn Politiker (und andere Machthaber) von „Verantwortung“ reden, meinen sie offenkundig geradewegs das Gegenteil. „Ich übernehme dafür die Verantwortung“ heißt übersetzt: Ihr könnt mich alle mal, ich mache, was mir passt. So auch hier. Wenn der Versuch, sich mit fragwürdigen Schutzbehauptungen aus einer unerquicklichen Affäre zu ziehen, bedeutet, sich (wem gegenüber?) zu verantworten, was wäre denn dann eigentlich Herrn W. zufolge Verantwortungslosigkeit? Die Wahrheit sagen? Zu einem Fehler stehen? Zurücktreten? Das gälte ihm wohl als unverantwortlich ...

Samstag, 10. Dezember 2011

Aufgeschnappt (bei einem unlängst Zitierten)

Wenn die Rechten nicht lesen, sind sie zum Fürchten, wenn sie schreiben — zum Grausen.
Dirck Linck (Literaturwissenschaftler)

Freitag, 9. Dezember 2011

Armes Russland

Also das gehört sich ja nun wirklich nicht. Erst sehr plump die Wahl fälschen und dann, wenn man dabei erwischt wird (und wie denn nicht), die Demonstranten verprügeln und wegsperren und das Ausland der Aufhetzung beschuldigen. Ach, aber das Schlimmste ist ja gar nicht, dass Russland schon jetzt unter dem Titel „Diktatur des Gesetzes“ (Putin) ein Willkürstaat ist, der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit verhöhnt, sondern dass es so weiter gehen und noch ärger werden wird. Die bröckelnde Popularität, die verscherzte Legitimierung und der wachsende Unmut werden dazu führen, dass das Regime immer gereizter werden wird und im Zweifelsfall, der immer öfter sein wird, wild um sich schlägt.
Übrigens soll kein Dummschwätzer es sich jetzt wieder einfallen lassen, aus pseudohistorisch-pseudometaphysischen Phantasien abzuleiten, das alles müsse so sein. Der Russe als solcher sei weder fähig noch willig zur Demokratie und brauche schlechterdings die Knute? Rassistischer Unfug. Die Leute in Russland sind nicht einfältiger als anderswo. Die könnten auch Demokratie und Rechtsstaat, wenn man sie ließe. Fürs Erste aber lässt man sie eben nicht.

Donnerstag, 8. Dezember 2011

Samstag, 3. Dezember 2011

Lesehilfe von links (nicht nur für rechts)

Der Publizist Martin Böcker hat vor zwei Tagen unter dem Titel „Kempferisches …“ in seinem (anscheinend bloß zu diesem Zweck reaktivierten) Blog www.dasgespraech.de dazu aufgefordert, man möge Bescheid geben, wenn man meinen Text „Authentische Aversionen von rechts“ zu Ende gelesen habe, in dem ich mich mit dem Blog-Beitrag „Systemkrise: Perfide Politisierung der Sexualität“ von Larsen Kempf auseinandersetze. Böcker nennt bezeichnet meine Ausführungen als „so verdammt lang, so elaboriert, so unglaublich … irgendwas“, was ihn anscheinend bisher davon abhielt, sie zu Ende lesen. Anscheinend ist er dazu erst gewillt, wenn andere es vor ihm tun und ihm dann mitteilen, wie’s war.
Ob das klappen wird? „Die Kulturtechnik des Schreibens ist in diesen Kreisen nicht wirklich verbreitet“, hat der Literaturwissenschaftler Dirck Linck unlängst konstatiert. Das war zwar auf Neonazis bezogen, gilt aber vielleicht auch für andere Rechte. Böcker könnte also unter Umständen lange oder gar vergeblich darauf warten müssen, dass jemand von seinen Gesinnungsfreunden ihm die Lektürearbeit abnimmt.
Weil ich aber ein netter Mensch bin, biete ich hier meinerseits eine thesenhafte Zusammenfassung meines unglaublich langen Elaborates an, die auch den Kindern der Generation SMS entgegenkommen dürfte.
1. Larsen Kempf hat keine Ahnung, wovon er redet. Der Beitrag ist schlecht geschrieben und, sofern das aus den zum Teil reichlich verquasten Formulierungen rekonstruiert werden kann, schlecht durchdacht.
2. Was von der homosexuellen Emanzipationsbewegung noch übrig ist und bei den CSD-Paraden in die Öffentlichkeit tritt, ist entgegen Kempfs Phantasien längst kein Bürgerschreck mehr und programmatisch alles andere als antibürgerlich. (Wofür die Forderung nach Heirat und Familie ein schlagender Beweis ist,)
3. Wenn Homosexuelle nicht diskriminiert werden und praktizierte Homosexualität nicht unter Strafe steht, gefährdet das, anders als Kempf sich das vorstellt, in keiner Weise die Fortpflanzung. (Für den Rückgang der Geburtenquote sind die Heterosexuellen mittels Verhütungsmitteln schon selbst verantwortlich.)
4. Kempf liegt völlig daneben, wenn er Vorurteile gegen Schwule (und Lesben) biologisiert, für „natürlich“ erklärt und somit rechtfertigt. (Wer so denkt, würde wohl auch nicht davor zurückschrecken, die Diskriminierung von Behinderten und Ausländer für natürlich zu halten und deren Ausmerze aus Gründen der Volksgesundheit und der Kulturreinheit zu fordern.)
5. Kempfs (recht undeutliches) Konzept einer politischen Indienststellung der „anständigen“ (also nicht praktizierenden) Homosexuellen erinnert in ungefähr an ähnliche Konzepte beim (verstorbenen) Neonazi Michael Kühnen. (Was für sich genommen Kempf allerdings nicht zum Nazi macht.)
Kurzum, Larsen Kempf präsentiert in dem Text sein Unwissen und seine Ressentiments, garniert sie mit versuchsweise starken Worten („Systemkrise“, „Überlebenswille“, „Abendland“) und serviert das ganze mit einigen Spritzern einer unangenehm bräunlich schimmernden Soße. Das Ganze ist so lächerlich gespreizt, so unausgegoren, so … ungenießbar.
Ich hoffe, mit diesem reader’s digest Herrn Böcker und den Besuchern seines Netzauftrittes geholfen zu haben.

Vermischte Meldungen (4)

Zu Nino Rota, der an einem 3. Dezember geboren wurde, heißt es bei „Wikipedia“: „Seine bekannteste Filmmusik schrieb er für Der Pate von Francis Ford Coppola.“ Es steht zu befürchten, dass das stimmt. Da hat einer ein großartiges musikalisches Lebenswerk hinterlassen, hat zehn Opern, 23 weitere Bühnenkompositionen, drei Sinfonien, zahlreiche Solokonzerte sowie viel Kammer- und Chormusik komponiert und die geniale Musik zu genialen Filmen von Fellini, Visconti und anderen Meistern geschrieben — und womit er sich im popkulturellen Gedächtnis, wenn überhaupt, verankert hat, ist eine Melodie, die (übrigens völlig zu Recht) auch bei rumänische Straßenmusikanten beliebt ist.

* * *

Im Interview mit dem „Spiegel“ soll Hamid Karzai, bekannt als Bürgermeister von Kabul, gesagt haben: „Aus unserer Sicht könnte die Bundeswehr für immer hier bleiben.“ Ein sehr guter Einfall. Man muss ihn allerdings ein bisschen radikalisieren: Die gesamte deutsche Bundeswehr sollte für alle Zeiten ausschließlich in Afghanistan stationiert sein. Erst das machte aus meiner Sicht die von Guttenberg und Maizière begonnene Reform des Militärwesens perfekt.

* * *

Der Hass auf den Baron wird zur Manie. In der FAZ schrieb am 26. November Volker Zastrow unter der Überschrift „Ein gefährlicher Mann“: „Guttenberg hat es geschafft, fast in alle wichtigen Redaktionen dieses Landes belastbare Beziehungen aufzubauen, mit ungeheurem Charme. Das hat in einigen Häusern dazu geführt, dass Berichterstatter nicht so geschrieben haben, wie sie dachten. Die Redaktionen wurden auf Linie gebracht, soweit sie sich nicht ganz von selbst drauf brachten, längst vor der Affäre.“ Wie diabolisch! Der Mann muss ja über geradezu dämonische Qualitäten verfügen. Die sonst so freie deutsche Presse im Würgegriff eines Blenders und Betrügers! Gut, dass da endlich einer die guttenbergische Weltverschwörung aufdeckt ... Arbeitstitel für ein Aufklärungsbuch: „Die Protokolle des Weisen von Connecticut“.

Donnerstag, 1. Dezember 2011

Armes Belgien

Das Beste wäre, nicht regiert zu werden. Aber wem passiert das schon? (Frei nach Polgar.) Dass man dauernd regiert wird, ist der Fluch des modernen Staates. Die Bevölkerung des Königreiches Belgien hatte aber immerhin das Glück, 534 Tage lang bloß eine geschäftsführende Regierung zu haben. Die Folge war, dass es dem Land so gut ging wie schon lange nicht. Verglichen mit anderen Volkswirtschaften stand Belgien trotz der offiziellen globalen Krisen ganz gut da. Ohne störende Politik erwirtschaftete man sogar ein höheres Pro-Kopf-Einkommen und ein stärkeres Wachstum als Deutschland.
Damit ist es nun vorbei. Belgien bekommt wieder eine richtige Regierung. Wie man hört, hätten das „die Märkte“ erzwungen, mit anderen Worten: der Terrorismus der Ratingagenturen. Und siehe da, die neue Regierung hat vor, was man von jeder ordentlichen Regierung erwartet: die Bevölkerung soll stärker belastet und die öffentlichen Leistungen sollen abgebaut werden.
Die Gewerkschaften protestieren schon. Zu Recht. Wie aber das neuerliche Regiertwerden jenen Demonstranten gefallen wird, die durch öffentliches Frittenfressen ihr „Belgiertum“ zeigen und ihren Wunsch nach einer Regierung bekunden wollten, bleibt abzuwarten.

Deutschland verbieten!

Wann immer in der Bundesrepublik Deutschland Untaten bekannt werden, die Mitgliedern der rechtsextremen Szene zugeordnet werden können, wird ein Verbot der NPD gefordert. So selbstverständlich auch jetzt, in den Wochen nach dem Rummel um das „Zwicker Terror-Trio“, seine Verbrechen und seine Helfershelfer. Aber was, wenn man fragen darf, würde ein NPD-Verbot denn wirklich bringen? Ändert es die Gesinnung oder Aktionsbereitschaft auch nur eines einzigen Neonazis, wenn es keine legale Partei mehr gibt, die seinen politischen Präferenzen mehr oder minder klar entspricht? Ist irgendetwas besser geworden, wenn Leute mit einer Vorliebe für Fremdenhass, autoritäres Gehabe und nationalistische Einstellungen ihre Stimme der CDU, CSU, FDP, SPD, den Grünen oder der Linken geben? Nein, denn: Nicht die NPD ist das eigentliche Problem, sondern die Leute, die sie wählen oder zu wählen bereit wären.
Doch mit typisch deutscher Verbissenheit konzentrieren sich derzeit wieder einmal Politikergeschwafel und Medienaufmerksamkeit auf ein NPD-Verbot, auf seine juristischen Voraussetzungen und die Wahrscheinlichkeit des Gelingens eines Verbotsverfahrens vor dem Verfassungsgericht. Als Hauptproblem wird dabei gehandelt, wie groß der staatliche Einfluss, ja die staatliche Lenkung sein darf, damit die NPD überhaupt noch als eigenständiges Phänomen und nicht bloß als Konstrukt des Verfassungsschutzes gelten darf. Das scheint alles sehr schwierig.
Nun aber, da es anscheinend Verbindungen zwischen dem „Zwickauer Terror-Trio“ und einem (mittlerweile ehemaligen) NPD-Funktionär gibt, hat man eine neue Idee und hofft, die Partei und den Terrorismus so eng zusammenbringen zu können, dass doch noch ein Verbot herausschaut. Aber ist das eine überzeugende Argumentation? Wie weist man einer Organisation nach, dass einer ihrer Funktionäre nicht bloß Täter oder Helfer bei Verbrechen war, sondern dass er das, was er tat, immer auch, vor allem oder gar ausschließlich als Funktionär der Partei und sozusagen in ihrem Namen tat? Was, wenn die Rechtsterroristen oder ihre Helfer einem Kleingärtnerverein angehört hätten? Muss der dann auch aufgelöst werden? Wenn sie Stammkunden einer Videothek waren? Regelmäßig die „Tagesschau“ sahen?
Eines ist jedenfalls sicher: Die — muss man eigentlich immer noch sagen „mutmaßlichen“? — Mörder und Brandstifter und die, die ihnen halfen, waren und sind deutsche Staatsbürgerinnen und Staatsbürger. Mit deutscher Gründlichkeit müsste also das Übel an der Wurzel gepackt und Deutschland verboten werden! Das wäre die sauberste Lösung. Gäbe es Deutschland nicht mehr, verlöre auch der deutsche Nationalismus seine Grundlage und die Neonazis hätten zwar noch Ziele, aber keine Basis mehr.
Wenn also überhaupt ein Verbot sinnvoll ist, dann dieses. Deutschland verbieten!

Montag, 28. November 2011

Demokratisches Placebo-Zäpfchen

Stell dir vor, es ist Demokratie und die Mehrheit bleibt weg. Ausgerechnet im für die Sparsamkeit seiner Bewohner berüchtigten Baden-Württemberg leistete man sich am ersten Sonntag im Advent ein ebenso teures wie sinnloses Plebiszit. Herauskam bloß eine Bestätigung des längst Beschlossenen. Einst hatte der Streit um das Bahnhofsprojekt „Stuttgart 21“ die Gemüter aufgewühlt und letztlich sogar dazu beigetragen, die frühere badisch-württembergische abzuwählen und Deutschlands ersten grünen Ministerpräsidenten zu installieren. Nun aber, da  die Bürgerinnen und Bürger die Chance gehabt hätten, in der Sache mitzuentscheiden, blieben sie mehrheitlich einfach zu Hause. Und die Mehrheit derer, die mitstimmten, erteilte dem Wutbürgertum eine Absage und stimmte mit „Nein“, also für das Milliardengrab, äh, die Bahnhofsgrube. Das sei „ein großer Schritt in die Zukunft der Bürgergesellschaft“, kommentierte Regierungschef Kretschmann. Und auch alle anderen scheinen sich darin einig, dass mit der vox populi nun quasi die vox dei gesprochen habe und das Resultat somit sakrosankt sei. Sogar von dezidierten S21-Gegnern ist jetzt zu hören, der Widerstand gegen das Projekt sei damit zu Ende. Aber im Ernst, macht das Votum von 28,4 Prozent der Stimmberechtigten wirklich eine fragwürdige Sachentscheidung zu einer fraglosen? Die Logik, wonach man echte oder vermeintliche Fehlentscheidungen gewählter Mandatsträger kritisieren, gegen sie protestieren und ihnen sogar Widerstand entgegensetzen darf, aber alles gefälligst gehorsam hinzunehmen hat, was irgendeine Abstimmungsmehrheit zufällig befürwortet, erschließt sich mir nicht. Stell dir vor, es ist Demokratie und alles wird gut?  Gewiss, es schmeichelt der Eitelkeit der Befragten, dass sie angeblich etwas entscheiden dürfen, aber direkte Demokratie, die im Ergebnis auch bloß auf dasselbe hinausläuft wie repräsentative Demokratie oder autoritäres Handeln, ist bloß ein politisches Placebo und damit für den Allerwertesten.

Vermischte Meldungen (3)

Na bitte, da sage noch einer, es gebe keine guten Nachrichten. Es wird gemeldet, Deutschland habe im Jahr 2010 mit dem Export von Waffen und anderen Rüstungsgütern soviel verdient wie nie zuvor, nämlich rund zwei Milliarden Euro, was eine Anstieg um etwa die Hälfte im Vergleich zum Vorjahr sei. In „Friedenszeiten“ eine reife Leistung! (Es wird auch geholfen haben, Griechenland gleichermaßen zu „Sparprogrammen“ und zur Einhaltung von Rüstungsverträgen zu zwingen.) Ach ja, all die U-Boote, Kriegsschiffe, Panzer und anderen Mordgeräte sichern Arbeitsplätze und vor allem Profite. Hier ist Deutschland sehr gut aufgestellt, da kann ihm keiner was. Seltsam nur, dass in der Öffentlichkeit keiner sich seinen Stolz darauf anmerken lassen möchte …

* * *

Es wird gemeldet, dass im Jahr 2010 weltweit 32 Kriege und bewaffnete Konflikte stattfanden. Die Zahl der Toten, Verletzten und sonstigen Opfer wird erst in den nächsten Jahren der Statistik eingefügt werden können.

Sonntag, 27. November 2011

Höre, der du über Israel herrschest

Nebst Theologie scheint auch Latein nicht gerade die starke Seite von Herrn L. aus W. gewesen zu sein. Dass er beim Hymnus „Intende qui regis Israel“ des Ambrosius von Mailand den Vers „Veni, redemptor gentium“ mit „Nun komm, der Heiden Heiland“ übersetzte, ist, um das Mindeste zu sagen, problematisch. Gewiss, die gentes, also Völker, kann man schon mal (wie die hebräischen gojim) mit „Heiden“ übersetzen — auch wenn das mehr Sinn gemacht hätte, wenn Herr L., der alles andere als ein Judenfreund war, nicht die erste Strophe mit dem typologischen Verweis auf Israel und Ephraim weggelassen hätte; worin er freilich damals schon längst üblichem liturgischem Brauch folgte. Doch davon ganz abgesehen ist zwischen den Begriffen Erlöser (redemptor) und Heiland (salvator) halt schon ein Unterschied.
Auch die Übersetzung von Ostende partum virginis / miretur omne saeculum / talis decet partus Deo („Zeige die Geburt aus der Jungfrau, das ganze Zeitalter soll bewundern, dass Gott eine solche Geburt zukommt“) mit „Der Jungfrauen Kind erkannt, dass sich wunder alle Welt, Gott solch Geburt ihm bestellt“ ist alles andere als wörtlich. Und mit solch „künstlerischen Freiheiten“ geht es Strophe um Strophe in dieser Übersetzung oder vielmehr Umdichtung munter weiter.
Wo es bei Ambrosius heißt Non ex virili semine / sed mystico spiramine / verbum Dei factum est caro / fructusque ventris floruit („Nicht aus männlichem Samen, sondern aus geheimnisvollem Hauch, ist das Wort Gottes Fleisch geworden, und die Frucht des Bauches ist erblüht.“), setzt L. „Nicht von Manns Blut, noch von Fleisch, allein von dem Heilgen Geist ist Gotts Wort worden ein Mensch, und blüht ein Frucht Weibes Fleisch.“ Auch wenn man den Stand biologischen Wissens des frühen 16. Jahrhunderts voraussetzt, ist Samen und Blut halt doch irgendwie nicht dasselbe. Und warum der wunderbar poetische „mystische Hauch“ zum Heiligen Geist verdeutlicht werden musste, weiß man auch nicht wirklich.
„Der Jungfrau Leib schwanger ward, doch blieb Keuschheit rein bewahrt, leucht hervor manch Tugend schon, Gott da war in seinem Thron“ soll Alvus tumescit virginis / claustrum pudoris permanet / vexilla virtutum micant / versatur in templo Deus wiedergeben („Der Unterleib der Jungfrau schwillt an, das Geschlossene der Scham bleibt, die Fahnen der Tugend funkeln, Gott weilt in seinem Tempel“). Doch Scham ist nicht Keuschheit und Tempel nicht Thron. Da will einer Dichter sein und liebt das Ungefähre.
Den Hörern des Hymnus traut Herr L. gleichwohl wenig zu. Wo Ambrosius geminae gigans substantiae („Held [wörtl. Riese] zweifachen Wesens“) gedichtet hatte, setzt L. „Gott von Art und Mensch, ein Held“, was nicht nur ein merkwürdiger Satzbau ist, sondern auch eine recht überflüssige Verdeutlichung.
Undeutlich werden in der Übersetzung oder Nachdichtung hingegen die zahlreichen biblischen Zitate und Anspielungen im Text des Ambrosius sowie die differenzierte Theologie. Dabei ist klar, dass die anti-arianischen Seitenhiebe des 4. Jahrhunderts 1.100 Jahre später nicht mehr interessieren musste. Doch dass L. den nicht allzu sehr versteckten Verweis auf die wichtige mariologische Unterscheidung Anbetung (die nur Gott zukommt) und Vehrehrung (die auch Maria zuteil wird) vernebelt, indem er von „Gott in seinem Thron“ schwafelt, grenzt an Bösartigkeit. (Maria non erat deus templit, sed templum Dei, hatte Ambrisius in einem Kommentar zum Lukasevangelium geschrieben: „Maria war nicht der Gott des Tempels, sondern Gottes Tempel.“) — Nebenbei bemerkt: Philologisch ist interessant, dass die Form gigans, die bei Ambrosius steht (statt korrekt gigas), darauf verweist, dass der sprachmächtige Bischof von Mailand unmittelbar aus den lateinischen Bibelübersetzungen seiner Zeit zitiert, in denen dieselbe (falsche) Form vorkommt.
Geradezu primitiv wirkt L.s Eindeutschung im Vergleich zum Original, wenn sie bei der letzten Strophe das herrliche, ganz eucharistisch gedachte Praesepe iam fulget tuum / lumenque nox spirat novum / quod nulla nox interpolet / fideque iugi luceat („Schon strahlt deine Krippe auf, und die Nacht atmet ein neues Licht, das in keiner anderen Nacht gestört werden soll, und der beständige Glaube soll (uns) leuchten“) versimpelt zu „Dein Krippen glänzt hell und klar, die Nacht gibt ein neu Licht dar, Dunkel muss nicht kommen drein, der Glaub bleib immer im Schein“.
Kurzum, aus dem ambrosianischen Text, der die Großartigkeit der Inkarnation und bleibenden Gegenwart Gottes in starken Bildern feiert, ist durch L. ein gemütliches Adventliedchen geworden. Es bedurfte erst wieder des Genies eines Johann Sebastian Bachs, um „Nun komm, der Heiden Heiland“ musikalische Poesie abzuringen. Klugerweise bediente er sich dabei nur der ersten und letzten Strophe der L.schen Version und griff im Mittetlteil auf die recht freie Nachdichtung eines heute nicht mehr namentlich bekannten Autors zurück.

Freitag, 25. November 2011

Aufgeschnappt (bei Ottis Schlachthof) II

 Wir sind gar nicht sesshaft, wir hatten bloß bis vor ein paar Jahren kein Navi.

Ottfried Fischer (Spaßmacher)

Wörtlich:  „Mir san gar ned sesshaft, mir ham bloß bis vor a paar Jahr ka Navi ghabt.“

Gänzlich halbgebildet

Es fällt mir, ehrlich gesagt, herzlich schwer, mich auch nur ein bisschen dafür zu interessieren, was der ehemalige deutsche Bundesminister Baron Guttenberg so treibt, welche Vorträge er hält, welche Bücher er geschrieben hat, welche Interviews er gibt und ob er ein politisches comeback plant. Anderen geht es da offensichtlich ganz anders. Manche hat ihr Hass auf den geschassten Publikumsliebling sogar so fest im Griff, dass sie sich lieber selbst eine Blöße geben, als eine vermeintliche des Barons unaufgedeckt zu lassen.
So etwa Stefan Kuzmany auf „Spiegel-online“ (24. November). Der meint nämlich, den „überführten Plagiator“ bei einer Angeberei erwischt zu haben. In einem jüngst veröffentlichten Gespräch mit der „Zeit“ habe Guttenberg gesagt: „Ob eine Rückkehr mit einem politischen Engagement welcher Art auch immer verbunden sein wird, ist heute gänzlich offen. Dass ich ein politischer Mensch, ein Zoon politikon, bleibe, steht außer Frage.“ Kuzmany kommentiert das so: „Und da ist es wieder, das alte Guttenberg-Gefühl, sofort weiß man, was einen stets gestört hat an diesem Politiker, ganz unabhängig von seinen politischen Ansichten: Zunächst dieses manierierte ‘gänzlich’, diese gestelzte Ausdrucksweise, diese Guttenberg eigene Art, Banalitäten mit großer Geste auszusprechen.“
Dass jemanden ein so harmloses Wörtchen wie „gänzlich“ so in Rage bringen kann, muss tiefere Ursachen haben als irgendwelche sachlichen Zusammenhänge. Vielleicht könnte eine Psychotherapie helfen. Aber Kuzmany genügt es nicht, großes Getue um banale Formulierungen zu machen, mit dem Ausdruck „zoon politikon“ fühlt er sich auf die Spur gesetzt. Er gibt zu, nicht zu wissen, was das heißt, und gesteht, allen Ernstes bei „Wikipedia“ nachgesehen zu haben. Uns siehe da, nun meint er dem verabscheuten Baron attestierten zu können: „Er blendet mal wieder mit Kenntnissen, die er offenbar nicht besitzt.“ Weil nämlich, so glaubt der wikipediabewehrte Kuzmany, „zoon politikon“ auf Aristoteles zurückgehe und bedeute, dass „ein soziales, auf Gemeinschaft angelegtes und Gemeinschaft bildendes Lebewesen“ sei. „So sind wir demnach alle ein 'Zoon politikon', Sie, ich, Hape Kerkeling, Justin Bieber und Cindy aus Marzahn, ganz unabhängig von politischem Engagement, Parteizugehörigkeit oder Griechischkenntnissen. Und zwar gänzlich.“
Ha, da hat er es dem Gutti aber gegeben! Denkt er. Doch hatte der an der zitierten Stelle überhaupt etwas anderes gesagt? Kann er nicht auch gemeint haben „Dass ich ein politischer Mensch, ein Zoon politikon, bleibe, steht außer Frage, weil ja jeder Mensch ein Zoon politikon ist, auch Stefan Kuzmany, Hape Kerkeling, Justin Bieber und Cindy aus Marzahn“? Hat er denn gesagt, dass nur er und er allein oder er in besonderem Sinne ein politisches Lebewesen sei? Man muss es jedenfalls nicht so lesen.
„Man muss das nicht wissen“, sagt Kuzmany über Aristoteles und dessen „zoon politikon“. Mag sein. Für einen Journalisten, der einem Absolventen des Ignaz-Günther-Gymnasiums zu Rosenheim (an dem laut „Wikipedia“ Latein die erste Fremdsprache ist ...) einen Mangel an humanistischer Bildung vorhalten will, wäre es aber doch ganz gut, oder? Wer anderen Halbwissen vorhalten möchte, sollte sein eigenes Nullkommairgendwaswissen wohl nicht erst ad hoc bloß aus „Wikipedia“ beziehen. Und vor allem sollte er sich nicht von Hass verblenden lassen, wenn er jemanden als Blender entlarven will.

Montag, 21. November 2011

Kleist, Bartholomae und ich

Heute jährt es sich zum zweihundertsten Mal, dass am Kleinen Wannsee jene Schüsse fielen, mit denen Heinrich von Kleist erst Henriette Vogel, dann sich selbst tötete. Darum gilt 2011 bekanntlich als Kleist-Jahr. Schon im September dieses Jahres hatte der Verleger, Herausgeber und Autor Joachim Bartholomae „Acht Thesen zur Außenseiterthematik bei Kleist“ unter dem Titel „Von Kleist lernen heißt verlieren lernen“ vorgelegt. Er machte sie auch im Blog „Schwule Literatur“ zugänglich und versah sie mit kommentierenden Ergänzungen. Jetzt habe ich die, wie ich finde, überaus erhellenden Thesen meinerseits kommentiert. Wer das nachlesen möchte, kann es hier, an meinem Netzort, tun.

Samstag, 19. November 2011

Mittwoch, 16. November 2011

Was haben Rechte gegen Schwule?

Man darf es sich auch einmal leicht machen und einen Text auch einfach deshalb kommentieren, weil er es einem so umstandslos erlaubt, ihn Satz für Satz seiner Irrtümer, Missverständnisse, Vorurteile und Ressentiments zu überführen. Der Text, den ich mir jüngst an meinem Netztort (vulgo website) nicht zuletzt seiner gedanklichen Einfachheit halber vorgenommen habe, trägt den pompösen Titel „Systemkrise: Perfide Politisierung der Sexualität“, stammt von einem mir weiter nicht bekannten Herrn Larsen Kempf und wurde am 22. Juni 2010 im Weblog „www.dasgespraech.de“ veröffentlicht. Dass mir Kempfs Beitrag erst mit mehr als einem Jahr Verspätung untergekommen ist, hat damit zu tun, dass ich erstens solch rechtsbizarre Blogs für gewöhnlich nicht lese und dass ich zweitens eigentlich nach etwas bzw. jemand anderem gegoogelt hatte. Nämlich nach Martin Böcker, der nicht nur die „Redaktion“ des genannten Blogs darstellt oder vielmehr darstellte (seit Dezember 2010 gibt es dort anscheinend keine neuen Beiträge mehr), sondern vor allem als Redakteur von „Campus“, der „Zeitung des studentischen Konvents der Universität der Bundeswehr München“ tätig ist. Erst jüngst wurde er von seinen Mitstudierenden in dieser Funktion bestätigt und zwar, wie man sagen wird dürfen, nicht trotz, sondern wegen seiner einer kritischen Öffentlichkeit als besonders rechtslastig aufgefallenen Texte. Er soll, wie ich irgendwo las, auch über Frauen bei der Bundeswehr und über Homosexuelle geschrieben haben, das war der Anlass, warum ich nach ihm googelte. Böcker gesucht und Kempf gefunden: Sei’s drum. Der Text „Systemkrise“ ist so grotesk, dass er sich zur Zerlegung geradezu aufdrängt, wenn man analysieren will, was Rechte eigentlich gegen Schwulen (und Lesben) haben — die es im Übrigen ja leider auch unter ihnen gibt. Wen also interessiert, was ich zu Kempfs Ausführungen geschrieben habe, der findet es hier.

Freitag, 11. November 2011

Schlüssig daneben

Der Kandidat, ein dreiundzwanzigjähriger Student der Chemie, wird beim Fernsehquiz vor die Wahl gestellt, ob „Dysphonie“ Heiserkeit, Zähneknirschen, Blähungen oder Ohrensausen bezeichnet. Er weiß viel und redet und redet, um sich davon zu überzeugen, dass es sich ums Ohrensausen handeln müsse. Der Junge hat sich mit Frisur und Kleidung alle Mühe gegeben, nach modisch-coolem Nullachtfuffzehntyp auszusehen, aber seine Redeweise verrät halt doch den pseudointellektuellen Naturwissenschafts-„Nerd“. Und so rasselt er, trotz aller Warnungen des Moderators und mit zwei ungenutzten Jokern von 64.000 auf 500 Euro runter. „Sie haben sich irre klugen Gedanken gemacht, ich bin noch nicht mal in der Lage gewesen, das zu widerlegen, es war schlüssig dargelegt — aber es ist anders.“ Es war nämlich halt doch die Heiserkeit. Schade, denn der Mann war mir nicht einmal unsympathisch.
Seine Vorgangsweise scheint mir paradigmatisch. Nicht, dass derlei einem Geistes- oder Sozialwissenschaftlern nicht hätte passieren können. Aber verfährt man in den Naturwissenschaften nicht gerne so: Sich auf der Grundlage von zu wenig und zudem wenig belastbaren Daten die Welt zusammenreimen und daraufhin ein großes Risiko eingehen? Wieder einmal wurde mir so nebenher, beim Fernsehen, ein charakteristisches Vorurteil bestätigt …

Dienstag, 8. November 2011

Tacheles

Am Randes des Gipfels der G20 in Cannes. Sarkozy: „Ich halte Netanyahu nicht aus, er ist ein Lügner.“ Obama: „Sie haben ihn satt, aber ich muss mich jeden Tag mit ihm abgeben.“ Bedarf es mehr als dieses Wortwechsels, der nicht für die Öffentlichkeit bestimmt war und nur durch Zufall mitangehört wurde, um den hohlen Kern der Weltpolitik freizulegen?

Samstag, 5. November 2011

Vermischte Meldungen (2)

Niemand wird Mehmet Kilic nachsagen können, er sei nicht gut integriert. Der nach eigenen Angaben in der Türkei geborene — wo dort eigentlich genau? — integrationspolitische Sprecher der deutschen Grünen kann wirklich rumpöbeln wie ein richtiger Stammtischgermane. Im Vorfeld des Deutschlandbesuches des türkischen Regierungschefs stänkerte Kilic, Erdogans jüngste Äußerungen zu den Mängeln der deutschen Integrationspolitik seien „unerträgliche Stimmungsmache“, für die sich der Politiker entschuldigen müsse, ansonsten müsse „die Bundeskanzlerin ihn öffentlich zurechtweisen“. Das spricht der deutschen Selbstgefälligkeit aus der verstimmten Seele und steht darum folgerichtig, habe ich mir sagen lassen, in der „Bild“-Zeitung.

* * *

Über die Nachfolge des unlängst verstorbenen griechisch-othodoxen Metropoliten von Wien ist bereits entschieden. Der neue Bischof werde, heißt es, wie sein Vorgänger für die rund 500.000 orthodoxen Christen in Österreich zuständig sein. Wie das? Selbst wenn die Zahl der Orthodoxen tatsächlich eine halbe Million beträgt: Sind sie denn alle griechisch-orthodox? Oder gibt es nicht vielmehr, als staatlich anerkannte Religionsgemeinschaften, neben der griechisch-orthodoxen Kirche, die dem Patriarchen von Konstantinopel untersteht, und der sehr viel kleineren griechisch-orthodoxen Kirche des Patriarchats von Antiochien auch die bulgarisch-orthodoxe, die rumänisch-orthodoxe, die russisch-orthodoxe und nicht zuletzt die serbisch-orthodoxe Kirche in Österreich, von den nicht staatlich anerkannten orthodoxen Kirchen und ihren Mitgliedern gar nicht zu reden? Alle diese Kirchen haben ihre eigenen Hierarchen und unterstehen keineswegs sämtlich dem vom Ökumenischen Patriarchen eingesetzten Metropoliten.

* * *

Die Republik Irland habe beschlossen, ihre Botschaft im Vatikan zu schließen, heißt es. Da wüsste man vielleicht doch ganz gern, wo genau „im Vatikan“  diese Botschaft sich denn bisher befunden hat. Viel Platz ist dort ja nicht. Oder handelt es sich nicht womöglich doch eher um die irische Botschaft beim Heiligen Stuhl? Die aber befindet sich in Trastevere, rund anderthalb Kilometer Luftlinie von der Vatikanstadt entfernt.

Donnerstag, 3. November 2011

Nö, er darf nicht

Demokratie is nich. Papandreous Plebiszitplan ist geplatzt. Mutti und der Kobold haben sich durchgesetzt, mit Erpressung und kaum verhohlener Drohung. Das wäre ja auch noch schöner, dass Banken und Fonds und andere Raffgeier vielleicht nicht an „ihr“ Geld kämen (also an die europäischen Steuergelder, mit denen Griechenland seine Schulden bedienen soll, was über Sozialabbau zu refinanzieren wäre), bloß weil man den Griechen erlaubt, darüber abzustimmen, ob sie sich an der Pest der Pleite oder der Cholera des Kaputtkürzens den volkswirtschaftlichen Tod holen wollen.
Ein bisschen erinnert mich das (eine völlig ungehörige Assoziation. ich weiß), an den von Hitler verbotenen und den Einmarsch deutscher Truppen veranlassenden Versuch Schuschniggs, durch eine Volksabstimmung der Bevölkerung ein Bekenntnis zur staatlichen Eigenständigkeit Österreichs abzuverlangen. Nun, diesmal sind die Deutschen ausnahmsweise mal nicht einmarschiert. Und die Drohung besteht nicht im Anschluss, sondern im Ausschluss.
Die Frage bleibt, ob irgendjemand Griechenland überhaupt zwingen kann, die Drachme wieder einzuführen. Was, wenn die Griechen keine neuen Noten drucken und Münzen prägen, sondern ungerührt weiterhin den Euro nutzen, auch wenn Mutti und der Kobold den rechtlich problematischen Ausschluss aus der Eurozone durchdrücken sollten? Immerhin verwenden auch Montenegro und die serbische Provinz Kosovo (sowie die großbritischen Souveränen Militärbasen auf Zypern) den Euro, und sind nicht einmal Mitglieder der EU. Sogar im fernen Simbabwe gilt der Euro, nebst Rand und US-Dollar, als gesetzliches Zahlungsmittel. Und da wollte man derlei den Griechen, unseren heißgeliebten Urlaubsgriechen, verwehren?
So oder so ist die „Euro-Krise“, die Mutti, der Kobold und die übrigen Verdächtigen derzeit aufführen, ein Glanzstück anti-europäischer Politik. Man tut schon gar nicht mehr so, als ginge es um die Interessen der Bürgerinnen und Bürger oder ein imaginäres europäisches Ideal. Was zählt, sind einzig und allein „die Märkte“ und wie die einzelne Nationalökonomie sich denen am bravsten unterwerfen kann. Das „europäische Projekt“ erscheint recht ungeschminkt als das, was es ohnedies immer war: eine Bündelung von Kapitalismen, um Konkurrenzdenken, Entsolidarisierung und soziale Segmentierung in größerem Maßstab vorantreiben zu können. Staaten gibt es, damit die Reichen reicher und die Armen ärmer werden, und Staatenbündnisse, damit daran immer jemand anderer schuld ist.

Mittwoch, 2. November 2011

Demokratie? Darf der denn das?

Ja, was fällt denn dem ein! Europas Politiker und ihre alles nachplappernde Journalistenmeute geben sich entsetzt: Griechenlands Regierungschef will das vom Ausland verordnete „Sparprogramm“ einer Volksabstimmung unterziehen. So geht das doch nicht! Demokratie ist ja gut und schön, aber dafür wird doch alle paar Jahre gewählt, und in der Zeit dazwischen haben die Politiker schließlich die Blankovollmacht, jeden Scheiß zu bauen, äh, ich meine: eine alternativlose Politik der wirtschaftlichen Notwendigkeiten und Sachzwänge zu betreiben.
Die Leute abstimmen lassen, ob sie wollen, was ihnen vorgeschrieben wird, pfui, da könnte ja jeder kommen. In den Redaktionsstuben und Foren kocht der gerechte Volkszorn hoch: Was wenn wir darüber abstimmten, ob wir denen noch Geld geben wollen?
Nur wenige scheinen die perfide Raffinesse Papandreous zu begreifen: „Sparprogramm“ oder Staatsbankrott, ihr habt die Wahl. Ob Pest oder Cholera, die Gelackmeierten sind die Griechen sowieso. Von Europas Rettungsgeldern sehen sie ohnehin keinen Cent. Das Geld bekommen die Gläubiger, also die Banken und anderer Abschaum. Die Bevölkerung hingegen bekommt so oder so eingeschränkte öffentliche Leistungen, gekürzte Löhne, Gehälter und Ruhestandsbezüge sowie Massenentlassungen. Aber man wird ihnen sagen können, was wollt ihr denn, ihr habt es ja so gewollt.
Die merkwürdigste aller Drohungen Richtung Hellas aber ist der vielberedete Rauswurf aus der Eurozone. Nicht bloß, dass das rechtlich schwer zu machen wäre, es ist auch sachlich nicht einleuchtend. Hat denn irgendjemand in den glorreichen Zeiten, als Deutschland noch seine über alles geliebte D-Mark hatte, daran gedacht, überschuldete Länder (wie Berlin oder Bremen) aus der D-Mark-Zone rauszuwerfen? (Analog: Österreich, Schilling, Burgenland.)
Wer so denkt, denkt immer noch nationalstaatlich und also anti-europäisch. Das ist Kirchturmspolitik im schlechtesten Sinne. Die Glockenspiele sind zwar auf einander abgestimmt, aber Gotteshäuser gehören grundverschiedenen Konfessionen.
Eine gemeinsame Währung ist nichts, was beliebig einführt oder abschafft, keine von Lust und Laune anhängige Entscheidung wie die Teilnahme oder Nichtteilnahme am Eurovision Song Contest. Auch wenn alle Währungen etwas Fiktives haben, ist doch die Gemeinsamkeit derer, die sich ihrer bedienen, ist echt. (Dass Länder wie Großbritannien, Dänemark und Schweden nicht zur Eurozone gehören, ist nur folgerichtig, diese Länder gehören auch nicht in die EU.)
So oder so, das griechische Referendum über die sozioökonomische Selbstzerstörung ist der richtige Schritt, mögen Merkel, Sarkotzi & Co.sich noch so beleidigt darüber geben, dass ihre Hinterzimmerpolitik scheinbar in Frage gestellt wird. Denn Demokratie bedeutet ja, dass die Regierten von den Regierenden so lange traktiert werden, bis sie dem Regiertwerden zustimmen. Papandreou macht, so gesehen, alles richtig.

Montag, 31. Oktober 2011

Deuteroprotestantismus

Wer die römisch-katholische Kirche schädigen und gar zerstören will, muss nur darauf drängen, dass sie folgende „Reformen“ endlich durchführt: Abschaffung des Zölibats, Zulassung von Frauen zum Weihepriestertum, entscheidende Beteiligung der Laien an der Kirchenleitung, Aufgabe einer verbindlichen Moral (insbesondere im Bereich der Sexualität), Abschaffung der Ehe als Sakrament (und darum Einführung von Scheidung und Wiederverheiratung) sowie Unverbindlichkeit aller theologischen Lehrinhalte überhaupt. Heraus käme ein Deuteroprotestantismus, ein zweiter Protestantismus also, einer mit einer etwas anderer Folklore, aber eben doch bloß ein Protestantismus.
Inwiefern das beschädigt und zerstört? Ein Vergleich gibt Auskunft. In Deutschland sind der katholische und die evangelische Anteil an der Bevölkerung grob gerechnet in etwa gleich groß, jeweils etwas weniger als ein Drittel aller Einwohner. Bekanntlich haben die Glieder der „Evangelischen Kirche in Deutschland“ längst all das, was „Kirchenkritiker“ und „Reformer“ von der römisch-katholischen Kirche erst verlangen: verheiratete Pastoren, weibliche Pastoren, bedeutende Mitwirkung der Nichtpastoren auf allen Leitungsebenen, Ehescheidung und Wiederverheiratung, keine strengen Moralvorstellungen und eine weitgehend unverbindliche Theologie. Trotzalledem sind die evangelischen Gotteshäuser sonntags noch leerer als die katholischen und war — bis im Jahr 2010, als das Medienspektakel des „Missbrauchsskandals seinen Höhepunkt erreichte — die Zahl der Kirchenaustritte sowohl in absoluten wie in relativen Zahlen immer höher als bei den Katholiken.
Wenn der Protestantismus es also nicht schafft, die Leute in die Kirche zu bringen und in der Kirche zu halten, wenn es ihm nicht gelingt, über ein paar erbaulich-unverbindliche Reden bei dieser oder jener Gelegenheit hinaus auf das Leben der Einzelnen und der Gesellschaft einzuwirken, warum sollte das dann ein zum Deuteroprotestantismus mutierter Katholizismus vermögen? Er wird im Gegenteil das gleiche Schicksal erleiden und einen Schwund an Einfluss, Bedeutung und Mitgliederzahl erleiden.
Allerdings ist der deutsche Protestantismus nicht der Protestantismus insgesamt. Weltweit haben gewisse (meist aus den USA stammende) Sekten, besonders fundamentalistische, großen Zulauf. Daran könnte sich der Katholizismus ein Beispiel nehmen, nicht indem er sektiererisch und fundamentalistisch wird, sondern indem er sich selbst ernst nimmt und die Verbindlichkeit seiner Lehre und seiner Vorschriften stärkt statt schwächt.
Die römisch-katholische Kirche wächst, nämlich in weltweitem Maßstab, und wo sie wächst, hat sie übrigens auch nahezu keinen Priestermangel. Das Problem ist das säkularisierte und atheismifizierte Europa. Nur hier (und naturgemäß in den USA) führen „Kritiker“ und „Reformer“ das große Wort. Aber derlei ist bloß Symptom des Niedergangs, nicht der Erneuerung.
Wenn man also, auch als Nichtkatholik, der katholischen Kirchenführung etwas zu raten hätte: Vergesst Europa, lasst Euch von Protestanten, Sektierern, Fundamentalisten und Atheisten nicht in die Enge treiben, erneuert die Kräfte der Kirche aus bester Überlieferung und dem lebendigen Christentum in Afrika, Asien und Südamerika. Je katholischer der Katholizismus ist, desto besser für ihn. Ihn zu einem Deuteroprotestantismus machen zu wollen, ist hingegen eine diabolische Strategie.

Dienstag, 25. Oktober 2011

Raus? Aber gern!

Für gewöhnlich ist mir alles, was von der und in der großbritischen Konservativen Partei an politischen Projekten befürwortet wird, von Grund auf zuwider. Jetzt aber finde ich ausnahmsweise Gefallen daran, dass, wie ich den Nachrichten entnehme, 80 Abgeordnete der Konservativen ihrem Parteivorsitzenden und Regierungschef die Gefolgschaft verweigerten und im Parlament entgegen dessen striktem Befehl für ein Anti-EU-Referendum stimmten.
Ich hoffe sehr, der Trend setzt sich fort. Wie man hört, sind zwei Drittel der Großbriten und Nordirländer für einen Austritt aus der Europäischen Union. Sehr gut! Ich bin auch dafür! Das Vereinigte Königreich soll die EU verlassen (und am besten Dänemark und Schweden mitnehmen).
Dann gibt es endlich auch keinen Grund mehr, in Europa dauernd Englisch zu schwatzen (die Staatssprache Irlands ist ja eigentlich Gälisch). Ich plädiere für eine romanische Sprache, am liebsten Italienisch, als EU-Amtssprache. Nicht um Dolmetscher und Übersetzer arbeitslos zu machen, die sollten weiter im Einsatz bleiben, sondern um das Projekt der europäischen Integration voranzutreiben und ästhetisch aufzuwerten.
Wenn die Nordeuropäer raus sind (oder, wie Island, gar nicht erst rein kommen), ist dann auch Platz genug für die Aufnahme der südeuropäischen Länder Marokko, Algerien, Tunesien, Libyen und Ägypten in die Europäische Union. (Vgl. den Broniowski-Plan.) Die Türkei muss sowieso dazu. Und bald auch Syrien und der Libanon. Auf zum Imperium Romanum redivivum!
Ach, schon der bloße Gedanke an einen EU-Austritt der Engländer stimmt mich heiter und verschönt mir den Tag. Get out, you bloody bastards! Wie man das wohl auf Italienisch sagt?

Sonntag, 16. Oktober 2011

Liberty Plaza

Wenn’s ihnen Spaß macht … Sollen sie doch gegen Bankenmacht und Profigier die Wallstreet (oder zumindest den Zuccotti Park, der früher wohl mal Liberty Plaza Park hieß) okkupieren, sollen sie Transparente schwingen, Sprechchöre trällern und Reden, viele Reden von sich geben — und sich nicht zuletzt im Internet tummeln. Sollen sich doch Hunderte, Tausende, Zehntausende überall in den Metropolen der westlichen Welt ihnen anschließen und ihr eigenes Ding machen. Warum nicht? Kapitalismuskritik ist gerade in. Bald ist sie es wieder nicht mehr. Carpe diem!
Manches, was manche von den aktuellen Protestierern vorbringen, ist gar nicht so unsympathisch. Anderes wiederum ist Unsinn. Da passt inhaltlich Vieles nicht zusammen, aber stilistisch bildet es doch ein kohärentes Phänomen. Mit revolutionärem Chic. Was viele seit langem gesagt haben, haben spätestens jetzt auch viel Jüngere entdeckt. Die Übel sind ja auch wirklich nicht zu übersehen, wenn man erstmal hinschaut und nachdenkt.
Das Bürgertum ist verunsichert. Das Versprechen der Oberen, den Mittleren durch Ausbeutung der Unteren Wohlstand zu sichern, scheint vorübergehend ein wenig an Überzeugungskraft einzubüßen. Dass die Reichen immer reicher werden und die Armen ärmer, diese raison d’être der „marktwirtschaftlich“ orientierten Gesellschaften, funktioniert zwar noch, aber es gibt für den Mittelstand Zweifel, ob er sich in seiner Masse wirklich nach oben bewegt oder nicht doch auch nach unten. Man kann’s mit der Ausbeutung auch übertreiben. Da hilft dann selbst die Zerstreuung mittels Konsumspielsachen nicht mehr völlig über alles hinweg.
Aber soll sich wirklich etwas ändern? Im Grundsätzlichen?
Die Leutchen von Occupy Wallstreet haben Recht. Sie gehören zu den 99 Prozent, die bleiben, wenn man ein Prozent Superreiche abzieht. Aber das verweist auf ein viel grundsätzliches Problem. Der Kapitalismus kommt, wie jedes Herrschaftssystem, von unten. Damit ein solches System funktioniert, braucht es nicht nur die, die am meisten profitieren und die den unmittelbarsten Einfluss ausüben. Es braucht vor allem die mehr oder minder willige Masse der Mitmacher. Auf jeden, der etwas anordnet, kommen Hunderte, Tausende, Millionen, die gehorchen.
Gewiss, man hat keine Wahl oder scheint keine zu haben. Man ist a priori Teil des Systems. Das ändert aber nichts daran, dass diese systemimmanente Alternativlosigkeit nur deshalb funktioniert, weil sie performiert wird. Anders gesagt, die Leute erzeugen den Zwang, dem sie sich unterwerfen, selbst.
Kapitalismus ist das Resultat eine demokratischen Prozesses. Er entspricht den Wünschen der Mehrheit, mögen diese Wünsche auch noch so manipuliert sein. Diesem Wahnsinn nun ausgerechnet „Demokratie“ (sei sie liquide oder sonstwie aggregiert) entgegensetzen zu wollen, ist nur neuer Wahn. Um es zum fantastillionsten Mal zu sagen: Demokratie bedeutet nicht, dass das Volk regiert, sondern dass die Bevölkerung dem Regiertwerden zustimmt (und dies in institutionalisierter Form zum Ausdruck bringen kann). Demokratie ist nicht identisch mit Rechtsstaat, die Anerkennung von Bürger- und vor allem Menschenrechten ist nicht an demokratische Strukturen gebunden.
Die Vorstellung, alles würde gut, wenn nur alles immer von den Leuten selber bestimmt würde, ist bizarr. Man nenne mich selbstgerecht und überheblich, aber ich habe kein Zutrauen zum Verstand der Masse meiner Mitmenschen. Warum sollten dieselben Leute, die in den Beziehungen untereinander, im Weltverhältnis und im Selbstverständnis so erschreckend selten Intelligenz, Geschmack oder Verantwortung zeigen, sich mit einem Mal ganz anders verhalten, warum sollten dieselben Leute, die sich, wie ihr Konsumverhalten und ihr Räsonieren beweist, jeden Unfug aufschwatzen und jeden Blödsinn einreden lassen, plötzlich in ihrer Mehrheit richtige politische Entscheidungen treffen können?
Oder geht es gar nicht um richtig und falsch? Geht es bloß darum, dass etwas „demokratisch“ ist? In einer Welt, in der ständig über alles und jedes abgestimmt würde und die Mehrheit entscheidet, was zu tun ist, möchte ich nun wirklich nicht leben. Das wäre der reinste Terror.
Es ist mehr als naiv, es ist gefährlich paranoid, anzunehmen, man müsse nur die Herrschaftsstrukturen suspendieren und die von jedem äußeren Zwang befreiten Subjekte würden plötzlich souverän. Denn die inneren Zwänge, also das, als was die Subjekte sich geformt haben und sich formen lassen haben, bestehen ja weiter fort. Der Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit ist ein Programm, das leider nicht funktioniert, weil die Unmündigkeit nicht darin besteht, sich des eigen Verstandes nicht ohne Leitung eines anderen bedienen zu können, sondern weil der real existierende Verstand selbst nicht vom Himmel gefallen, sondern ein Produkt der gesellschaftlichen Verhältnisse ist. Es gälte demnach erst, diese Verhältnisse zu stören und den Verstand umzuformen — also anders zu leben und zu denken —, um mündig zu werden.
Aber wer schafft das schon? Ist die symbolische Besetzung der Wallstreet ein Schritt dorthin? Wohl kaum. Dieses Gesellschaftssystem hat kein finsteres Herz, kein alles steuerndes Superhirn, das man nur auszuschalten oder umzufunktionieren braucht, um alles gut werden zu lassen. Gewiss gibt es Machtzentren, aber im Wesentlichen funktioniert der Kapitalismus, wie jedes stabile Herrschaftssystem, dezentral, plural, heterogen und mit Widersprüchen. Krisen sind sein Lebenselement. Weshalb auch das mehr oder minder kritische Denken, wie es sich an der „Liberty Plaza“ kristallisiert, eher ein Beitrag zur permanenten Evolution sein dürfte, der den Strukturen Impulse verleiht, diese zur ihrem ständigem Umbau benötigen. Eine breite gesellschaftliche Dynamik, die morgen oder übermorgen, den Kapitalismus hinwegfegt (und durch welche andere Wirtschaftsordnung ersetzt?) kann ich jedenfalls nicht erkennen.
Trotzdem: Wenn’s ihnen Spaß macht … Man sieht gern zu, man macht gern mit. Es wird die Welt nicht verbessern, aber besser als Nichtstun ist es allemal.

Samstag, 15. Oktober 2011

Aufgeschnappt (bei einem Autor um 1800)

Der Buchhandel liegt in einem so tiefen Verfall und wird mit jeder Messer soviel schlechter, daß selbst angesehene Buchhändler erschrecken, wenn ihnen ein Manuskript, das nicht einen schon berühmten Namen zum Garant hat, angeboten wird. Die Buchläden sind mit Romanen [...] aller Art dermaßen überschwemt, daß ihnen jeder [Euro] zuviel ist, den sie für [...] einen Roman, der nicht von [einem Bestseller-Autor] kommt, geben sollen.

Christoph Martin Wieland (1733-1813)

Wieland schreibt hier außer von Romanen eigentlich auch von Theaterstücken, sagt selbstverständlich Taler, nicht Euro, und nennt die damaligen Bestseller-Autoren Kotzebue, Schiller, Richter,  La Fontaine, Huber beim Namen.


Sonntag, 2. Oktober 2011

Montag, 26. September 2011

Sonnenuntergang, Weltuntergang, Sinnfrage

Ein bezeichnender Fall von leichter Geistesverwirrung durch Wissenschaftsgläubigkeit: „Tatsachen finden schwer den Weg ins menschliche Bewusstsein. Weil sie zu schmerzlich sind, weil sie unser Bild von der Welt und wie sie zu funktionieren hat, stören würden. Die unangenehmen Tatsachen verstecken wir hinter falschen Begriffen. So reden wir vom ‘Sonnenuntergang’, obwohl wir seit Kopernikus wissen, dass es die Erde ist, die sich um die Sonne dreht. Eigentlich müssten wir vom ‘Erduntergang’ sprechen. Wir tun es nicht, weil wir immer noch gekränkt sind, nicht im Zentrum des Universums zu stehen. Und weil es uns erschreckt, dass der Boden, auf dem wir stehen, nicht fest ist.“ Schreibt der Schweizer Schriftsteller Lukas Bärfuss im „Freitag“ („Unangenehme Tatsachen“, 22. September 2011) in einem Text, in dem es dann eigentlich um Thermodynamik und Ökonomie geht, aber nach einem solchen Einstieg kann der Rest auch nicht mehr völlig überzeugend sein.
Bärfuss liegt nämlich völlig daneben. Dass die Sonne aufgeht und untergeht, ist eine Tatsache. Seit es Menschen gibt, haben sie diese beobachtet, und noch heute kann jeder, der zu sehen vermag (und nicht irgendwo eingesperrt ist), jeden Tag einen Sonnenaufgang und einen Sonnenuntergang wahrnehmen. Dass sich hingegen ein Planet namens Erde um sich selbst dreht, eine Bahn um eine Sonne namens Sonne zieht und dabei von einem Mond namens Mond umkreist wird, ist lediglich ein Erklärungsmodell. Ein zugegebenermaßen recht sinnvolles Modell, dass Beobachtungen und Berechnungen gut zusammen bringt. Es gab andere Modelle, etwa das ptolemäische, nach dem die Erde als feststehende Kugel von beweglichen Schalen umgeben ist, an denen Sonne, Mond und Sterne befestigt sind. Dieses heliozentrische Modell besaß lange Gültigkeit, so auch das ganze sogenannte Mittelalter hindurch — in dem nämlich die Erde keineswegs für eine Scheibe gehalten wurde, wie es das aufgeklärte Vorurteil will! —, konnte aber die Bewegungen der Wandelsterne letztlich nicht überzeugend erklären. Kopernikus und Kepler stellten dann, andere antike Überlegungen als die des Ptolemäus aufgreifend, das heliozentrische Modell auf, das den oben erwähnten Vorteil besitzt, weder der Alltagserfahrung noch der wissenschaftlichen Rechenkunst zu widersprechen.
Kurz und knapp: Sonnenaufgänge und Sonnenuntergänge sind Erfahrungstatsachen, etwas ganz anderes sind die Modelle, die bestimmte Beobachtungen und Berechnungen in Einklang zu bringen versuchen. Bärfuss verwechselt das eine mit dem anderen, er hält anscheinend Erklärungsmodelle für Tatsachen und Tatsachen für Vorurteile.
Doch wer da, um Bärfussens eigene Formulierung zu gebrauchen, im Physikunterricht nicht aufgepasst hat, scheint vor allem er selbst zu sein, denn keineswegs ist es ja dem geltenden Modell zufolge die Bewegung der Erde um die Sonne („wie wir seit Kopernikus wissen“), die Sonnenaufgänge und Sonnenuntergänge erklärt, sondern die Drehung der Erde um ihre eigene Achse. Einen „Erduntergang“, von dem Bärfuss phantasiert könnte man also allenfalls von der Sonne aus beobachten (was unmöglich ist) oder vom Mond (was man bekanntlich getan hat) oder sonst einer außerirdischen Position aus.
Weil also schon Bärfussens Darstellung der Verhältnisse in mehrfacher Hinsicht nicht stimmt, ist auch seine Behauptung absurd, die Rede von Sonnenuntergängen statt von Erduntergängen verdränge „unangenehme Tatsachen“. Nun ist ja die These von der Kränkung des Selbstbewusstseins des modernen Menschen durch die modernen naturwissenschaftlichen Erkenntnisse nicht neu. Sigmund Freud etwa sah bekanntlich seine eigenen angeblichen Entdeckungen ebenso wie die von Kopernikus und Darwin als solche Kränkungen an. Nichts könnte freilich falscher sein als dieses Kränkungsmodell. Allein schon, dass Heliozentrik, Darwinismus und Psychoanalyse — hinzuzunehmen wären heute noch Genetik und Hirnforschung — sich solch enormer Beliebtheit erfreuen und fest in den unreflektierten Vorstellungen der Leute verwurzelt sind, verweist doch darauf, dass es keineswegs um ängstlich abgelehnte, sondern um nachdrücklich erwünschte Veränderungen des Selbstbildes geht. Sie stören nicht, sie sind notwendig für das Funktionieren des „aufgeklärten“ (also durch Wissenschaftsgläubigkeit verdummten) Bewusstseins.
Es handelt sich allerdings eben gerade nicht um eine Kränkung, sondern um eine Entlastung, wenn man glauben darf, dass die Erde nur noch irgendein Materieklumpen unter unzählbar vielen anderen Materieklumpen in einem unüberschaubaren Universum ist. Der Glaube so vieler Menschen an „Außerirdische“, der durch nichts außer populäre Mythen gestützt wird, legt von diesem Wunsch, nichts Besonderes und im Kosmos nicht allein zu sein, beredtes Zeugnis ab.
Es handelt sich auch eben gerade nicht um eine Kränkung, sondern um eine Entlastung, wenn man glauben darf, dass der Mensch nur das zufällige Ergebnis von Umweltbedingungen und Mutationen ist und nicht die Krone einer Schöpfung durch einen Verantwortung fordernden Gott. Dass der Evolutionismus, ohne das zuzugeben, einfach nur die Gesetzmäßigkeiten des Kapitalismus, also grob gesagt das Fressen und Gefressenwerden, das Wechselspiel von Norm und Anpassung aus dem sozioökonomischen Bereich auf Tier- und Pflanzenwelt übertragen hat, hat seine Glaubwürdigkeit nahezu unerschütterlich gemacht.
Es handelt sich ferner eben gerade nicht um eine Kränkung, sondern um eine Entlastung, wenn man glauben darf, dass man für das, was man tut und lässt nicht selbst verantwortlich ist, sondern das alles naturgesetzlich bestimmten Gegebenheiten determiniert ist, dass also zum Beispiel die Gene an allem schuld sind oder dass das Hirn einen steuert, während man bloß denkt, dass man denkt. Und es handelt sich auch nicht um eine Kränkung, sondern um eine Entlastung, wenn man glauben darf, dass nicht das bewusste Ego (was immer das sein mag), sondern unbewusste Triebe das Schicksal des Einzelnen lenken.
Nicht die vor- und außermodernen Menschenbilder sind bequem und das Menschenbild der Modern für die Leute hart und schwierig zu akzeptieren, sondern umgekehrt, indem der Mensch von jeder anderen Autorität als der der vermeintlichen Sachzwänge und behaupteten Naturgesetzlichkeiten „emanzipiert“ und jeden Verständnisses für Transzendierendes beraubt wird, kann er sich komfortabel in Immanenz und Selbstbezüglichkeit einrichten. In aller Ruhe kann er seinen Geschäften nachgehen und sich sagen: Nichts, was geschieht, hat letztlich Sinn, alles ist Zufall, der nach ungesetzten Gesetzmäßigkeiten abschnurrt, weshalb es nur noch darauf ankommt, sich den eigenen vermeintlichen Bedürfnissen zu unterwerfen und sich nicht erwischen zu lassen, wo das unerwünscht ist. Was Menschen seit unvordenklichen Zeiten gewusst und geglaubt haben, ist dann nur noch ein Klotz am Bein, der einen beim individuellen und kollektiven Konsumieren behindert. Die Naturwissenschaften hingegen können, zumindest potenziell, alles erklären, auch wenn man nichts davon versteht, und ihre Botschaft ist klar: Der Mensch ist ein Tier oder gar bloß eine biotische Maschine, ihn regieren Biochemie und Physik, was er tut oder lässt ist im Grunde egal, niemand ist für irgendetwas oder irgendjemanden verantwortlich.
Dass das alles Unsinn oder zumindest höchst kritikwürdige Ideologie ist, scheint mir offensichtlich. Freilich sehen das die meisten Leute nicht, im Gegenteil. Auch Lukas Bärfuss verkennt die wirklichen Verhältnisse von Grund auf. Er sitzt schlechterdings den Vorurteilen seiner Zeit auf und kommt sich dabei wohl sehr aufklärerisch und durchblickend vor. Er vermeint ja allen Ernstes, sich „unangenehmen Tatsachen“ zu stellen! Dass er nicht kritischer denkt, wird freilich nicht bloß mit seiner Unaufmerksamkeit im Physikunterricht zu tun oder einem sonstigen Mangel a Schulbildung. Denn wenn selbst hochmögende Universitätsprofessoren zu einer Kritik der naturwissenschaftlichen Populärideologie außer Stande zu sein scheinen, wie soll man eine solche dann von einem Theaterschriftsteller erwarten können.
Bärfuss bemüht dann in seinen weiteren Ausführungen den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik und die Entropie, um darzulegen, dass die Rohstoffressourcen endlich sind und zudem schlecht verteilt. Um Letzteres zu behaupten, hätte es Ersteres nicht gebraucht.
Bärfuss hat ja durchaus Recht, das System der Verteilung der Kosten und Profite bei der Gewinnung und Nutzung von Rohstoffen ist asymmetrisch und ungerecht. Aber auch ganz ohne den Begriff der Entropie, kann man sehen, dass viele Menschen im Norden in relativem Wohlstand leben und viele im Süden in absoluter Armut. Und man kann nachvollziehen, dass das eine das andere bedingt. Bärfuss beschreibt die Verhältnisse sehr gut in dem Abschnitt „Wohin das führt“: „Wir“ — die Menschen in den entwickelten Ländern — „sind zu unserem Wohlstand gekommen, weil es Diktaturen und skrupellose Firmen gibt, die uns die billigen Betriebsstoffe lieferten. Unsere Privilegien, Chancengleichheit und Meinungsfreiheit wurden damit erkauft, dass jemand auf diese Privilegien verzichten muss. Das alles ist bekannt. Die unangenehmen Tatsachen liegen auf dem Tisch. Die Frage ist, was wir damit anfangen.“
Sehr richtig. Einige vernünftige Vorschläge dazu gibt es ja bereits. Bärfuss zitiert den „Bioökonomen“ Nicholas Georgescu-Roegen, der „die Einstellung jeder Rüstungsproduktion (fordert). Dann seien die Entwicklungsländer in einer gemeinsamen Anstrengung auf ein gutes, aber nicht luxuriöses Niveau zu bringen. Das Bevölkerungswachstum müsse so weit beschränkt werden, dass alle Menschen durch ökologischen Landbau ernährt werden können. Dazu sei der Energiekonsum strikt zu regulieren. Ferner müsse sich die Menschheit von der Mode befreien, dieser ‘Krankheit des menschlichen Geistes’. Es sei ein Wahnsinn, wenn man ein Möbel oder Kleidungsstück wegwerfe, das noch gebraucht werden könne. Und jedes Jahr ein neues Auto zu kaufen oder das Haus aufzumöbeln, so Georgescu-Roegen, sei ein bioökonomisches Verbrechen.“
Bärfuss gesteht ein, das klinge nach einer „Ökodiktatur“, nah einem Staat, der die totale Kontrolle über den Einsatz der natürlichen Ressourcen hätte. Eine ungemütliche Vorstellung – und ein weiterer Beleg dafür, dass wir die Ausgestaltung unserer Zukunft nicht den Ökonomen überlassen sollten.“ Auch das ist richtig, Weder den Physikern, noch den Ökonomen, noch auch den Schriftstellern. Denn, um einen von den Letztgenannten zu zitieren, auch einen Schweizer, nämlich Dürrenmatt: „Was alle angeht, können auch nur alle lösen.“
Worum es geht, erkennt Bärfuss ja durchaus: „(S)olange wir weiter so tun, als verfügten wir über unendliche Ressourcen, als sei unbeschränktes Wachstum möglich und als dürften Rohstoffkonzerne ganze Länder ausplündern, so lange können wir diese Probleme nicht lösen: Nicht die Kriege, die um Rohstoffe geführt werden, nicht die Klimaveränderung, nicht die Umweltverschmutzung durch Erdöl, Bergbau und Radioaktivität und sicher auch nicht die sich verschärfenden politischen Auseinandersetzungen um die gerechte Verteilung der natürlichen Ressourcen.“
Nur hat das Problem, dass so getan wird, als könne alles immer so weiter gehen, ja als seien Ausbeutung und Vernutzung sogar noch immer weiter steigerbar, nichts mit dem, wie Bärfuss meint, Verleugnen physikalischer Erkenntnisse zu tun. Lange vor der modernen Physik und dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik haben viele, ja vielleicht die meisten Religionen bereits die Endlichkeit der Welt gelehrt und das Ende der Dinge vorausgesagt. Einmal muss Schluss sein. Und tatsächlich würde ja auch ein schonender Umgang mit Ressourcen und eine gerechteres System ihrer Nutzung letztlich, um die physikaloide Terminologie aufzugreifen, das Entropieproblem nicht lösen. Der Weltuntergang kommt so oder so. Ob er früher oder später kommt, betrifft nicht das Prinzipielle. Nämlich die Frage, wie wir uns zu unserer Endlichkeit und der Endlichkeit dieser Welt verhalten und wie wir das Endliche auf ein mögliches Unendliches beziehen wollen.
Damit erst ist man beim eigentlichen Problem angelangt. Denn was in der Moderne verleugnet wird, sind ja nicht physikalische Tatsachen, sondern die Sinnfrage. Warum und wozu das Ganze? Auch wenn alles irdische Unrecht beseitigt wäre und der Umgang mit den Dingen dieser Welt ein Höchstmaß an Vernünftigkeit und Effizienz aufwiese, stellte sich immer noch diese eine entscheidende Frage. Muss sie beantwortet werden? Sie muss zunächst einmal gestellt werden können. Dazu vermögen Literatur und Theater ihren Teil beizutragen. Die Physik nicht, die Ökonomie auch nicht. Darüber sollte Lukas Bärfuss mal schreiben.

Sonntag, 25. September 2011

Hyperpsychopathen

Also geahnt hat man es ja immer schon, aber nun ist es sozusagen amtlich: Die Wissenschaft hat festgestellt, Aktienhändler verhalten sich destruktiver als Psychopathen. So kann man zumindest den Bericht von Markus Städeli in der „Neuen Zürcher Zeitung“ („Destruktive Dynamik im Handelsraum“, 25. September 2011) grob zusammenfassen.
Städeli berichtet von einer Arbeit Pascal Scherrers und Thomas Nolls an der Universiät St. Gallen, in der das Verhalten von 27 professionellen Tradern, die hauptsächlich bei Schweizer Banken, aber auch bei Rohstoffhändlern und Hedge-Funds arbeiten, in einem „Gefangenendilemma-Computerspiel“ untersucht wurde. Verglichen wurden die Ergebnisse mit einer bereits existierenden Studie an 24 Psychopathen in deutschen Hochsicherheits-Kliniken und einer Kontrollgruppe von 24 „normalen“ Personen. Herauskam dabei, dass die Broker noch weit rücksichtsloser, egoistischer und unkooperativer vorgingen als die Psychopathen. Allerdings mit geringerem Erfolg …
Danke, das wollten wir wissen. Zugegeben, die Simulation kann nicht ohne weiteres als Aussage über Berufsalltag einer ganzen Branche genommen werden. Aber sie stützt doch eine Intuition, die sich spätestens in den letzten Spekulationskrisen aufdrängte: Das Eingehen übergroßer Risiken, um ohne Rücksicht auf Verlust übergroße Gewinne zu erzielen, ist destruktiv und ziemlich durchgeknallt.
Nun sind ja leider Aktienhändler sozusagen das Herz der Finanzwirtschaft, die wiederum sozusagen das Herz der Marktwirtschaft ist. Im Kern des Ganzen sitzt also der Wahnsinn. Der zeitgenössische homo oeconomicus kat’exochen erweist sich als Psychopath, ja gar als dessen Überbietung, als Hyperpsychopath. Es fehlt nicht mehr viel, und der Kapitalismus insgesamt enthüllt seinen wahren Charakter als Geisteskrankheit. Dann stellt sich nur noch die Frage: heilbar oder unheilbar? Gibt es Erfolgschancen für eine Therapie der Weltwirtschaftsordnung oder muss man sie durch eine neue, gesunde ersetzen und die alte in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher unterbringen?

Sonntag, 18. September 2011

Letztens, nächtens, bei den Jugos

Eigentlich bloß zufällig geriet ich unlängst in meiner Lieblingskaschemme zu je nachdem später oder früher Stunde in eine geschlossen Gesellschaft, was aber nicht viel anderes bedeutete, als dass man eben Eintritt zu bezahlen hatte. Die Veranstaltung nannte sich „Jugo-Nacht“. Na, das klingt doch vielversprechend, dachte ich mir. Und tatsächlich war der Laden berstend voll. Voller Männer, versteht sich, schließlich ist von meine Lieblingsspelunke die Rede. Die anwesenden Frauen hätte man also an einer Hand abzählen können, für die Männer im Fummel aber hätte man schon mindestens beide Hände gebraucht. (Falls es sich hierbei jedoch nicht um Männer im engeren Sinne handelte, sondern um Personen, die korrekterweise irgendwie mit der Vorsilbe „trans“ zu bezeichnen wären, bitte ich meine Fehldarstellung zu entschuldigen; ich habe keine Hormontests vorgenommen.)
Die Stimmung war großartig, die Luft zum Schneiden, was mir, dem von Heuschnupfen Geplagten, überraschenderweise sehr gut bekam. Alkoholdunst und Männerschweiß, das sollte man auf Flaschen ziehen! Ich würd’s regelmäßig inhalieren …
Die Musik war laut, aber angenehm. Freilich verstand ich mangels Sprachkenntnissen kein einziges Wort und kannte kaum eine Melodie. Offensichtlich ganz im Unterschied zur überwältigenden Mehrheit der Anwesenden, die bei jeder sich bietender Gelegenheit mit vollem Einsatz mitsang. Jawohl, sang, nicht grölte. Ob die Lieder serbisch, kroatisch, makedonisch oder sonstwas waren, kann ich nicht beurteilen. Aber unverkennbar balkanisch waren sie, und bevor mich nicht jemand durch notariell beglaubigte Übersetzungen vom Gegenteil überzeugt, glaube ich nicht, dass sie von großserbischem Nationalismus oder ethnischen Säuberungen handeln, sondern weiß, dass es darin um Liebe, Leid, Glück und Trauer und nicht zuletzt um Freude, ja Lust am Singen ging. So wurden sie vorgetragen, und so fand ich es schön. (Gegen Ende hin, als sich die Reihen schon gelichtet hatten, wünschte ich mir vom Plattenaufleger noch einmal „Molitva“, über mich selbst erstaunt, dass ich ein serbisches Lied beim Namen kannte …)
Durch geschickte Steigerungen brachte der DJ die Höhle nach und nach zum Kochen. Absoluter Höhepunkt war schließlich — ich weiß leider nicht, wie man es nennt: so eine Art Reigentanz*, man hält sich an den Händen, Hüften oder Schultern und bewegt sich nach festen Regeln mal zur einen Seite, mal zur anderen. Ein Fest für alle meine Sinne: Auf engstem Raum tanzen sich Dutzende mehr oder minder gutausehender Männer gemeinsam in einen rhythmischen Rausch! Es war, als wäre Gott Dionysos selbst erschienen, um es mal kulturhistorisch-theologisch zu formulieren. (Nur dass meines Wissens niemand von Mänaden zerrissen wurde, schon wegen des erwähnten Frauenmangels. Das heißt, ein Mangel war es eigentlich gar nicht …)
Eine wunderbare Nacht. Und ein perfektes Gegenstück zu dem, was ich vor ein paar Tagen in einer (mit erstaunlich vielen Clicks beehrten) Glosse beschrieben und verworfen hatte. Hier tobte nicht der Mittelstandspöbel, um seine längst hinfällige Grandiosität zu zelebrieren. Hier verbrüderten sich Menschen verschiedener Herkunft (Jugos verschiedenster „Ethnien“ und verschiedener Staatsbürgerschaften, samt Türken, Rumänen, Roma und selbstverständlich nicht wenigen Nicht-Jugos), verschiedenen Alltags und übrigens durchaus auch verschiedener sexueller Orientierung, Menschen, über deren kulturelle Traditionen, besonders wenn sie oder ihre Familien vom Balkan stammten, mancher Imperialismus hingweggegangen war, ohne die Lebensfreude und Ausdruckskraft der betroffenen Völker brechen zu können.
Ich kenne einige Bewohner Wiens, die sich selbst am liebsten weder als Serben oder Montenegriner oder Kroaten oder Bosnier oder Makedonen bezeichnen, sondern sagen, sie seien Jugos. Dass ist für sich genommen schon ein antinationalistisches Statement, finde ich, und zugleich ein Zeugnis für eine historisch gebrochene Identität. Denn abgesehen davon, dass Familiengeschichten voller unentwirrbarer Mischungen sein können (so ja auch meine), ist es für den Einzelnen sowieso eine Zumutung, seine Zugehörigkeit anhand der gerade geltenden staatlich reglementierten Identitäten benennen zu sollen. Dass derlei in Wahnsinn und Blutbad enden kann, lehrt die Geschichte.
In jener dionysischen Nacht jedoch blieb, soweit ich weiß, trotz oder wegen all der Leidenschaft das Blut in den Körpern. Ausgetauscht oder zumindest abgesondert wurde aber vermutlich manch andere Körperflüssigkeit, und ich meine nicht bloß Schweiß. Doch auch ohne Sex war die Nacht für mich ein Erlebnis. Ein körperliches, ein seelisches und zudem eines (und was könnte einem Intellektuellen besser gefallen), das auch noch meine Vorurteile bestätigt hat: So unangenehm mir Nordeuropäer oft auffallen, den Südosteuropärern und den Orientalen bin ich seit jeher verfallen und bleibe es. — Ob es wohl bald auch einmal eine Afrikaner-Nacht geben wird in meiner Lieblingsbar? Zu hoffen wäre es.

* Kolo?

Freitag, 16. September 2011

Aufgeschnappt (bei einem Realträumer)

Nur das, was wir träumen können, können wir auch denken. Das, was wir denken können, können wir auch wollen. Und das, was wir wollen, können wir auch tun.

Götz Werner (Unternehmer und Gesellschaftsdenker)

Donnerstag, 15. September 2011

Zahlmeister D

Was soll eigentlich der oft zu lesende oder zu hörende Satz bedeuten, Deutschland dürfe (oder wolle) nicht der „Zahlmeister“ Europas sein? Ein Zahlmeister, liebe Dummschwätzerinnen und Dummschwätzer, war früher ein Offizier der militärischen Verwaltung, der mit den Finanzangelegenheiten seiner Einheit befasst war. Oder er ist in der Zivilschifffahrt der für die Schiffskasse Zuständige, der die Mannschafts- und Passagierlisten führt, die Heuer auszahlt, sich um Provianteinkauf kümmert und auch mit Zoll- und Passangelegenheiten zu tun hat. Oder aber Zahlmeister ist, etwa bei Schützenvereine, bloß ein anderer Name für Kassenwart oder Schatzmeister. In jedem Fall also ist ein Zahlmeister jemand, der Geld verwaltet, das ihm nicht gehört.
Die Redewendung vom „Zahlmeister der Nation“ oder eben „Zahlmeister Europas“ meint aber offensichtlich etwas ganz anderes, nämlich, dass jemand mit seinem eigenen Geld für anderer Leute Aufwand aufkommen muss oder soll. Mit anderen Worten: Hier liegt eindeutig einen Fall dummes Geschwätzes vor, weil das dabei gebrauchte Wort gar nicht das bedeutet, was man es bedeuten lassen will. Es handelt sich freilich auch nicht um eine Umdeutung oder Bedeutungserweiterung, weil das Wort ja außer in der besagten Wendung weiter die alte Bedeutung behält und auch in der Wendung selbst nicht eigentlich eine klar angebbare neue Bedeutung bekommt, sondern bloß schlicht falsch gebraucht wird.
Der Sinn freilich ist klar: Ein Ressentiment wird angesprochen. Die anderen verprassen unser Geld! Zahlmeister assoziiert dabei wohl Weltmeister, und das ist (oder wäre) man in Deutschland ja immer gern. Und weil es beim Fußballspielen nur selten gelingt, es wirklich zu werden, revanchiert sich die Nation und legt sich selbst gern den Titel „Exportweltmeister“ bei. Das klingt nach Fleiß, Geschick und Erfindergeist. Andere, die keine Exportweltmeister sind, sind dann vermutlich faul, schlecht organisiert, inkompetent und ein bisschen dumm. Eben nicht so wie die Deutschen, die sich (auch,a ber nicht nur) in ökonomischen Dingen mit Vorliebe für vorbildlich halten.
Die Kehrseite der selbstverliehenen Goldmedaille ist allerdings, dass jedem Außenhandelsüberschuss notwendigerweise ein Außenhandelsdefizit entspricht, denn es ist schlechterdings unmöglich, dass alle Länder mehr exportieren als importieren. Von Vorbildlichkeit kann also keine Rede sein. Vielmehr ist Deutschlands auf Exportüberschüsse gegründeter Wohlstand die Bedingung für Exportdefizite anderswo und damit auch, vereinfacht gesagt, für weniger Wohlstand dort.
Der vermeintliche „Zahlmeister Europas“ wirtschaftet also traditionell in die eigene Tasche. Und wenn er nun derzeit einmal mehr damit konfrontiert wird, dass nicht nur er selbst, sondern auch andere Staaten Schuldenberge aufgehäuft haben, deren Abtragung in den Sternen steht, so wird er gut daran tun, das als sein ureigenstes Problem aufzufassen und engagiert zur Lösung beizutragen, den erstens sind es nicht zuletzt deutsche Banken, bei denen die Schulden bestehen, und zweitens können bankrotte Kunden auch keine deutschen Waren mehr kaufen. (Folgerichtig wird darum zum Beispiel zwar Griechenland nahegelegt, heftig zu „sparen“ — gemeint ist weniger neue Schulden zu machen —, aber zugleich wird darauf bestanden, dass die Verträge über den Kauf deutscher Rüstungsgüter selbstverständlich trotzdem einzuhalten sind …)
Deutschland ist also nichts weniger als ein „Zahlmeister“, sondern einfach eine Volkswirtschaft unter anderen, aber eben eine, die besonders viel relativen Reichtum produziert, der selbstverständlich mit relativer Armut anderswo erkauft ist.
Für gewöhnlich verlagert man ja die Kosten des eigenen Wohlstandes ins ferne Ausland. Diesmal freilich hat man sich verrechnet und verspekuliert, die „Krise“ ist allzu nahe gekommen. Immerhin zwar nicht so nahe, dass in der eigenen Gesellschaft die vom Verteilungsunrecht erzeugten Gegensätze aufbrächen (wobei die Rede vom kollektiven „Zahlmeister“ die soziale Gegensätzlichkeit ja gerade verschleiern will), aber doch so nahe, dass man wohl tief ins Säckel greifen wird müssen, um wieder einigermaßen Ruhe ins Geschäftsleben zu bringen.
Die „Nicht-Leisungsträger“ im eigenen Land kann man auf Hartz IV setzen, aber Griechenland und andere Schuldenschurken bilden sich ja immer noch ein, sie seien „souverän“. Da wird dann letztlich doch nichts anderes helfen, als erheblich umzuverteilen: In diesem Fall die Schulden, die die einen machen müssen, um die der anderen zu finanzieren … Und damit dann Zahlmeister adé.

Montag, 12. September 2011

Mitdenkender Dünger

„Das ist mitdenkender Dünger, wie wir ihn uns wünschen“, sagte die Körnchen streuende Gärtnerin auf der Mattscheibe, und ich dachte, ich falle aus dem Fernsehsessel. Was sie meinte, war wohl, dass das Düngemittel auf Grund seiner Ummantelung mit Kunstharz nur bei steigender Temperatur Nährstoffe an die Pflanze abgibt und damit an deren Bedarf angepasst ist, der umso höher zu sein pflegt, je wärmer es ist. Und diesen schlichten Vorgang nennt sie „mitdenkend“! Ich finde es immer wieder erstaunlich, was für eine geringe Meinung viele Menschen vom Denken haben. Anscheinend halten sie Intelligenz für etwas im Grunde Mechanisches, das vor sich geht wie Steinschlag oder ein Wasserrohrbruch.
Dass viele glauben, dass das Gehirn denke (und nicht der Mensch), war mir ja bekannt, dass ihrem Weltbild nun aber auch schon Dünger denkt, war allerdings mir neu. Es erstaunt mich freilich nicht besonders, leben wir doch im Zeitalter allerorten angepriesener „intelligenter Technik“. Lediglich, dass es sich beim vermeintlichen Mitdenker um Kunstdünger handeln soll, überrascht mich dann doch ein wenig, denn ich hätte erwartet, dass man eher Dung für denkend hält, etwa die guten alten Kuhfladen, haben doch gar nicht so wenige Leute, wie man so sagt, bloß Scheiße im Kopf.

Samstag, 10. September 2011

Die letzte Nacht der weißen Rasse

Wer einen Eindruck von der physischen und psychischen Minderwertigkeit der weißen Rasse bekommen möchte, sollte sich eine Fernsehübertragung der „Last Night of the Proms“ ansehen, der berüchtigten Schlussveranstaltung der Londoner Sommerkonzerte. Bekanntlich geht es bei diesem traditionsreichen Ereignis keineswegs um die dabei vorgeführte höchst populäre Musik, sondern diese dient ausschließlich als Stimulans der frenetischen Selbstfeier des Publikums. Und was für ein Publikum das ist! Großbritannien ist eigentlich nicht weniger ein Einwanderungsland als zum Beispiel Frankreich; geht man durch die Straßen der Städte, sieht man Menschen, deren Aussehen auf eine Herkunft aus vier bis fünf Kontinenten verweist. In der bis zum Bersten gefüllten Royal Albert Hall jedoch sieht man fast nur blassweiße Haut und die typischen kelto-germanischen Fressen der Einwanderer vor 1800. (Ich selbst habe in diesem Jahr nur ein einziges vermutlich asiatisch aussehendes Pärchen entdeckt, vielleicht sind mir andere, hier von mir für untypisch erklärte Teilnehmer entgangen. Im Übrigen bestätigen Ausnahmen die Regel.)
Aber darf man da — oder überhaupt — von Rasse sprechen? Von der weißen wohl schon, denn bei der handelt es sich um ein Selbstverständnis. Weiß zu sein ist keine Frage der Pigmentierung, der Gesichtszüge oder des Körperbaus, es ist ein Lebensstil und eine Weltsicht. Anders gesagt, es handelt sich um die körperliche Manifestation des Rassismusses selbst. Nicht irgendeiner rassistischen Ideologie oder irgendeines rassistischen Ressentiments — denn derlei kann sich bei Menschen nahezu jeder beliebigen „ethnischen Identität“ finden —, sondern jenes Jahrhunderte alten spezifisch westlichen Rassismusses, der auch unter den Namen Imperialismus und Kolonialismus bekannt ist.
Die abendländischen Herrenmenschen zogen bekanntlich aus, um sich die Erde untertan und deren nichtabendländische Bewohner zu Menschen zweiter und dritter Klasse zu machen. Und keine Nation perfektionierte die Ausbeutung der als minderwertig definierten „Fremdrassigen“, den millionenfachen Mord, und die rücksichtslose Ressourcenverwertung so sehr wie die großbritische. Selbst im Inneren von ethnischem Verschnitt (Kelten, Angeln, Sachsen, Normannen usw.), nationalstaatlichen Repression (der Waliser, Schotten, Iren) und gewaltigen Klassengegensätzen geprägt, entwickelte Großbritannien Techniken der Unterwerfung und Vernutzung, die erst von den totalitären Regimes des 20. Jahrhunderts qualitativ überboten wurden. Quantitativ freilich steht das britische Reich den Vernichtungsorgien von Hitler, Stalin, Mao in nichts nach, im Gegenteil, auch wenn das, weil der Terror sich über 400 Jahre verteilte und nicht in einem einzigen Großereignis (Endlösung, Kulturrevolution) kulminierte, nicht so ins Auge springt und darum im öffentlichen Bewusstsein nicht vorkommt.
Nun könnte man meinen, mit dem Ende des erdumspannenden Reiches sei es auch mit dem imperialistischen Selbstbewusstsein und volkstümlicher Selbstbejubelung vorbei, aber weit gefehlt, der kulturelle Ausdruck des jingoism blüht nach wie vor, eben nicht zuletzt in besagter „Last Night of the Proms“. Ein bisschen Imperium ist ja auch geblieben, man hält noch immer einen Teil Irlands besetzt, ferner eine bisschen Spanien (Gibraltar) sowie mehrere Inseln in der Karibik und dem Indischen Ozean, man unterhält „Souveräne Militärbasen“ auf Zypern (weshalb die Insel nicht, wie die meisten, zwei-, sondern in Wahrheit dreigeteilt ist), man verfügt über Atomwaffen und einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen und man führt, Seit an Seit mit den USA, an mehreren Orten der Welt gleichzeitig Kriege. Doch auch, wenn das alles nicht der Fall wäre, die Zelebration der eigenen nationalen Größe ist so sehr Teil des britischen Selbstverständnisses, dass die Royal Albert Hall wohl auch dann mit lauter brüllenden Blässlingen gefüllt wäre, wenn von England nichts mehr übrig wäre als brennende Vorstädte. -- Die beliebten Krawalle alldort sind, nebenbei bemerkt, sozusagen das proletarisch-multiethnische Gegenstück zur kleinbürgerlichen und „weißen“ event der „Last Night“.
Man lese einmal in Ruhe die Texte der beliebtesten Gesangsstücke nach: „Land of Hope and Glory“, „Rule Britannia“, „Jerusalem“. Mit den aggressiven Pathos dieser Dichtungen kann die „Wacht am Rhein“ (die meines Wissens nirgendwo in Deutschland noch öffentlich gesungen wird) nicht mithalten, die erste Strophe des „Deutschlandliedes“ sowieso nicht. Und dann die Musik dazu: Das Horst-Wessel-Lied ist läppisches Geschunkel gegen diese britischen Hymnen! Die musikalische Sogwirkung ist enorm, die verspürt sogar ein notorisch Anglophober wie ich. Bei vielen Zuhörern scheint zudem ein faschistischer Körperreflex einzusetzen, denn wie die Fernsehbilder zeigen, müssen sie wohl unwillkürlich den rechten Arm heben, zur Kaschierung gern mit Bierdose oder Fähnchen in der Hand.
Überhaupt: diese exuberante Fahnenschwenkerei! Ist sie nicht Widerlegung meiner These von simulierter Reinrassigkeit und borniertem Nationalismus? Immerhin werden doch nicht nur Union Jacks, englische, schottische, walisisches, kornische usw. Fähnchen herumgewirbelt, sondern auch deutsche, hamburgische, italienische, olympische usw. usf. (Im Vorjahr sah ich auch die Fahne einer Fluglinie und eine Aufblasbanane als Winkelement ...) Aber nein, ich lasse das ganz und gar nicht als berechtigten Einwand zu. Zum einen ist Begeisterung, auch institutionalisierte, fast immer ansteckend, und dass beispielsweise Deutsche sich wie Engländer aufführen (wollen), macht die Engländer ja nicht weniger englisch. Zum anderen ist dem imperialistischen Chauvinismus ja gerade sein Transnationalismus eingeschrieben, er bedarf notwendigerweise der Vielfalt der Nationalitäten, um die Hegemonie der eigen Nation zu praktizieren oder wenigstens zu phantasieren. Doch im Traum fiele es den Veranstaltern nicht ein, die als europäische Hymne geltende beethovensche „Ode an die Freude“ gleichberechtigt neben ihr einheimisches Zeugs zu stellen, und weder die Flaggen der EU noch der UN habe ich irgendwo in dem reichhaltigen Fahnenmeer ausnehmen können.
Doch zurück zur Minderwertigkeit der weißen Rasse. Es mag eine Frage des persönlichen Geschmacks sein, aber ich kann mir kaum etwas Widerlicheres vorstellen als die euphorisch angeschwollenen Gesichter des Publikums bei der „Last Night of the Proms“. Dieser Mittelklassepöbel verkörpert für mich die völlige Geschmacklosigkeit und den vulgären Fanatismus der großbritischen „Nation“. Andere mögen die Engländer bloß liebenswert schrullig finden, als wäre deren bluttriefende Kolonialgeschichte bloß ein komisch-sentimentaler Roman à la Dickens. Mir hingegen ist der Wahnsinn, den die grundlose Selbstverherrlichung dieses Massengesinges artikuliert, nur offensichtlich, und ein Detail gegen Ende hin zeigt mir, dass die ganze selbstverordnete Ausgelassenheit nur die Kehrseite unerbittlicher Disziplin ist.
Wenn nämlich der Chor im Flüsterton „God Save the Queen“ anstimmt, dann ist das Fahnenmeer plötzlich ausgetrocknet und nur ein einziges Tuch wird im Parkett geschwenkt, einsam, pathetisch, grandios: die Standarte der Königin. Erst bei der zweiten Strophe bricht dann das Jubilatorische wieder durch. Welches andere Publikum in einem anderen Land könnte, nachdem man es bereits mehrfach zum Kochen gebracht hatte, wieder dermaßen heruntergefahren und zu strengem Wohlverhalten gebracht werden? Hier hat man Britannien in Reinkultur: ordninäres Toben, das jederzeit in zentrierte Untergeordnetheit umschlagen kann. Mit Personal dieser Art konnte man tatsächlich ein Weltreich organisieren. Der Unterschied zu dem, was Faschisten und Bolschewisten auf die Beine stellen konnte ist einfach der, dass hier die Begeisterung in jedem Falle echt ist. Das aber ist schlimmer. Und auch wenn das Vereinigte Königreich zum Glück derzeit weltpolitisch ohne allzu große Bedeutung ist, ist es doch ekelerregend und erschrecken, bei Gelegenheiten wie diesen in den Abgrund der großbritischen Seele zu blicken. Was äußerlich als musikalischer Kindergeburtstag für Erwachsene aufgezogen ist, ist in Wahrheit die symbolische Sparflamme des menschenverachtenden Anglo-Imperalismus. Solche Veranstaltungen machen in ungebrochener Kontinuität klar, warum bei den Briten Faschismus und Nationalsozialismus keine Chance hatten: Was diese Italienern und Deutschen an Größenphntasien erfolgreich andienten, war bloß Ersatz, das stimmungsvolle Original war immer schon in Großbritannien zu Hause.