Donnerstag, 26. Dezember 2013

Vom Umtausch ausgeschlossen

Das erste Weihnachtsgeschenk war bekanntlich das Neugeborene in der Krippe im Stall zu Bethlehem. Erst später  gab es dann Weihrauch, Myrrhe und Gold. Und erst viel, viel später Anziehsachen, Unterhaltungselektronik und irgendwelche Gutscheine.
Das allererste Weihnachtsgeschenk war aber auch gleich das allergrößte: der Mensch gewordene Gott. Nicht wie die antiken Halbgötter ein bisschen Mensch und ein bisschen Gott, sondern ganz Gott und ganz Mensch. Ziemlich unwahrscheinlich und, nach dem Maß menschlichen Verstandes, wohl auch unmöglich, für die aber, die es glauben, trotzdem wahr.
Was für eine ungeheure Gabe: Gott wird Mensch, liefert sich den Menschen aus und kommt, man weiß ja wie die Geschichte weitergeht, nach einigem Hin und Her durch die Menschen zu Tode. Doch was mit Weihnachten beginnt, endet nicht am Karfreitag, sondern erfüllt sich an Ostern. Der Menschensohn, der Gottes Sohn ist, steht von den Toten auf und verheißt allen, die an ihn glauben, ewiges Leben.
Mit solch einem Geschenk können viele nichts anfangen. Sie möchten es nicht haben. Einen Gott? Danke, ich habe schon einen (Mammon, Ego, Cthulhu), das reicht mir. Einen Erlöser? Ich denke, ich warte auf den nächsten, mal sehen, was der drauf hat. Jungfrauengeburt, Kreuzestod, Auferstehung von denToten? Passt nicht zu meinem Lebensstil. Sündenvergebung? Ich bin doch eh ganz okay. Ewiges Leben? Erst einmal sterben, dann sehen wir weiter, aber vorerst lebe ich ja noch.
Weihnachten heißt: Gott schenkt sich den Menschen. Man könnte meinen, wer die Annahme verweigere, schade nur sich selbst. Aber so, wie man Gott nur behalten kann, wenn man ihn weitergibt, so nimmt, wer Gott nicht akzeptiert, ihn auch anderen weg. Wir hängen alle, im Guten wie im Bösen, miteinander zusammen. Wird Gott nicht weitergeschenkt, gibt es ihn nicht. Denn sein Dasein verwirklicht sich im Dasein der Menschen für einander. Gott, der Sinn des Ganzen und der Ursprung alles Guten, gibt sich, schenkt sich her, als unverdiente Gabe, zu der keine Gegengabe möglich ist — was wäre denn angemessen? —, die aber Weitergabe verlangt. Gott hat nichts davon, wenn an ihn geglaubt wird, aber die Menschen verlieren das Wesentliche, wenn sie einander nicht ein Leben mit Gott ermöglichen.
Wer Gott, aus welchen Gründen auch immer, nie bekommen hat, kann nichts dafür. Wenn er aber benachrichtigt wurde und sich nicht weiter darum gekümmert hat, ist er selbst schuld. Wem Gott schon etwas verschmutzt oder beschädigt zugestellt wurde, ist noch am ehesten entschuldigt, wenn er ihn nicht haben will.
Viele aber haben das Geschenk sehr wohl erhalten, oft in durchaus passablem Zustand, aber es nie wertgeschätzt und möchten es am liebsten umtauschen. Gegen irgendwelche bequemen Überzeugungen oder eine noch bequemere Überzeugungslosigkeit. Sie fühlen sich gestört, das Geschenk ist ihnen im Weg, es stellt Forderungen, das ist lästig. Darum erklären sie es für wertlos. Sie können gut und gern darauf verzichten, meinen sie. Nicht sie hätten sich gegenüber dem Geschenk zu rechtfertigen, sagen sie, sondern das Geschenk gefälligst vor ihnen. Schließlich haben sie es nicht bestellt.
Aber Gott ist vom Umtausch ausgeschlossen. Er bleibt. So zu tun, als gäbe es ihn nicht, schafft ihn nicht ab. Er ist Missachtung gewohnt. Er hat schon Schlimmeres mitgemacht als den gewöhnlichen Alltagsatheismus der Leute. Keine Verleugnung, keine Verdrängung, keine Verfolgung konnte ihn loswerden. Dass man schlecht von ihm spricht oder auf falsche Weise gut, ändert nichts an seinem Wert. Der ist unendlich und unbegreiflich.
Gott hat sich ein für alle Mal den Menschen geschenkt, daran kann nichts etwas ändern. Nur der einzelne Mensch kann etwas verändern, nämlich sein Leben und damit jedes andere Leben. Er kann die Gabe annehmen und weitergeben oder darauf verzichten. Dann aber hat er gar nichts, jedenfalls nichts, was bleibt, nichts, was standhält in einer Welt voller Schwäche und Bosheit, nichts, was dem Nichts widersteht.

Dienstag, 24. Dezember 2013

Alan Turing: „Gnade“ statt Recht

Das ging ja schnell. Schon ein einundsechzigeinhalb Jahre, nachdem Alan Turing wegen „gross indecency“ (schwerer Unzucht) mit einem Mann im Namen der großbritisch-nordirischen „Königin“ verurteilt worden war, unterzeichnete dieselbe Damen am Heilgen Abend 2013 einen Gnadenakt. In den Medien wird das als „Rehabilitierung“ Turings ausgerufen. Weit gefehlt! Begnadigung bedeutet Straferlass. Aber da sich Turing bereits 1954, zwei Jahre nach seiner Verurteilung, umbrachte, kann man ihm heute auch keine Strafe mehr erlassen. Rehabilitierung bestünde in einer Aufhebung des Urteils. Davon kann keine Rede sein. Das antihomosexuelle Strafrecht, das in England und Wales bis 1967, in Schottland bis 1980 in Kraft war, gilt nämlich heute noch als damals rechtens. Die ungefähr 50.000 Verurteilungen nach jenen Bestimmungen sind nach wie vor aufrecht. Also auch das Urteil über Turing. Dieser hatte sich übrigens schuldig bekannt und, um dem Gefängnis zu entgehen, eingewilligt, sich psychiatrischer Behandlung mit chemischer Keule zu unterziehen. Folge solcher „Therapie“ soll eine Depression gewesen sein, deren Folge wiederum vermutlich der Selbstmord war.
Die regierenden Heterosexuellen wollen mit der postumen, also rein symbolischen Amnestie für Turing (und sonst übrigens keinen der 50.000 Verurteilten) ihr Image ein bisschen aufpolieren.
Pinkwashing Britain sozusagen. Und die medialen Repräsentierer der Lesbenundschwulen tun den Herrschenden den Gefallen und plappern wahrheitswidrig von „Rehabilitierung“. Wieder einmal sind alle zufrieden, obwohl niemand sein Recht bekommen hat.

Samstag, 14. Dezember 2013

Wessen Sieg?

Aus queer.de: „Edie Windsor hat es im Alter von 84 Jahren erstmals auf die "Person of the Year"-Liste geschafft: Die New Yorkerin hatte im Sommer ihren größten Erfolg erzielt, als der oberste Gerichtshof sie zur Siegerin im Fall 'United States versus Windsor' erklärte. Sie hatte geklagt, weil sie nach dem Tod ihrer Ehefrau 363.000 Dollar Erbschaftssteuern an Washington abführen sollte – als Heterosexuelle hätte sie aber nichts zahlen müssen. Die Höchstrichter entschieden, dass es sich bei dieser Ungleichbehandlung um eine verfassungswidrige Diskriminierung handelte und damit der LGBT-Bewegung in den USA einer ihrer größten Siege beschert."
Wieso es eigentlich ein Sieg (noch dazu einer der größten) der LGBT-Bewegung in den USA ist, wenn eine stinkreiche Greisin sich über eine Viertelmillion Euro an Steuern erspart, verstehe ich nicht. Besteht denn die ominöse „community" nur aus Superreichen? Warum um Himmels willen sollten Schwule (oder Lesben), die nichts oder nicht viel zu vererben haben, mit einem solchen „Sieg" des Eigennutzes über den Fiskus solidarisieren?
Längst schien die Verbürgerlichung der Homo-Bewegung gar nicht mehr zu überbieten, weil das ganze Gleichstellungs-Getue sich ja immer wieder bloß als Feilschen um wirtschaftliche Vorteile für Mittelklasse-Lesbenundschwule herausgestellt hat. Doch dass nun gar eine Millionärin, die von ihrem unverdienten Vermögen (die Familie ihrer Frau hatte es mit Essiggurken erwirtschaftet) keinen Cent an die Gesellschaft abgeben will, von interessierten Kreisen zur Heldin erklärt wird, sprengt dann doch noch einmal den Rahmen des Obszönen.

Montag, 25. November 2013

Vermischte Meldungen (12)

Es wird gemeldet: „Ehebrecher sollen wieder gesteinigt werden. Das Justizministerium in Kabul hat einen entsprechenden Gesetzentwurf ausgearbeitet. Menschenrechtler sind entsetzt.“ Weil Ehebruch ein Menschenrecht ist?

                                                              * * *

Es wird gemeldet: „Die britische Armee hat eine neue Richtlinie: Soldatinnen dürfen nun kürzere Schritte machen als ihre männlichen Kameraden.“ Es ging ja auch ausdrücklich immer bloß um Gleichstellung, nicht um Gleichschritt. (Wie das jetzt bei einer Parade wohl aussieht, wenn Männer und Frauen zwar zusammen, aber mit geschlechtsspezifischem Schritt marschieren …)

                                                             * * *

Es wird gemeldet: „90 Prozent der Ägypterinnen sind beschnitten. Erst langsam lernen die Frauen, dass die Genitalverstümmelung eine Menschenrechtsverletzung ist.“ Das muss man erst lernen? Von wem eigentlich?

Freitag, 22. November 2013

Aufgeschnappt (bei einem Anglikaner)

Unter all den schwierigen Menschen bei dir zu Hause oder am Arbeitsplatz gibt es nur einen einzigen, den du wirklich ändern kannst. Bei dem musst du ansetzen.

Es gibt ein Verlangen in uns, das in dieser Welt nie gestillt werden kann. Auf dieser Erde bleibt immer ein Rest von Enttäuschung.

Wenn ich in mir eine Sehnsucht spüre, die durch keine Erfahrung der Welt gestillt werden kann, ist die wahrscheinlichste Erklärung dafür, dass ich für eine andere Welt geschaffen wurde.

Der eine Grundsatz der Hölle lautet: Ich gehöre mir selbst.

Wenn Liebe ein Segen und nicht eine Qual sein soll, muss sie sich an den einzigen Geliebten halten, der nie vergehen wird.

Lieben heißt verletzlich sein. Liebe irgendetwas, und es wird dir bestimmt zu Herzen gehen oder gar das Herz brechen.

Lieben heißt verletzlich sein. Außerhalb des Himmels gibt es nur einen einzigen Ort, wo man vor allen Gefahren und Unruhen der Liebe geschützt ist — die Hölle.

Die Gegenwart Gottes können wir zwar missachten, aber nirgends können wir ihr entgehen.

Das Schlimmste, was wir Gott angetan haben, ist, ihn in Ruhe zu lassen.

An Gottes Dasein glauben heißt: ich stehe nicht mehr vor einem Argument, das meine Zustimmung verlangt, sondern vor einer Person, die mein Vertrauen fordert.

Man muss von vornherein mit der Vorstellung brechen, Gott wolle uns einem Examen unterwerfen und wir könnten gute Noten erhalten.

Es kommt nicht darauf an, wie wir über Gott denken. Was Gott über uns denkt, ist unendlich viel wichtiger.

Ich glaube an das Christentum, so wie ich glaube, dass die Sonne aufgegangen ist, nicht nur weil ich es sehe, sondern weil ich dadurch alles andere sehen kann.

Das ist einer der Gründe, weshalb ich an das Christentum glaube: Es ist eine Religion, die man sich nicht hätte ausdenken können.

Würde uns das Christentum ein Weltbild vermitteln, das genau unseren Erwartungen entspricht, so würde ich das Christentum für eine menschliche Erfindung halten.

Der christliche Glaube spricht überhaupt nicht von einer menschlichen Suche nach Gott, sondern von dem, was Gott für den Menschen getan hat.

Es ist doch nicht die Frage, was wir mit Christus anfangen sollen, sondern es geht einzig darum, was er mit uns anfangen möchte.

Wenn Christentum nichts anderes bedeutete als noch ein bisschen guter Ratschläge mehr, dann wäre es von unerheblicher Bedeutung.

Das zentrale, von den Christen bezeugte Wunder ist die Inkarnation: Gott ist Mensch geworden.

Der Kernpunkt des christlichen Glaubens besteht darin, dass uns der Tod Christi irgendwie mit Gott versöhnt und die Möglichkeit zu einem Neubeginn gegeben hat.

Als Christus starb, starb er für jeden einzelnen von uns, als ob jeder der einzige Mensch auf dieser Welt wäre.

Ein Geschöpf, das die Erlösung verdiente, bedürfte keiner Erlösung.

Wer wahrhaft mit Gott verbunden ist, der wird es auch mit seinen Mitmenschen sein.

Es gibt keine gewöhnlichen Menschen. Es sind Unsterbliche, mit denen wir scherzen, arbeiten, verheiratet sind, die wir kurz abfertigen und ausbeuten.

Wir sollen uns nicht lange fragen, ob wir unseren Nächsten lieben, sondern wir sollen handeln, als ob wir ihn lieben.

Freundschaft ist das Werkzeug, mit dem Gott jedem die Schönheiten der anderen offenbart.

Freundschaft beginnt, wenn einer zu anderen sagt: Was denn, du auch? Ich dachte, ich sei der einzige …

Freundschaft ist überflüssig, wie Philosophie, wie Kunst … Sie hat keinen Wert fürs Überleben, sie gibt dem Überleben Wert.

Nicht, was man nicht teilt, gehört einem wirklich.

War die Welt denn wirklich so gut zu dir, dass du sie mit Bedauern verlässt? Es liegt mehr vor uns als hinter uns.

Unser Vater erfreut uns mit manch angenehmem Gasthaus, aber er will uns nicht ermutigen, es fälschlich für unser Zuhause zu halten.

Wenn wir einmal das Angesicht Gottes sehen, werden wir erkennen, dass wir es schon immer gekannt haben.

Bis zur Auferstehung kommt für uns noch immer das Kreuz vor der Krone, und morgen ist Montag.             


C. S. Lewis (alle Zitate sind ohne Prüfung der Quellen dem Internet entnommen)

Freitag, 8. November 2013

Auslöschung von Homosexualität durch Asylrecht

Nein, es ist keine gute Nachricht! Dass der Gerichtshof der Europäischen Union entschieden hat, dass Menschen, die in ihren Herkunftsländern von Strafbestimmungen gegen homosexuelle Handlungen bedroht sind, in der EU eventuell Anspruch auf Asyl haben, ist im Gegenteil eine verheerende Botschaft, denn der Asyl-Anspruch wird ausdrücklich daran gebunden, dass die betreffenden Personen Homosexuelle sind.
Damit wird ausdrücklich die identitätsterroristische Doktrin bestätigt, wonach Homosexualität ausschließlich im Homosexuellsein von Homosexuellen besteht.
Zu den Details. Der Gerichtshof dekretiert, „dass feststeht, dass die sexuelle Ausrichtung einer Person ein Merkmal darstellt, das so bedeutsam für ihre Identität ist, dass sie nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten“ und „dass das Bestehen strafrechtlicher Bestimmungen, die spezifisch Homosexuelle betreffen, die Feststellung erlaubt, dass diese Personen eine abgegrenzte Gruppe bilden, die von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird“.
Es gibt aber nirgendwo auf der Welt Strafbestimmungen, die spezifisch Homosexuelle betreffen. (Schon aus dem einfach Grund, weil niemand mit Sicherheit sagen kann, was ein Homosexueller ist.) Von Strafe bedroht sind und bestraft werden ausschließlich homosexuelle Handlungen. Solche freilich, und das ignoriert, ja leugnet das Gericht in seiner identitätspolitischen Verblendung, können sehr wohl auch von Nichthomosexuellen vollzogen werden.
Homosexualität als solche hingegen, nämlich die bei jedem Menschen in unterschiedlichem Maße und unterschiedlicher Ausprägung bestehende Möglichkeit, eine Person desselben Geschlechtes zu begehren und mit ihr lustvolle Handlungen auszuführen, wird damit ausgelöscht. Durchgesetzt wird einmal mehr das Dogma, wonach homosexuelle Handlungen „eigentlich“ niemals von Nichthomosexuelle begangen werden und Nichthomosexuelle „eigentlich“ niemals Personen des eigenen Geschlechtes begehren. Nur Homosexuelle sind homosexuell, und wer nicht homosexuell ist, hat mit Homosexualität nichts zu schaffen. Ein solches Konzept dient offensichtlich zu nichts anderem, als Heterosexualität von jeder Beeinträchtigung frei zu halten, ihre Hegemonie aufrechtzuerhalten und die Rest-Homosexualität auf eine kleine, überschaubare und leicht zu kontrollierende Minderheit zu beschränken.
Dass es Strafrechtsordnungen gibt, die homosexuelle Handlungen unter Strafe stellen, wird übrigens vom EuGH keineswegs als illegitim betrachtet. Wie das Gericht feststellt, kann „das bloße Bestehen von Rechtsvorschriften, nach denen homosexuelle Handlungen unter Strafe gestellt sind, nicht als so schwerwiegende Beeinträchtigung angesehen werden, dass sie als Verfolgungshandlung angesehen werden könnte“. Niemand bekommt also Asyl, bloß weil er (oder sie) wegen homosexueller Handlungen von den Behörden seines Herkunftslandes bedroht oder verfolgt wird. Dazu muss er (oder sie) schon ein Homosexueller (oder eine Homosexuelle) sein. Nur wenn Homosexualität nicht einfach ein Begehren oder ein lustvolles Tun ist, sondern ein Persönlichkeitsmerkmal, das zudem als Gruppenzugehörigkeit verstanden wird, kann Asyl gewährt werden. Einmal mehr werden damit Homosexuelle, wer immer das sein mag, als besondere Spezies aus der allgemeinen Menschheit ausgesondert und diese als rein heterosexuell imaginiert.
Dass nun viele Lesbenundschwule über die Gerichtsentscheidung jubeln, kann nicht verwundert. Die identitätsterroristische Indoktrination hat sie längst so vernebelt, dass sie echtes emanzipatorisches Interesse (Recht auf Homosexualität für alle und Bestehen von Rechten unabhängig von sexuelle Orientierung, Präferenz oder Laune) von bloßer Klientelpolitik für eine imaginäre Gruppe „Die Homosexuellen“ nicht mehr unterscheiden können
Selbstverständlich kann man argumentieren, dass die asylrechtliche Entscheidung des Gerichtshof der Europäischen Union helfen kann, Menschenleben zu retten, und insofern gut ist. Dem stimme ich sogar zu. Aber das ist kein Grund, den Preis, der dafür zu bezahlen ist, und seine gesellschaftlichen Folgekosten zu übersehen. Es ist ein weiterer Schritt in die falsche Richtung, ein widerlicher Triumph der Identitätspolitik, die Menschen von einander abgrenzt und gegen einander ausspielt. Diese Entscheidung muss revidiert werden! Nicht erst Homosexuellsein (und dafür verfolgt werden) ist als Asylgrund zu akzeptieren, sondern das bereits bloße Bestehen antihomosexueller Strafbestimmungen muss ausreichen! Asyl für alle, die es suchen! Für ein Europa ohne Grenzen, das seiner Verantwortung in einer Welt der Ausbeutung und Unterdrückung endlich gerecht wird!

Dienstag, 29. Oktober 2013

Aufgeschnappt (bei einer Romanfigur)

Menschen sind von Natur phlegmatisch und unaufmerksam, und ohne Achtung sind sie auch. Wenn man einmal Gelegenheit sieht, sie zum Aufmerken aufzurufen, soll man sie ergreifen. (...) Und den Leuten ein klein bißchen Angt zu machen, das hat auch noch nie geschadet.

Der letzte Rittmeister (von Werner Bergengruen)

Mittwoch, 9. Oktober 2013

Neuzugang in der Gehenna

Er wird mir fehlen. Männer seines Formats sind selten geworden in unserer Zeit. Ovadia Yosef, der am 7. Oktober 93-jährig verstarb, war einer der großen intellektuellen Verbrecher des 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts. Ein gewaltiger Hassprediger vor dem Herrn. In verschieden Oberrabiner-Funktionen und als geistliches Oberhaupt der an fast allen israelischen Regierungen der letzten zwei Jahrzehnte beteiligten ultra-orthodoxen Schas-Partei, gab er einem nicht unbedeutenden Teil des sephardischen Judentums Stimme, Profil und Richtung. Eine halbe Million Menschen soll ihn zu Grabe getragen haben.
Hier ein paar Kostproben aus seinem reichen theologischen Werk. Die von den Nazis und ihren Helfern als Juden und Jüdinnen ermordeten Menschen bezeichnete er als „wiedergeborene Sünder“: „Die sechs Millionen Holocaust-Opfer waren Reinkarnationen der Seelen von Sündern, Leute, die gegen das Gesetz verstoßen hatten und alle möglichen Dinge taten, die nicht getan werden dürfen. Sie wurden wiedergeboren, um zu büßen.“
Auch für den Hurricane Katrina mit seinen Tausenden von Opfern hatte Ovadia Yosef eine passende Erklärung: In New Orleans sei die Torah zu wenig studiert worden. („Black people reside there. Blacks will study the Torah? [God said], Let’s bring a tsunami and drown them … Hundreds of thousands remained homeless. Tens of thousands have been killed. All of this because they have no God …“) Als zusätzliche Erklärung gab er an, Katrina sei die Strafe Gottes gewesen für die US-amerikanische Unterstützung des israelischen Rückzugs aus dem Gaza-Streifen.
Gegenüber den Palästinensern nahm Ovadia Yosef eine klare Haltung ein. Er wünschte nicht nur allen, die Israel hassen, die Pest an den Hals, die Arabern als solche wollte er bei Gelegenheit ausgerottet sehen. Ebenso einige nichtarabische Muslime: „Möge Gott sie zerstören und vom Angesicht der Erde tilgen.“
Generell hatte Ovadia Yosef ein fest umrissenes Bild des Verhältnisses von Juden und Nichtjuden. „Die alleinige Bestimmung von Heiden [Nichtjuden] ist es, Juden zu dienen … Wozu sind Heiden gut? Sie werden arbeiten, sie werden pflügen, sie werden die Ernte einbringen. Wir werden dasitzen wie Effendis und speisen. Dazu wurden die Heiden erschaffen.“
Aber auch wenn im idealen Israel Ovadia Yosefs die Heiden gut behandelt werden würden — wie zum Beispiel Esel, die ja, so der Rabbiner, auch nicht zu früh sterben dürfen, wenn sie Nutzen bringen sollen —, hätte auch das Grenzen. Mit autoritativen Verlautbarungen erlaubte der Schriftgelehrte zwar unter anderem, dass Frauen Hosen tragen dürften, nicht aber dass jüdische Ärzte am Sabbat Nichtjuden behandeln; womit er übrigens in bester halachischer Tradition stand.

Dass Ovadia Yosef Homosexualität als "krank" und "pervers" bezeichnet und entschieden verwarf, braucht kaum erwähnt zu werden. Auch damit hielt er sich ja bloß an jahrtausendealte jüdische Überlieferung.
Zweifellos lehnen viele Juden und Jüdinnen Ovadia Yosefs theologische und politische Positionen mehr oder minder entschieden ab. Manche widersprachen ihm (zuweilen er sich auch selbst oder wurde „falsch zitiert“). Aber Ovadia Yosef war keineswegs eine isolierte und einflusslose Gestalt. Im Gegenteil, über Jahrzehnte galt er als die geistliche Autorität des sephardischen Judentums schlechthin, seine Bücher sind weit verbreitet, seine Auslegungen der verbindlichen Texte fanden Beachtung und wurden vielfach selbst verbindlich, seine die Zahl seiner Anhängerschaft ist Legion. Nicht, dass alle seiner Bewunderer einen lupenreinen ultra-orthodoxen Lebensstil pflegen, vielen genügt es wohl schon, sich an seiner kompromisslosen Haltung und seinen extremen Äußerungen zu erfreuen.
Ohne schlechtes Gewissen hassen zu dürfen, ist immer noch das erfolgreichste Angebot, dass die Bösewichter dieser Welt den Menschen machen können. Die Erlaubnis, im Namen der eigenen Religion, Ideologie, Partei, Klasse, Rasse usw. alle anderen bedenkenlos zu verachten, nach Möglichkeit wie Dreck zu behandeln oder bei Bedarf umzubringen, ist für viele verführerisch. Wer hört es also nicht gern, dass er einem auserwählten Herrenvolk angehört, das immer im Recht ist und dem sich alle anderen Völker (hebräisch gojim, auch als Heiden übersetzt) unterwerfen müssen?
Ovadia Yosef hat unzählige Menschen zum Bösen verführt. Er ist tot. Sein Gedankengut lebt. Möge er nicht in Frieden ruhen.

Dienstag, 1. Oktober 2013

Rechtsruck, welcher Rechtsruck?

Viele deutsche Medien wissen von einem Rechtsruck bei der Wahl zum österreichischen Nationalrat zu berichten. „Diese sogenannten Freiheitlichen haben 3,9 Prozentpunkte zugelegt. Und das, obwohl zwei kleine rechte Gruppierungen zusammen auch noch einmal zehn Prozent einsammeln konnten.“ So wie hier die Süddeutsche Zeitung kann man auch zählen. Aber das ist ein eine Milchmädchenrechnung mit Äpfeln und Birnen.
Warum bloß sind Journalistinnen und Journalisten so oft zu faul (oder zu ignorant), um sich die relevanten Zahlen genauer anzuschauen? Das ergäbe nämlich: Bei der Nationalratswahl 2008 konnten die beiden „post-haiderianischen“ Zwillingsparteien FPÖ und BZÖ zusammen 1.379.962 Stimmen auf sich vereinigen. Jetzt, bei der Wahl 2013, kommen sie zusammen auf 1.128.059 Stimmen. Das sind 251.903 Stimmen weniger! Die FPÖ konnte also nicht einmal die Verluste des BZÖ ausgleichen (übrigens auch in Prozent- und Mandatszahlen nicht). Und selbst wenn man noch die für das Team Stronach angegebenen Stimmen dazuzählt (wie es die Autoren in der Süddeutschen vorschlagen), kommt man „nur“ auf 1.396.738 Stimmen, also lediglich 16.776 mehr, als 2008 auf FPÖ und BZÖ entfielen. Das sind gerade 0,36 Prozent der gültig abgegeben Stimmen.
Ist das ein Rechtsruck? Sicher, wenn man immer nur auf die Prozentzahlen starrt wie Kaninchen auf die Schlange, dann ergibt sich ein anderes Bild. Aber ein verzerrtes. Denn die Prozente werden unter Vernachlässigung der Wahlbeteiligung errechnet — über den tatsächlichen quantitativen Zuspruch, den Parteien in der Bevölkerung finden, sagt das nichts aus. Und es werden ja auch immer 100 Prozent der Parlamentssitze vergeben. Aber selbst hier ergibt sich kein „Rechtsruck“: FPÖ und Team Stronach werden zusammen (vorerst) 51 Abgeordnete stellen (das BZÖ ist nicht im Nationalrat vertreten), 2008 hingegen gehörten noch 55 der Mandatare FPÖ und BZÖ an.
Um nicht missverstanden zu werden: Jede Stimme für Nazis, Rassisten, Rechtspopulisten und senile Ausbeuter ist eine Stimme zu viel. Es ist erschreckend, wie viele Menschen in Österreich menschenverachtenden Parteien wählen. Aber man muss auch die gute Nachricht gelten lassen: Die Zahl der Rechtswählerinnen und Rechtswähler in Österreich ist in fünf Jahren praktisch gleichgeblieben. Und das trotz verdummender Dauerberieselung. Ist das nichts?

Alle Zahlen nach http://wahl13.bmi.gv.at. (Einige Zahlen im Text wurden von mir am 4.10.2013 im Hinblick auf die Auszählung der Wahlkarten verändert. Die Aussagen blieben dieselben.)

Freitag, 27. September 2013

Die Zimperliesen und der Nudelfabrikant

Meine Güte, hat denn der Mann kein Recht auf eine eigene Meinung? Wenn er findet, dass homosexuelle Paare nicht so viel wert sind wie heterosexuelle Paare, ist das doch seine Sache. Viele Menschen denken so. Bloß wenn’s einer sagt, der Chef eines internationalen Lebensmittelkonzerns ist, bricht ein Sturm der Entrüstung los. Der dann zum Zurückrudern zwingt. Unappetitlich.
Nun zeigen ja mindestens 99,99 Prozent alle laufenden oder stehenden Reklamebildchen ausschließlich heterosexuelle Paare. Keinen regt das auf. Weil die Firmen oder ihre Bosse nicht so dumm sind, es zum Thema zu machen. Dann fällt’s aber anscheinend auch den Homos und ihren solidarischen Mitkrakeelern nicht auf.
Sagt jedoch ein Signor Barilla in einem Interview, er unterstütze zwar die Homo-Ehe, aber in der Werbung für Barilla-Produkte würden weiterhin nur traditionelle Familien zu sehen sein, wird sofort „Homophobie“ geschrien und ein Boykott gefordert. Heult doch, ihr Opfer!
„Sag, dass du mich ganz doll lieb hast, sonst …“ Das ist die infantile Standardreaktion vieler Schwuler auf Meinungsäußerungen, die gegen die homofreundlichen Norm verstoßen. Als ob es eine Verpflichtung dazu gäbe, die Dinge so zu sehen, wie sie sie gesehen haben wollen. Gibt es aber nicht. Es gibt im Gegenteil sogar ein Recht darauf, die Dinge anders zu sehen und das auch frei zu äußern. Das darf man umgekehrt auch wieder kritisieren. Abweichende Meinungen verbieten zu wollen, statt sie zu widerlegen, ist hingegen dumm und niederträchtig.
Menschen haben nun einmal Neigungen und Abneigungen. Wenn jemand Hunde, aber keine Katzen mag, ist das vielleicht unvernünftig, rückständig und ailoruphob — das Wort gibt’s wirklich! —, aber es geht eigentlich niemanden was an. Er mag Katzenhalter für verrückt und Katzen für bescheuert halten, seine Sache. Selbst wenn er seine Katzenfeindlichkeit öffentlich äußert und verkündet, auch künftig nur Hunde und Katzen in seiner Nudelwerbung vorkommen zu lassen, gibt es für Katzenliebhaber keinen Grund, sich zu echauffieren und Gesetze zur Verteidigung der Gleichwertigkeit von Katzen und Hunden zu fordern. Erst wenn Katzen bzw. Katzenhalter angegriffen oder in ihrer Lebensführung eingeschränkt würden, wäre die Grenze von der Privatsache zur öffentlichen Angelegenheit überschritten.
Es gibt schlechterdings kein Recht darauf, gemocht und wertgeschätzt zu werden, und mit Argumenten kann man zwar Vorurteile widerlegen, aber nicht Ressentiments und Ängste. Die Vorstellung, alle müssten alle respektieren, ist kindisch und unsinnig. Sie findet ja folgerichtig auch von Seiten der Barillaboykottforderer nur sehr einseitig Anwendung. Ihnen gilt Homophobie doch als minderwertig und ausmerzenswert.
Haben Schwule (und Lesben?) denn so wenig Selbstvertrauen, dass sie immer und überall hören müssen, wie toll, wie normal, wie wertvoll für die Gesellschaft sie sind? Mir persönlich ist es völlig wurscht, was irgendein Nudelfabrikant für ein wünschenswertes Familienmodell hält. Ihn mit Boykottaufrufen zur Heuchelei zu zwingen, erscheint mir ausgesprochen dämlich. Homosexualitätsfeindlichkeit verschwindet nicht, wenn sie sich verstecken und maskieren muss.
Aber die gewohnheitsmäßig Aufgeregten sind ja an emanzipatorischer Praxis gar nicht interessiert. Ihnen genügt der schöne Schein. (Etwa als Trauschein oder Erbschein.) Statt sich einmal ehrlich zu fragen, warum überhaupt — immer noch — zwischen „homosexuell“ und „heterosexuell“ unterschieden wird, macht man systemkonform aus der eigenen Diskriminierbarkeit eine Identität und verteidigt sie sodann gegen jeden Andersdenkenden mit pinkfarbenen Klauen und regegenbogenschimmernden Zähnen.
Get out of the closet — der alte Schlachtruf müsste in die aktuelle Situation übersetzt werden: Hört auf, immer geliebt werden zu wollen. Hört auf, euch über einen Opferstatus zuu definieren und so gesellschaftliche Anerkennung erpressen zu wollen. Und tut nicht so, als wäre alles in schönster Ordnung, wenn auch nur endlich niemand scheel anschaut. Die wahren Probleme dieser Welt werden zweifellos nicht in der Barilla-Reklame verhandelt, nicht bei den Olympischen Spielen und auch nicht beim ESC. Aber wozu sich für die Realität interessieren, wenn man symbolische Kreuzzüge führen kann. Eure Ignoranz kotzt mich an, ihr Zimperliesen!

Montag, 23. September 2013

Brav gewählt, Deutschland!

Keine Ahnung, wovon da bei den Damen und Herren vom journalistischen Kunstgewerbe die Rede ist. Weder war, wie man bis Sonntag behauptet hat, der Wahlkampf zuletzt spannend, noch ist, wie man seit Sonntag behauptet, der Wahlausgang überraschend. Zumindest nicht für mich. Seit Monaten habe ich vorausgesagt, was bei den Wahlen zum 18. Deutschen Bundestag herauskommen wird — und habe Recht behalten: Merkel bleibt Kanzlerin, es gibt eine (parlamentarische) Mehrheit links von der Union und die SPD wird Juniorpartnerin einer Großen Koalition.
Gut, offiziell muss Letzteres erst „verhandelt“ werden. (In Wahrheit steht es im impliziten Programm der Sozialdemokratie: Von zwei Möglichkeiten wähle immer die schlechtere.) Und zugegeben, ich hatte nicht vorhergesagt, dass CDU/CSU so knapp an der absoluten Mandatsmehrheit vorbeischrammen würden. Was ja freilich nur einen wahlrechtsbedingten Nebeneffekt des überaus erfreulichen, kaum zu erhoffen gewesenen Umstandes bildet, dass die FDP an der undemokratischen Fünfprozenthürde gescheitert ist. 
Von wegen „Leihstimmen“! Umgekehrt: Es wurde recyclt. Die Schwarzen können einen Teil, aber keineswegs alle Stimmen, die die Gelben nicht erhalten haben, für sich verbuchen. Zählt man nun freilich die Prozente für die bisherige Regierungskoalition zusammen, kommt man zwar für 2013 auf einen schwarzgelben Zugewinn von 1,9 Prozentpunkten. In absoluten Zahlen hingegen entfielen 2009 auf CDU, CSU und FDP zusammen 20.974.595 Zweitstimmen, 2013 jedoch (nach vorläufigen Ergebnis) nur noch 20.239.561. Weil aber von den schon erwähnten Damen und Herren journalistischen Gewerbetreibenden und all ihren „Experten" anscheinend kaum jemand rechnen kann (oder will oder darf), gilt die Regierungschefin als „Wahlsiegerin".
Was soll an all dem überraschend sein? Seit langem war klar, dass Schwarzgelb keine Mehrheit mehr zu Stande bringen wird, egal, ob die Liberalen es nun ins Parlament schaffen oder nicht. Und ebenso klar war, dass Rotgrün nicht stärker sein würde als Schwarz bzw. Schwarzgelb und Linke zusammen, mit anderen Worten: dass es eine rechnerische Mehrheit links von Merkel gibt.
Da nun sowohl SPD als auch Bündnis90/Die Grünen immer und immer wieder die Bildung einer rotrotgrünen Koalition ausgeschlossen haben, bleibt nur die Große Koalition. Denn so dumm, dass sie nicht lieber mit den folgsamen Sozen als mit den profilneurotischen Grünen klüngelt, ist „Mutti“ nun auch wieder nicht. Obwohl — eine bürgerliche Kleinpartei hat sie bereits verschlissen. Sollte sie, welch teuflischer Plan, doch Schwarzgrün ansteuern, um auch noch die zweite Gurkentruppe in den Orkus zu koalieren?
Ach was, ich vermute, die SPD wird bei Verhandlungen die Latte in vorauseilender Diensteifrigkeit so tief hängen, dass die Kanzlerin problemlos drüberhüpfen kann. Und wird dann vier Jahre lang an allem schuld sein, während Merkel sich die Lorbeeren in den Streuselkuchen knetet.
Zwischenbemerkung: Eine der hoffentlich letzten dümmlichen Bemerkungen, die ich vom Kanzlerkandidatenersatz P.S. hören musste, lautete, es sei jetzt an Frau Merkel, sich eine Mehrheit zu beschaffen. Nun, dazu, dass ihr dies nicht schwerfallen wird, hat der Mann im Rahmen seiner Möglichkeiten ja wirklich alles getan. Warum aber die SPD sich nicht selbst eine Mehrheit, und zwar ohne die Union, suchen soll, obwohl sie das den Mehrheitsverhältnissen nach — die doch den Wählerwillen ausdrücken — könnte, bleibt wohl auf ewig ein offenes Geheimnis sozialdemokratischer Weltsicht.
Wie auch immer. Der demokratische Sourverän hat gesprochen. Weil er aber anscheinend nicht Wörter artikuliert, sondern nur Zahlen, Säulchen und Tortenstückchen, muss man ihn übersetzen. Die es angeblich wissen müssen, erklären: Der Wähler will „Mutti" und wird sie auch bekommen. Ich interpretiere: Die Leute wollen ein Weiterso, keinen Aufbruch, wollen Stabilität, nicht soziale Gerechtigkeit, wollen ihre Gewohnheiten beibehalten, nicht neue Ideen verstehen müssen. Das ist vielleicht furchtbar, aber ganz bestimmt nicht überraschend.

Freitag, 20. September 2013

Die Wählerinnen und Wähler und wir, der Rest

Das Ganze ist ein bisschen lächerlich. Über sieben Milliarden Menschen werden am nächsten Sonntag nicht den 18. Deutschen Bundestag wählen. Das ist doch wohl einige ganze Menge. Die höchstens vier Dutzend Millionen aber, die es voraussichtlich getan haben werden, nehmen sich trotz ihrer demgegenüber bescheidenen Anzahl (zwei Drittel eines Promills der Weltbevölkerung) davor, dabei und danach furchtbar wichtig und machen ein großes Gewese um ihren Urnengang. Wie kleine Kinder, die freudestrahlend der Mama zeigen, was für ein schönes Kaka sie ins Töpfchen gemacht haben.
Drei Grundtypen von Wahlteilnehmenden lassen sich unterscheiden. Die einen wählen, weil man das eben macht, und geben sie ihre Stimme am liebsten der Partei, der sie sie immer gegeben haben. Programm und Personal interessieren sie wenig, entscheidend ist die gefühlte Übereinstimmung. Andere wählen, weil sie wirklich und wahrhaftig daran glauben, dass es einen Unterschied macht. Für sie ist Demokratie ein Auftrag an sie persönlich, den sie durchaus ernst nehmen. Wählen ist für sie Ausdruck einer Haltung und Folge einer Einsicht. Ihre Entscheidung treffen sie nicht leichtfertig und verstehen und billigen niemanden, dem das wurscht ist. Und dann gibt es noch die, die mit der Stimmabgabe ein persönliches, geradezu egoistisches Interesse verbinden. Mein Kumpel arbeitet für die Partei X, der braucht die Kohle. Ich möchte die lustigen Bundestagsreden von Y nicht missen. Wenn ich Z wähle, fühle ich mich gut.
Gründe, um zur Wahl zu gehen, lassen sich also immer finden. Es sind in jedem Fall Ausreden. Wählerei ist nämlich immer Politikersatz. Das kleinere Übel, die bessere Chance, die einzige Möglichkeit: Stets wird so getan, als sei die Alternative zu einer Wahlentscheidung eine andere Wahlentscheidung. Oder die verdrossene Verweigerung.
In Wahrheit ist Nichtwählen der politische Normalzustand, Wählen aber lediglich ein seltenes Ritual, gleichsam die symbolische Ausnahme, die die reale Regel bestätigt. Mit subjektivem oder objektivem Interesse hat das nichts zu tun. Viele Menschen interessieren sich zum Beispiel sehr für die Politik des Staates Israel, ohne die mindeste Chance zu haben, jemals die Knesset zu wählen. Und von der Politik der USA sind wohl die Menschen überall auf der Welt betroffen, können sie aber nicht im mindesten beeinflussen.
Was mich persönlich betrifft, so bin ich in fast zweihundert Staaten dieser Erde nicht wahlberechtigt. Und ausgerechnet in dem winzigen Österreich soll ich wählen, bloß auf Grund des Zufalls der Geburt und des Wohnsitzes, legitimiert durch eine abseitige Konstruktion namens Staatsbürgerschaft? Doch selbst wenn es so wäre, dass mir ein zufälliges Privileg eine besondere Verantwortung aufzuerlegen vermöchte, so muss das nicht damit gleichbedeutend sein, dieser Verantwortung in den Formen nachzukommen, die allgemein vorgeschlagen werden.
Es stimmt schon, Nichtwählen ist kein Protest (zumindest meist kein gelingender). Wählen aber ist immer affirmativ. Es ist Mitwirkung an einem Ablenkungsmanöver. Jeder weiß doch eigentlich, dass das Wesentliche anders entschieden wird. Und dass in einem stabilen politischen System Wahlen nur das verändern können, worauf es nicht ankommt.
Daraus folgt nun freilich nicht, dass es gleichgültig ist, wen oder was man wählt. Denn selbstverständlich gibt es Unterschied bei dem, was zu Wahl steht. Wen es zum Beispiel stört, dass Deutschland drittgrößter Waffenexporteur der Welt ist und damit von Tod und Zerstörung profitiert, der wird nicht CDU, CSU, FDP, Grüne oder SPD wählen können, die für Kriege und den Erhalt des Militärisch-industriellen Komplexes einzutreten pflegen. Viele andere entscheidende Unterschiede ließen sich anführen.
Doch dass innerhalb des Systems zwischen richtig und falsch, gut und schlecht, wünschenswert und verachtenswert unterschieden werden kann, rechtfertigt das System im Ganzen keineswegs. Wer wählen geht, akzeptiert ein politisches System, dass die meisten Menschen von Entscheidungen, die sie betreffen, ausschließt. So paradox es für manche klingen mag: Es wären beispielsweise eigentlich die Somalier und Somalierinnen, die über den Einsatz der Bundeswehr am Horn von Afrika zu befinden hätten, nicht ein von deutschen Wählerinnen und Wählern zusammengestellter Deutscher Bundestag. An dem grundsätzlichen Unrecht, dass in solchen Fällen stattdessen Unbefugte über Leben und Tod, Wohl und Wehe anderer Menschen bestimmen, ändert es auch nichts, wenn innerhalb besagten Parlaments ein paar Gegenstimmen erhoben werden.
Zugegeben, Demokratie als Zustimmung der Regierten zum Regiertwerden hat etwas Beruhigendes. Es ist angenehm sich um nicht mehr kümmern zu müssen als alle paar Jahre darum, dass andere sich um alles kümmern. Oder zumindest um ein bisschen was. An dem, was man wohl sowieso nicht ändern kann, muss man auch nicht rütteln. Es ist, wie es ist. Manches könnte besser sein, aber Hauptsache alles geht seinen Gang und uns geht's gut.
Nein, Nichtwählen ändert auch nichts. Spielverderber gewinnen keine Partie und weiten das Spielfeld nicht über den Horizont hinaus. Aber wenn ich schon nicht auf den Rasen kacken darf (oder will), finde ich es doch angemessen, den Veranstaltern nicht auch noch meinen symbolischen Obolus zu entrichten für Schauwettkämpfe, bei denen so vielen Teilnahme und Eintritt von vornherein verweigert wird.
Wem nichts besseres einfällt und wer darum meint, unbedingt wählen zu müssen, soll das halt in Gottes Namen tun. Aber es gibt aus meiner Sicht keinen Grund, auch noch stolz darauf zu sein. Ich jedenfalls tu's nicht und bin damit ausnahmsweise mal in der Mehrheit.

Sonntag, 15. September 2013

„Du sollst nicht wählen“ (3)

Ich bin also Nichtwähler. Damit macht man sich, wie gesagt, keine Freunde. Im Gegenteil, als Wahlverweigerer wird man regelmäßig angepöbelt. Was einem einfalle, nicht zu Wahl zu gehen, man sei wohl kein Demokrat, man wolle sich wohl nicht die Finger schmutzig machen, man halte sich wohl für etwas Besseres? Alle gehen doch wählen, bis auf die Dummen und Faulen, und da willst ausgerechnet du dich ausschließen? Bitte schön, dann eben nicht, aber dann darfst du hinterher auch nicht meckern, wenn bei den Wahlen etwas herauskommt. was du nicht willst.
Zu den infamsten Lügen der Wählereibefürworter gehört, wer nicht mitwähle, habe hinterher auch kein Recht, sich zu beschweren. Diese Logik erschließt sich mir nicht. Wenn ich als Pazifist jeden Kriegsdienst ablehne, heißt das ja wohl auch nicht, dass ich deshalb das Stattfinden, den Verlauf und den Ausgang von Kriegen nicht beurteilen kann und darf. Im Gegenteil, gerade weil ich gegen Gewalt bin, kann ich Gewaltanwendung und ihre Folgen kritisieren. Ebenso gilt, dass wer sich weigert, an den Ritualen eines bestimmten politischen Systems mitzuwirken, deshalb nicht nur nicht das Recht verliert, diesem System und seinen Funktionären die Leviten zu lesen, sondern dass ganz im Gegenteil gerade er geradezu dazu berufen ist, dies zu tun, da er nicht durch Komplizenschaft belastet ist.
Übrigens rechne ich das dem liberalen demokratischen System hoch an, dass es mich in dieser weitgehend in Ruhe lässt, mir meine Dissidenz erlaubt und mich nicht zwingt, Zustimmung zu heucheln. Dass ich lieber in einer Demokratie lebe als unter einem autoritären oder totalitären Regime, heißt freilich nicht, dass ich jede Demokratie, auch eine heruntergekommene, gut oder Demokratie als solche optimal finden muss. Ich finde es auch besser in einem wohlhabenden Land zu leben, das heißt aber nicht, dass ich eine Weltwirtschaftsordnung billige, die Länder und Menschen in Wohlhabende und Arme teilt, die Menschen in Dreck und Elend leben und an Hunger, Krankheit, Krieg sterben lässt.
Man muss kein „Demokrat“ (im nicht-radikalen Sinne) sein, um irgendeine Demokratie irgendeiner Diktatur vorzuziehen. Ich persönlich hätte allerdings auch nichts gegen eine Diktatur, vorausgesetzt, der Diktator bin ich. Rein logisch betrachtet wäre doch das Zweitbeste nach der Anarchie, wo kein Mensch herrscht, eine Autokratie, wo nur einer herrscht. Und da wäre mir niemand lieber als gütiger und weiser Herrscher las ich … Eine Demokratie jedenfalls, in der — dem Anspruch, nicht der Wirklichkeit nach! — alle herrschen, ist von der Anarchie von allen politischen Systemen am weitesten entfernt.
Tatsächlich sind die real existierende Demokratien dieser Welt aber eigentlich Oligarchien. Man lässt wählen, weil das das System stabilisiert. Wenn die Regierten den Eindruck haben, sie könnten mitbestimmen und hätten mitbestimmt, sind sie zufriedener und folgsamer, als wenn man ihnen offen sagt, sie hätten nichts zu melden und die wichtigen Entscheidungen seien sowieso schon getroffen worden. (Das tarnt man bei Bedarf als „Sachzwang“.)
Wenn Wahlen etwas ändern könnten, wären sie verboten. Gegen diese kluge Einsicht von Emma Goldman hat, so weit ich sehe, noch nie jemand ein überzeugendes Argument vorgebracht.
Und es gilt auch umgekehrt: Wo Wahlen verboten sind, könnten sie etwas ändern. In einem System, das Wahlen verbietet oder fälscht, das politische Opposition behindert oder unterdrückt, in einem solchen System sind allgemeine, freie, gleiche und geheime Wahlen unbedingt wünschenswert. Sie wären dann ein Mittel gegen das Unrecht.
In einer liberalen Demokratie hingegen geht es in der Regel bei Wahlen um nichts. Es liegt im Wesen des politischen Marktes, dass sich auf ihm alle Angebote angleichen. Rein theoretisch könnten auch hier Wahlen alles umstürzen, weil aber völlig unwahrscheinlich ist, dass sie das tun, darf alles gewählt werden, was zu Wahl steht. Heraus kommt Austauschbares. Parteien, Programmatiken, Kandidaten unterscheiden sich letztlich nicht stärker von einander als die Produkte verschiedener Schnellfraßketten. Wo doch Unterschiede und grundsätzliche Veränderungsvorschläge vorkommen, ist ziemlich sicher, dass sie keine Rolle spielen werden.
Ein Beispiel gefällig? Die deutsche Bundestagswahl ist im Grunde seit langem entschieden. Hinterher wird Merkel zur Kanzlerin gewählt werden. Ob sie dabei doch wieder mit der FDP oder, falls diese floppt, mit der SPD koalieren wird, ist auch schon egal. Selbst ein Kanzler Steinbrück machte keinen Unterschied. Oder hat Rotgrün damals wirklich eine grundsätzlich andere Politik gemacht als Schwarzrot oder Schwarzgelb? Die als Rot-Rot-Grün bezeichnete Möglichkeit gilt als ausgeschlossen. Doch selbst wenn sie verwirklicht würde, wäre, was sie innerhalb des vorgegebenen Rahmens vermöchte, nur systemimmanenter Reformismus.
Dass bei einer Wahl nichts Grundstürzendes passieren kann, mag man gut heißen. Dann soll man wählen gehen. Die einen wollen ein Weiterso, die anderen Glauben an ein bisschen Veränderung. Beides ist nichts für mich. Ich will mehr und anderes, das ist mit Wahlen nicht zu erreichen ist. Vielleicht ist es überhaupt nicht zu erreichen, aber wenn zumindest darüber geredet werden kann, dann nur im Abseits und in der Verweigerung. Eine freie und gerechte Gesellschaft ist nicht per Abstimmung herstellbar. Ob und wie sie überhaupt zu Stande kommen kann, ist schwer zu sagen. Das liegt auch daran, dass sich die „Demokratie“ zum ultimativen politischen System erklärt hat — so wie der Kapitalismus zum ultimativen ökonomischen —, wodurch über sie hinauszudenken leicht als Utopismus und Eskapismus diffamiert werden kann.
Nichtwählen ist aber nicht, wie die Wählereibeführworter behaupten, die bequemere Haltung. Viel komfortabler ist es, sich mit Wählerei zu stimulieren und zu beruhigen, als den prinzipiellen Widerspruch auszuhalten, dass es keine Wahl gibt, solange es Wahlen gibt. Wer an den Fortschritt, die List der Vernunft, die Weisheit der Massen glaubt, hat es leicht. Wer aber weiß, dass nur die Einzelnen zählen, aber jeder von ihnen, kann auf keinen verzichten, auch auf die nicht, die Unrecht haben, und sich dabei nicht irre machen zu lassen, ist schwer.
Für mich kommt nur eine Wahl in Frage, bei der jeder jeden wählt, woraufhin jeder nur sich selbst vertreten darf. Die Herstellung von Mehrheiten und Minderheiten lehne ich ab, ebenso die entmündigende Stellvertretung für die, die durchaus für sich selbst sprechen und handeln können. Darum gehe ich nicht wählen. Anders gesagt, ich habe schon gewählt: die Nichtteilnahme an der Wahl. Wer macht mit?

„Du sollst nicht wählen“ (Fundstück)


„Du sollst nicht wählen“ (2)

Meine Kritik an dem, was gemeinhin als Demokratie bezeichnet wird, richtet sich keineswegs nur darauf, dass es mir nicht genug ist, wenn man unter „demokratisch“ bloß Mehrheitsentscheide, und nicht viel grundsätzlicher gleiches Mitbestimmungsrecht von jedermann verstehen will. Ich kritisiere keineswegs bloß das Abstimmen und Wählen, ich kritisiere ebenso, dass diese Rituale nur wenig bewirken, weil ihre Wirksamkeit absichtlich eingeschränkt wird.
Nicht grundlos finden in den real existierenden Demokratien dieser Welt die am Mehrheitsprinzip ausgerichteten Abstimmungen und Wahlen üblicherweise nur recht selten statt und noch seltener wird durch sie etwas unmittelbar entschieden. Stattdessen werden für das politische Alltagsgeschäft gewöhnlich Formen der Repräsentation bevorzugt. Das heißt, die, die als eigentlich entscheidungsbefugt betrachtet werden, dürfen nur in gewissen Abständen selbst etwas entscheiden, in der Zwischenzeit werden sie, in dieser Hinsicht genau wie die Insassen von Diktaturen, von jemandem regiert. Der „demokratische Souverän“, also die Gesamtheit der Bürgerinnen und Bürger eines Staates, wird zwar bei jeder sich bietenden Gelegenheit verbal gebauchpinselt, aber die wesentlichen Entscheidungen trifft (von plebiszitär-demokratischen Elementen in dem einen oder anderen politischen System abgesehen) jemand anderer an seiner Stelle. Alles für das Volk, nichts durch das Volk lautet die Devise. Demokratie in diesem Sinne wird zurecht definiert als Regierungssystem, in dem die, die regiert werden, dem Regiertwerden zustimmen müssen. Etwas anderes bleibt ihnen ja ach nicht übrig.
Perfekt verkörpert dies das parlamentarische System Österreichs. Hier wird alle fünf Jahre über die Zusammensetzung des Nationalrates abgestimmt. Wer kandidiert, bestimmen die Parteien. Scheidet ein Parlamentarier später aus dem Parlament aus, rückt jemand nach, dem bei der Wahl überhaupt niemand seine Stimme gegeben hat. (Mir ist ein Fall erinnerlich, wo alle Nationalratsabgeordneten einer bestimmten Partei ihr Mandat niederlegten, damit ein Politiker, der weit hinten auf der Kandidatenliste, ins Parlament einziehen konnte, woraufhin die eben Ausgeschiedenen wieder auf die Liste gesetzt wurden und ihr Mandat von Neuem übernahmen. Ein Glanzstück der Demokratie!)
Aber nicht nur die personelle Zusammensetzung des Parlaments wird von Wahl nicht bestimmt — ich lasse hier die Möglichkeit der Vergabe Vorzugsstimmen außer Acht, die das System nur punktuell, nicht prinzipiell modifiziert —, sondern es gibt auch keinerlei Möglichkeit, bei der Wahl zu bestimmen, welche politischen Positionen die Gewählten vertreten werden. Die Parteien formulieren zwar Programme, aber nichts zwingt sie, sich an diese zu halten. Schaut man sich die Wahlwerbung an, so scheinen die wahlwerbenden Gruppen eher daran interessiert, die Visagen ihrer Kandidaten und irgendwelche simplen und belanglosen Slogans zu plakatieren als konkrete Zusagen zu machen. Derselbe Wähler, der angeblich alles entscheidet, wird offensichtlich für zu blöd gehalten, mehr als Stichwort zu verstehen. Dass man vom Wahlvolk nichts hält, sondern sich in Wahrheit bloß seine Unmündigkeit bedienen will, zeigt sich aber auch daran, dass man in Österreich das Wahlalter auf 16 Jahre abgesenkt hat. Mit anderen Worten, die Politik wird (der Form nach) von Menschen mitentschieden, die man andererseits nicht für erwachsen genug hält, um unbegleitet ein Auto zu lenken oder um Wettbüros oder Puffs zu betreten.
Was für Österreich gilt, gilt mutatis mutandis auch für andere parlamentarische Demokratien. Die Wählerinnen und Wähler sind mehr oder minder bloß eine Ausrede, zu sagen haben sie im Grunde nichts. Sie geben alle heiligen Zeiten ihre Stimme ab, was das Wortspiel unumgänglich macht, dass sie ab dann keine mehr haben. Außer am Stammtisch und in anderen sozialen Medien; aber das zählt nicht. Das Motto des Parlamentarismus lautet: Wir wollen uns beim Regieren von unseren Wählern möglichst nicht stören lassen, darum so wenig tatsächlich Demokratie wie unbedingt nötig, aber so viel Berufung auf Demokratie wie möglich.
Ein solches System unterstütze ich nicht. Ich will meine Stimme nicht abgeben, ich will sie behalten und mitbestimmen dürfen. Keine der sich angeblich um meine Gunst bewerbenden Parteien kann mich vertreten, ich bin einmalig und unersetzlich. Und selbst wenn es eine Partei gäbe, deren Programmatik oder wahrscheinlich Praxis ich ausreichend gutheiße, um etwas anderes als Verachtung oder Missbilligung zu verspüren, wenn die Rede auf sie kommt, selbst dann also (was nicht wirklich der Fall ist), sehe ich nicht ein, warum deren Funktionäre meinen Job machen sollen. Ich halte mich für geistig noch rüstig genug, meine Entscheidungen selbst zu treffen, meine Meinung selbst zu äußern. Ich brauche also niemanden, der mich „repräsentiert“, zumal ich es angesichts meiner regelmäßig als abseitig geltenden Überzeugungen für unmöglich halte, das irgendwer das halbwegs hinbekommt.
Ich wähle keinen, der sich zu Wahl stellt. (Zweimal habe ich, um ehrlich zu sein, eine Ausnahme gemacht bei Bundespräsidentenwahlen: gegen Kurt Waldheim und gegen Benito Ferrero-Waldner.) Und ich wähle keine Partei. Wer gewählt werden will, führt entweder etwas Unheilvolles im Schilde oder ist auf gefährliche Weise naiv. Selbst Kandidaten nämlich, die, was in seltenen Fällen der Fall ist, eben noch intelligente und Argumenten zugängliche Zeitgenossen waren, werden durchs Kandidieren zu Verteidigern von Parteilinien und damit letztlich von all dem, was die Systembetreiber so verbrechen.
Wer kandidiert, heißt das politische System im Prinzip gut und will bestenfalls Details verbessern. Man kann aber die repräsentative (also entmündigende), auf Majorisierungen (also Ausschlüssen) beruhende „Demokratie“ so wenig zu etwas Gutem machen wie den Kapitalismus. Was als Ganzes schlecht ist, muss als Ganzes abgelehnt und abgeschafft werden. Dabei darf man sich auch nicht davon irre machen lassen, das manche Systemzustände unerträglicher sind als andere.
Wer kandidiert, wäre bereit, an meiner Stelle zu sprechen. Das möchte ich aber nicht. Ich will selbst für mich sprechen. Ich wähle also niemanden und nichts. Ich wähle gar nicht. Ich gehe einfach nicht hin. Naiv, wer glaubt, seine Kritik an demokratischen Defiziten durch ungültiges Wählen Ausdruck geben zu können. In der Berichterstattung und damit der öffentlichen Wahrnehmung kommen die ungültigen Stimmen nicht vor. Auch die Wahlbeteiligung, das verhehle ich nicht, wird zwar, wenn sie gering ist oder abnimmt, gern beklagt, spielt aber keine Rolle. Es werden bemerkenswerterweise immer gleich viele Parlamentssitze vergeben, egal, wie viele Wählerinnen und Wähler an der Wahl teilgenommen haben. Aber auch die ungültigen Stimmen beeinflussen die Mandatsvergabe nicht. Sie sind noch unsichtbarer als die gar nicht abgegebenen Stimmen. Deren fehlen wird immerhin noch bemerkt. Nein, nicht ungültiges Wählen, nur Nichtwählen widerspricht dem System. Das ist dem in der Regel wurscht. Aber es bleibt die einzig anständige Alternative zur Komplizenschaft mit den bestehenden politischen Verhältnissen.
Darum gilt aus meiner Sicht: Du sollst nicht wählen!

„Du sollst nicht wählen“ (Fundstück)


„Du sollst nicht wählen“ (1)

Allein schon, dass alle Welt will, dass man wählen gehe, ist doch wohl höchst verdächtig. Geh wählen, geh wählen, geh wählen, tönt es von überallher. Geh wählen, heißt es, egal was, Hauptsache, du wählst überhaupt. Wählen gehen sei wichtig, heißt es. Das glaube ich auch. Wählen gehen stärke die Demokratie, heißt es. Auch das glaube ich. Gerade deshalb bin ich ja dagegen.
Als Nichtwähler macht man sich im real existierenden Demokratismus nicht beliebt. Nichtwähler werden als passive Ignoranten, als faule Verweigerer, als überzählige Mitbürger betrachtet, die den anständigen und fleißigen Wählern und Wählerinnen politisch auf der Tasche liegen und am Wahltag, der bekanntlich Zahltag ist, ihren notwendigen Beitrag nicht leisten. Pfui. Wer nicht wählt, der soll eigentlich gar nicht existieren.
Dass man auch Nichtwähler sein kann, ohne politisch desinteressiert und inaktiv zu sein, darf nicht wahr sein. Wer nicht wählt, hat einen Defekt. Der kann vielleicht mit Verdrossenheit entschuldigt werden, bleibt aber ein Übel, das besser beseitigt würde. Nichtwählen aus Überzeugung aber, wo gibt’s denn so was!
Wahlen gelten als Kernbestandteil der Demokratie, und die Demokratie ist die Heilige Kuh (um nicht zusagen: das Goldene Kalb) der kapitalistischen Gesellschaft. Wer Demokratie nicht toll findet und nicht als die einzig vernünftige und erstrebenswerte Regierungsform anhimmelt, ist mehr als verdächtig. Der ist draußen. Nur Nazis und Kommunisten und solches Gesocks sind keine Demokraten. (Wobei man verdrängt, dass Hitler von der „germanischsten Demokratie“ schwärmte und die Bolschewisten ihre Gewaltherrschaft als „demokratischen Zentralismus“ betitelten.)
Undenkbar, dass man auch aus guten Gründen gegen Demokratie, so wie sie ist, etwas haben könnte. Also sage auch ich nicht etwa, ich sei Antidemokrat, sondern bezeichne mich als Demokratiekritiker. Das stimmt allerdings auch in der Sache, denn ich will nicht ja weniger als Demokratie, sondern mehr. Als Anarchist sähe ich gerne das an demokratischen Systemen, was an ihnen noch Herrschaft von Menschen über Menschen ist, überwunden. Wenn man also unter radikaler Demokratie verstehen kann, dass alles, was ihn betrifft, von jedem Mündigen mitbestimmt wird, dann bin ich radikaler Demokrat.
Radikale Demokratie und Anarchie sind so gesehen für mich Synonyme und bezeichneten ein politisches System, in dem jeder bei allem, was ihn etwas angeht, mitreden darf und in dem er mitentschieden haben muss, damit Entscheidungen als legitim betrachtet werden können. Das kann nicht funktionieren, lautet sofort der Einwand. Das ergibt nur endloses Gequatsche und letztlich völlige Blockade, weil es immer jemanden gibt, der sich querlegt. Nun, ich habe auch nicht gesagt, dass Anarchie „funktionieren“ wird, ich sage, dass ich sie mir wünsche. Das Wünschbare braucht mit dem Machbaren nicht immer identisch zu sein, denn dürfte man sich nur wünschen, was machbar ist, wäre bald nur noch wünschenswert und erwünscht, was sowieso gemacht wird.
Ich halte mein Wunschdenken aber für kritischen Realismus. Eine andere Wirklichkeit ist möglich! Wäre sie es nicht, wäre jede Kritik am Bestehenden sinnlos. Daraus folgt selbstverständlich nicht, dass immer alles möglich ist. So erscheint es mir zwar jetzt schon als wünschenswert und machbar, auf radikale Demokratie hinzuarbeiten, sie aber spontan global und restlos umzusetzen mit den Menschen, so wie sie heute drauf sind, halte ich für eher schwierig bis unmöglich. Miteinander umzugehen, ohne einander beherrschen zu wollen, das muss man nämlich erst lernen.
Allerdings ist es im Grunde die selbstverständlichste Sache von der Welt. Man stelle sich vor, eine paar Freunden verabredeten sich, gemeinsam ins Kino zu gehen. Welchen Film sollen sie sich anschauen? Einige wollen diesen, andere jenen. Hat es da Sinn, abzustimmen und die Mehrheit entscheiden zu lassen? Warum soll sich jemand einen Film anschauen, den nicht er, sondern jemand anderer sehen will? Und was, wenn es zum Beispiel nur zwei Leute sind? Da ergäbe jede Abstimmung entweder Einstimmigkeit oder ein Patt. Und doch schaffen es Paare immer wieder, ach bei unterschiedlichen Interessen, Vorlieben und Überzeugungen, gemeinsame Entscheidungen zu treffen. Rücksichtnahme und Kompromissfähigkeit werden da Schlüsselbegriffe sein. Warum aber soll, was im Kleinen möglich, ja unabdingbar ist, im Großen nicht „funktionieren“ können? Doch nur deshalb, weil es noch kein Bewusstsein, keine Sensibilität, keine Methoden, keine Modelle für die Kunst des herrschaftsfreien Miteinanders gibt.
Stattdessen macht man Wahlen und Abstimmungen. Das hält man für Demokratie. Hände hoch oder Zettel in die Urne, und dann wird abgezählt. Diese Wählerei schmeichelt der Eitelkeit des Einzelnen. Er ist dann mit einem Mal sehr wichtig, seine Meinung ist gefragt, er darf mitbestimmen. Dass sein Votum nur ein statistisches Pünktchen ist, fällt dabei nicht ins Gewicht. Auf jede Stimme komme es an, heißt es. Stimmt schon. Aber bloß als Teil einer Quantität. Qualitativ bleibt der Stimmabgebende völlig austauschbar. Das ist wie in der Marktwirtschaft: Wer die angebotenen Waren kauft, ist völlig wurscht, Hauptsache, sie werden bezahlt. Und so ist es auch egal, wer wofür stimmt, es kommt nur darauf an, wie viele wofür stimmen. Eine umfassendere Auslöschung von Singularität und Persönlichkeit ist gar nicht denkbar, das geht noch über die herrschende Massenkultur hinaus, die immerhin aus konsumierbaren Versatzstücken zusammengesetzte Pseudo-Individualitäten fabriziert. (Allerdings hat eine Darstellung von Politik, bei der es nur um Quantitäten in Gestalt von bunten Säulchen und Tortenstücken und Kurven geht, auch wieder viel Ähnlichkeit mit den abstrakten Leistungen des Sports und der Charts-Vernarrtheit der Popkultur.)
Kurzum: Demokratie, verstanden als Abstimmerei, hat mit radikaler Demokratie so viel zu tun wie der Publikumsjoker einer Quizshow mit einem Gespräch von Experten und Betroffenen. Das zu Grunde liegende Prinzip stimmt einfach nicht. Die Mehrheit hat niemals Recht, sie ist einfach nur die Mehrheit. Wie oft eine Meinung vertreten wird, besagt doch nichts über deren Richtigkeit oder Berechtigung. Dass die Mehrheit entscheidet, ist nichts anderes als das formalisierte „Recht“ des Stärkeren, das bekanntlich keines ist, sondern bloß Gewalt. Wir sind mehr als ihr, das heißt doch nichts anderes als: Wir können euch überwältigen, wenn ihr es darauf ankommen lasst.
Wenn eine Million Menschen über etwas abstimmt, und 500.001 entscheiden sich für A und 499.999 für B, ist dann wirklich A legitimiert? Rein formell nach einem bestimmten Demokratieverständnis schon. Allerdings wird auch der gestandenste Demokrat bei solchem Ergebnis ein Unbehagen haben. Hier könnte eine Seite die andere eben nicht überwältigen. Bei 55 Prozent zu 45 schon eher. Bei 75 zu 25 erst recht. Jenseits der 90 ist jeder Widerstand gebrochen. Es geht in Wahrheit also um Gewaltverhältnisse, und doch tut man so, als ob bei 50 Prozent plus X eine magische Grenze überschritten würde, die irgendeine Entscheidung von einer beliebigen in eine legitimierte verwandeln könnte. Eine Art säkularisiertes Gottesurteil.
Warum man nun solche Mehrheitsentscheidungen mit „demokratischer Reife“ akzeptieren soll, habe ich nie verstanden. Für sich genommen ist bloße Quantität noch kein Argument. Mehr von etwas zu haben, ist nur dann gut, wenn dieses Etwas gut ist. Etwas Falsches wird nicht richtig, wenn mehr Leute es unterstützen als ablehnen. Wenn ein solches Verfahren nicht als Herrschaftstrick zu durchschauen „reif“ sein bedeutet, bleibe ich lieber unreif.
Einstimmigkeit (Jeder stimmt zu) oder Einmütigkeit (Keiner stimmt dagegen) mögen mühsame und (nach welchen Kriterien eigentlich) „ineffiziente“ Verfahren sein. Aber sie sind die einzigen, die tatsächlich jedem, der am politischen Prozess teilnimmt, dasselbe Recht zubilligen. Die mehrheitsbildende Abstimmerei hingegen entwertet die, die in der Minderheit sind. Viel besser, als nun nachträglich Minderheiten zu schützen, wäre es, ein Einteilen in Mehrheiten und Minderheiten von vornherein zu unterlassen.
Darum gilt aus meiner Sicht: Du sollst nicht abstimmen!

Sonntag, 8. September 2013

Aufgeschnappt (beim Papst)

Die Welt Gottes ist eine Welt, in der sich jeder für den anderen, für das Wohl des anderen, verantwortlich fühlt. Ist das nicht eigentlich die Welt, die ich mir wünsche? Ist das nicht die Welt, die wir alle im Herzen tragen? Ist die Welt, die wir wollen, nicht eine Welt der Harmonie und des Friedens in uns selbst — in den Beziehungen zu den anderen, in den Familien, in den Städten, innerhalb und zwischen den Nationen? Und ist die wirkliche Freiheit in der Wahl der einzuschlagenden Wege in dieser Welt nicht die, welche sich am Wohl aller orientiert und von der Liebe geleitet ist? Doch fragen wir uns nun: Ist das die Welt, in der wir leben? Wenn der Mensch nur an sich selber denkt, an die eigenen Interessen, und sich in den Mittelpunkt stellt, wenn er sich von den Götzen der Herrschaft und der Macht betören lässt, wenn er sich an die Stelle Gottes setzt, dann zerstört er alle Beziehungen, richtet er alles zugrunde und öffnet der Gewalt, der Gleichgültigkeit und dem Konflikt Tor und Tür. Menschsein bedeutet, einander Hüter zu sein! Wenn dagegen die Harmonie auseinander bricht, wird der Bruder, der gehütet und geliebt werden soll, zum Gegner, der bekämpft und beseitigt werden muss. Wir lassen uns von den Götzen, vom Egoismus, von unseren Interessen leiten; und dieses Verhalten entwickelt sich weiter: Wir haben unsere Waffen vervollkommnet, unser Gewissen ist eingeschlafen, und wir haben ausgeklügeltere Begründungen gefunden, um uns zu rechtfertigen. Als wäre es etwas Normales, fahren wir fort, Zerstörung, Schmerz und Tod zu säen! Gewalt und Krieg bringen nur Tod, sprechen vom Tod! Gewalt und Krieg sprechen die Sprache des Todes! Ist es möglich, den Weg des Friedens einzuschlagen? Können wir aus dieser Spirale des Schmerzes und des Todes aussteigen? Können wir wieder lernen, mit unseren Schritten die Wege des Friedens zu verfolgen? Ja, es ist für alle möglich! Ja, wir wollen es! Im Schweigen des Kreuzes verstummt das Getöse der Waffen und kommt die Sprache der Versöhnung, des Verzeihens, des Dialogs und des Friedens zu Wort. Gewalt und Krieg sind niemals der Weg des Friedens! Möge ein jeder Mut fassen, auf den Grund seines Gewissens zu schauen und auf jene Stimme zu hören, die sagt: Komm heraus aus deinen Interessen, die dein Herz verengen, überwinde die Gleichgültigkeit gegenüber dem anderen, die das Herz gefühllos macht, besiege deine Todesargumente und öffne dich dem Dialog, der Versöhnung: Schau auf den Schmerz deines Bruders und füge nicht weiteren Schmerz hinzu, halte deine Hand zurück, baue die Harmonie wieder auf, die auseinander gebrochen ist — und das nicht mit dem Zusammenprall, sondern mit der Begegnung! Möge das Waffenrasseln aufhören! Krieg bedeutet immer das Scheitern des Friedens, er ist immer eine Niederlage für die Menschheit.
 (Predigt, stark gekürzt)

Mittwoch, 4. September 2013

Muttis mörderische Lügen

Frau Merkel, Deutschlands Regierungschefin, hat der Katholischen Nachrichten Agentur (KNA) ein Interview gegeben, in dem sie unter anderem gefragt wird. „Die erste Reise des Papstes führte ihn nach Lampedusa, wo er Europa zu mehr Hilfe für die Bootsflüchtlinge aufrief. Ist die Kritik berechtigt und die Asylpraxis zu restriktiv?“
Merkels Antwort: „Die Worte und die Gesten des Papstes auf Lampedusa waren sehr berührend angesichts der Dramen, die sich leider immer wieder auf dem Meer vor dieser Insel abspielen. In Deutschland gilt für das Asylrecht der ebenso einfache wie klare Satz unseres Grundgesetzes: ‘Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.’ Dieser Satz ist ein klares Bekenntnis. Seit 1953 wurden in Deutschland 3,7 Millionen Erst- und Folgeanträge gestellt. Jeder einzelne Antragsteller bekommt ein rechtsstaatliches Asylverfahren. Darüber hinaus nimmt Deutschland aus humanitären Gründen auch Flüchtlinge aus Drittstaaten auf. So haben wir als einziges europäisches Land angekündigt, 5.000 weitere syrische Flüchtlinge aufzunehmen. Das gemeinsame europäische Asylsystem gewährleistet, dass Verfolgte nicht in Gefahrensituationen zurückgeschickt werden. Es garantiert Asylbewerbern und Menschen, die internationalen Schutz genießen, innerhalb der EU anständige Bedingungen.“
Viele Worte, knapper Sinn: Es ist alles in Ordnung, und weil Mutti regiert macht Deutschland nichts falsch. Die in der Frage der KNA nach dem Papstbesuch auf Lampedusa erwähnten Bootsflüchtlinge kommen in Merkels Nicht-Antwort nicht mehr vor. Irgendwelche maritimen Tragödien scheinen da im Mittelmeer stattzufinden, aber mit Politik hat das wohl nichts zu tun, schon gar nicht mit der von Merkel, Deutschland, der EU.
Merkel lügt. In Deutschland gilt bekanntlich nicht bloß der einfache Satz „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“, sondern auch noch der zweite bis fünfte Absatz desselben Gundgesetzartikels (Verhältnis des Textumfanges 1 : 50), durch die der „einfache Satz“ reichlich kompliziert und in Wahrheit massiv eingeschränkt wird.
Merkel lügt. Von „anständigen Bedingungen“ innerhalb der EU kann keine Rede sein. Vielmehr ist Unanständigkeit die Regel und „Abschreckung“ das erklärte Politikziel. Flüchtlinge — lassen wir das dumme Wort „Asylbewerber“ beiseite, Menschen auf der Flucht „bewerben“ sich nicht um Asyl, als wäre das ein Platz in einer Castingshow — sind Verfügungsmasse nationaler Politiken. Der Umgang mit ihnen ist permanente Entmündigung und Entwürdigung. Zunächst gilt jeder Flüchtling als Feind. Darum versucht man, das Schicksal der unerwünschten Eindringlinge gar nicht erst „innerhalb“ der EU zu entscheiden, sondern an den Außengrenzen. Der Papst besuchte auf Lampedusa einige Überlebende und gedachte der Nichtüberlebenden. Deren Tod ist kein von anonymen Mächten in Szene gesetztes „Drama“, sondern beabsichtigtes Resultat der mörderischen Abschottungspolitik der EU.
Merkel lügt. Keineswegs genießen schlechterdings alle politisch Verfolgten, die das anstreben, in Deutschland Asyl. In den (mitunter bitteren) Genuss von Asyl, Duldung oder sonstigen „Aufenthaltstiteln“ — das Vokabular verrät, das Nichtdeutsche zunächst einmal und grundsätzlich zu Unrecht in Deutschland sind — gelangt nur, wer es hierher geschafft hat und gegen den kein Rechtsmittel mehr angewandt werden kann, dass den Rechtsstaat nicht vollends zur Farce werden ließe. Politische Verfolgung wird dabei völlig willkürlich möglichst eng definiert und ausschließlich als Verfolgung im „Herkunftsland“ verstanden. „Wirtschaftsflüchtling“ ist ein Schimpfwort. Als ob Elend ein weniger guter Grund wäre, seine Heimat zu verlassen, als Folter und mangelnde Pressefreiheit. Als ob Unterernährung und das Fehlen von medizinischer Behandlung keine „Gefahrensituation“ wären, in die man nicht „zurückgeschich“ werden darf.
In Wahrheit sind auch und gerade die „Wirtschaftsflüchtlinge“ politisch Verfolgte. Gewiss gibt es auch jeweils einheimische Gründe, warum in einem Land Armut und Hunger, Seuchen und Krieg herrschen, aber entscheidend ist eine Weltwirtschaftsordnung, die solche Verhältnisse ermöglicht, begünstigt, erzwingt. Der Reichtum des Nordens hat den Armut des Südens zur Bedingung. Frau Merkel betont gern, dass es dank ihrer Politik vielen in Deutschland besser gehe als vor vier Jahren. Dass deutscher Wohlstand mit Not und Elend anderswo erkauft ist, erwähnt sie selbstverständlich nicht.
Wer in den Westen einwandern will, um den schlechten Lebensbedingungen zu Hause zu entkommen, verwirklicht im Grunde bloß sein Anrecht auf ein Stück vom Kuchen, der auf seine Kosten gebacken wird. Das will die europäische Politik nicht zulassen. Die restriktive und zum Teil letale Flüchtlingspolitik ist nicht nur unschön, traurig und rechtsverletzend, sie ist auch nur die kalkulierte Kehrseite der Weltwirtschaftspolitik. An den EU-Außengrenzen werden Feinde abgewehrt, die es gar nicht gäbe, wenn nicht außerhalb der EU systematisch Unrecht und Elend erzeugt würden.
Merkel lügt, wenn sie sagt: „… jede Gesellschaft ist auf ein Fundament grundlegender Werte und Normen angewiesen, das sich bei uns ganz wesentlich aus christlichen Wurzeln speist.“ Der einzige Wert, der Politikerinnen ihres Schalges interessiert und der tatsächlich den Kern des europäischen und globalen Projektes ausmacht, ist Profitmaximierung. Alles andere ist blenderisches Brimborium.
Merkel steht für eine Politik, die Menschen weiterhin unter unwürdigen, beschädigenden und tödlichen Bedingungen leben lässt, die ihre Flucht aus diesen Verhältnisse behindert oder zur Gefahr für Leib und Leben macht und die den Aufenthalt von denen, die es (vorübergehend) geschafft haben, so unangenehm wie gerade noch möglich gestaltet. So sichert diese Politik deutschen Wohlstand und dessen ungerechte Verteilung. Viele Menschen in Deutschland sind damit sehr zufrieden. Darum wird Merkels Partei gewählt werden und „Mutti“ mindestens vier weitere Jahre Regierungschefin bleiben.
Papst Franz damals auf Lampedusa. „Wir haben uns an das Leiden des anderen gewöhnt, es betrifft uns nicht, es interessiert uns nicht, es geht uns nichts an!“ Na, dann macht mal dein Kreuz, deutscher Wähler, deutsche Wählerin! Der liebe Gott sieht alles.

Samstag, 31. August 2013

Lasst mich doch mit Sotschi in Ruhe!

Aber ja doch, es stimmt, in der Russländischen Föderation liegt einiges im Argen. Die politischen, ökonomischen, kulturellen und nicht zuletzt ökologischen und sozialen Probleme sind vielfältig und erschreckend. Das herrschende „System Putin“ ist dabei keine Lösung, sondern selbst ein Problem. Demokratie und Justiz sind ein schlechter Witz, Opposition und freie Medien werden drangsaliert und marginalisiert und regierungsunabhängige Vereinigungen werden als ausländische Agenten diffamiert. Von der rücksichtslosen Ausbeutung der natürlichen Ressourcen abgesehen ist die Wirtschaft ineffizient und, wie Staat und Kulturbetrieb, geradezu sprichwörtlich korrupt. Seit dem Zusammenbruch der Sowjetherrschaft beruht das nationale Selbstverständnis nur noch auf der schieren Größe des Landes, auf dem immer noch monströsen, wenn auch miserabel verwalteten militärischen Potenzial und auf einer unappetitlichen Verharmlosung von Stalinismus und Breschnewismus. Die Kluft zwischen Reichen und Superreichen einerseits und schierem Elend wächst ständig. Für die enormen Umweltzerstörungen, die stattgefunden haben und immer noch stattfinden, fehlt das Problembewusstsein, geschweige denn ein Lösungsansatz. Kurzum, Russland ist ein ziemlich kaputtes Land und die Mehrheit seiner Bevölkerung kann einem leid tun.
Und dann auch noch das Gesetz gegen „Homo-Propaganda“, demzufolge es verboten ist, in Anwesenheit von Kindern und Jugendlichen positiv wertend über „nichttraditionelle sexuelle Beziehungen“, de facto also Homosexualität, zu sprechen. Da die Anwesenheit Minderjähriger in der Öffentlichkeit immer als gegeben vorausgesetzt wird, macht das Gesetz jede Artikulation schwulen oder lesbischen Selbstbewusstseins, jede Aufklärungsarbeit und in der Folge jede Organisation zu Beförderung von Aufklärung und Selbstbewusstsein unmöglich.
Dieses Gesetz und die breite Zustimmung, die es in der Öffentlichkeit zu erfahren scheint, sind eine üble, eine sehr üble Sache. Aber ich kann nicht erkennen, warum es eigentlich eine üblere Sache ist als zum Beispiel das hochgefährliche Verrotten des Atomwaffenarsenals oder die Austrocknung und Vergiftung des Aralsees, die alltägliche Polizeibrutalität oder der grassierende Alkoholismus, die Unterfinanzierung des Gesundheitssystems oder das erbärmliche Niveau der Löhne und Renten.
Und doch scheint das „Anti-Homo-Progaganda-Gesetz“ die Gemüter in der westlichen Welt weit mehr zu berühren als irgendein anderer Missstand in Russland.
Das Gesetz war noch nicht beschlossen, da wurden schon Rufe laut, wenn Putins Russland den Homosexuellen so etwas antue, dann müsse eben Putins Russland boykottiert werden. Das symbolische Wegschütten von Wodka, wie es in amerikanischen (und Berliner und Schweizer) Schwulenbars praktiziert wurde, war nur ein erster Schritt — in oft die falsche Richtung, weil eine der im Westen beliebtesten „russischen“ Wodka-Sorten von einer niederländischen Firma in Lettland produziert wird.
Zweiter Schritt war die Idee, die Olympischen Winterspiele, die im Februar 2014 in Sotschi am Schwarzen Meer stattfinden werden, müssten boykottiert werden. Eine großartige Idee, finde ich, wenn man sie richtig begründet. Mit der mörderischen russischen Kaukasuspolitik zum Beispiel oder all dem, was ich oben an russischen Miseren skizziert habe: Demokratische und rechtsstaatliche Defizite, ökologischer Irrsinn, soziale Kluft usw. usf. Es nur und ausschließlich mit Russlands Umgang mit Homosexualität zu begründen, scheint mir hingegen reichlich beschränkt.
„Mich stört dieser entsetzliche Narzissmus der Schwestern“, hat jemand das einmal formuliert (und ich habe es hier zitiert). In anderem Zusammenhang, aber aus meiner Sicht auch hier anwendbar. Es ist ja durchaus erfreulich, dass sich unter den westlichen Schwulen (und …) ein vielstimmiger und vielgestaltiger Protest gegen Wladimir Wladimorowitsch Putins Politik abzeichnet, aber warum erst und nur bei diesem einen Thema? So lange es die anderen sind, die man nicht zur eigenen „community“ rechnet, die kritischen Journalisten, die Rentner, die rechten und linken Oppositionspolitiker, die Umwelt- und Menschenrechtsgruppen, so lange es nicht ausdrücklich um Homosexuelles geht, sondern lediglich um allgemeine Probleme, so lange interessiert man sich nicht für Putins Politik. Oder tut man es in anderen Zusammenhängen, wo dann wiederum Homosexualität kein Thema ist? Als „LGBTIQ“ hingegen politisiert man sich anscheinend erst, wenn das eigene Selbstverständnis betroffen ist.
Auch das ist im Grunde Homonationalismus. So lange nämlich ein Staat, eine Gesellschaft sich „homofreundlich“ gibt, also die Existenz einer von den Heterosexuellen zu unterscheidenden Gruppe von Homosexuellen nicht leugnet oder bekämpft, so lange einschlägiger Kommerz und Konsum, Regenbogen- und Paradefolklore ungestört funktionieren, so lange erhebt man seitens der Lesbenundschwulen keinen grundlegenden Einwand gegen das System. Im Gegenteil, wo man geduldet und wo gefeiert wird, dort sieht man gern über sozusagen „sachfremde“ Missstände hinweg und gliedert sich willig in die große bunte Spaß- und Profitmaschine ein, deren Beruhen auf Ausbeutung und Unterdrückung man geflissentlich ignoriert. Sind Antidiskriminierungsvorschriften und bitte, bitte auch die „Homo-Ehe“ erst einmal in Aussicht gestellt oder gar verwirklicht, sind gesellschaftskritische Ansätze von offiziell organisierten Lesbenundschwulen nicht mehr zu erwarten.
Kurz gesagt, was eine brave LBGTIQ-Community ist, das will in die bestehenden Verhältnisse integriert, also Teil des jeweiligen nationalen Projektes sein, das heißt aber eben: Teil der herrschenden, also schlechten Verhältnisse. Einziges Kriterium ist die dabei anscheinend eigene Konsumfreiheit. Ist die gegeben, sieht man großzügig über jeden sonstigen Missstand, jedes sonstige Unrecht hinweg. Mehr noch, indem man die „Freiheit“ und „Toleranz“ der eigenen Nation feiert, unterstützt man in Wahrheit deren Verbrechen.
So scheinen z.B. in den USA diejenigen queers, die eine ausdrücklich kritische Haltung zum kapitalistisch-imperialistischen System einnehmen, eine verschwindende Minderheit zu sein; aber nicht zufällig sind diese in der Regel dann auch gegen die Homo-Ehe, gegen den Dienst in den Streitkräften, das Gefängnisunwesen usw. usf.
Ein (übrigens durchaus denkbarer) russischer Homonationalismus spielt derzeit hingegen keine Rolle. Vielmehr projizieren die westlichen Homonationalismen ihre konformistischen Konzepte auf Russland als deren Gegenbild. Als ob in den USA, Deutschland, Großbritannien, Frankreich usw. alles so zum Besten stünde, dass in diesen Horten der Freiheit Winter- oder Sommerspiele jederzeit stattfinden dürften, während man den zurückgebliebenen Russen erst einmal einbläuen muss, wo Gott wohnt.
So hat etwa der britische Schauspieler und Schriftsteller Stephen Fry an Premierminister David Cameron (und das Internationale Olympische Komitee) einen Offenen Brief geschrieben, in dem er die Olympischen Spiele von 1936 erinnert und ausdrücklich die nationalsozialistische Judenverfolgung mit dem Umgang des Putin-Staates mit Homosexuellen parallelisiert. Nun, nichts ist zu dumm und lächerlich, um nicht von irgendeinem Wichtigtuer als Argument vorgebracht zu werden. Fry dekretiert: „An absolute ban on the Russian Winter Olympics of 2014 on Sochi is simply essential.“ Es wäre ihm ausdrücklich lieber, die Spiele fänden z.B. in den USA statt. Anscheind sind Obamas Drohnenkriege im Unterschied zu Putins Antihomopolitik nicht disqualifizierend. „(Putin) is making scapegoats of gay people, just as Hitler did Jews.“ Und um sein Expertentum zu belegen, hält Fry fest, dass er schon mal in Russland war, schwul und und Jude ist. Wer kann ihm da noch widersprechen? Vielleicht jemand, der weder den britischen Regierungschef — „a man for whom I have the utmost respect“ [sic!] — noch das IOC für moralische Instanzen hält.
Um es ganz klar zu sagen: Die Olympischen Spiele sind ein rein kommerzielles Spektakel, das unter der Fassade von Buntheit und Völkerfreundschaft von den wirklichen Problemen dieser Welt ablenken soll. Als wäre es nicht völlig egal, ob irgendein chemisch präparierter Bioroboter („Athlet“) höher, schneller, weiter rennt, hüpft oder rodelt, während Millionen Mitmenschen im Elend vegetieren, verhungern, an heilbaren Krankheiten krepieren oder als Opfer von Kriegen. Und kein einziger der westlichen Regierungschefs, die doch allesamt Exekutoren dieser himmelschreiend ungerechten Weltordnung sind, kann als moralisches Gegengewicht zu Putin angesehen werden. Der Kriegstreiber Cameron schon mal gar nicht. (Dass und wofür Fry ihn lobt — „you showed a determined, passionate and clearly honest commitment to LGBT rights and helped push gay marriage through both houses of our parliament in the teeth of vehement opposition from so many of your own side. For that I will always admire you“ — ist ein Musterbeispiel narzissistischer Realitätsausblendung und eine gute Grundlage für Homonationalismus.)
Dass ich westlichen Politikern (und ihren devoten Bewunderern à la Fry) das Recht abspreche, Putin, mit dem sie ansonsten prima Geschäfte machen, wegen seiner schwulenfeindlichen Politik zu kritisieren, heißt selbstverständlich nicht, dass keine Kritik erlaubt und möglich ist. Aber man sollte sich an das halten, was wirklich stattfindet.
Die derzeitige Politik der Russländischen Föderation ist das Gegenstück zur derzeitigen Politik im Staat Israel. Gleichsam „Pinksmearing“ statt „Pinkwashing“. Während man nämlich für Israel damit wirbt, dass Tel Aviv ein ganz tolles schwules Nachtleben hat, und damit von Besatzung und Siedlungsbau, Alltagsrassismus und sozialem Verfall, Staatsterror und Völkerrechtsbruch abzulenken versucht, macht man in Russland einen auf dicke Hose, indem man westlichen Standards trotzt und der neumodischer Liberalität im Umgang mit Homosexuellen die gute alte Autorität repressiver Moral entgegensetzt. In beiden Fällen sind die Schwulen und Lesben dem Staat eigentlich völlig wurscht. Eine winzige Minderheit ohne reale Macht, aber mit hohem symbolischen Potenzial. Das kann man für sich verwenden. Während man in Israel jedoch die eigene Homofreundlichkeit vor allem fürs Ausland herausstreicht (und Umfragen zufolge etwa 46 Prozent der israelischen Bevölkerung Homosexuelle für pervers halten), brüskiert man in Russland hemmungslos das Ausland und punktet lieber im Inland (wo Umfragen zufolge 38 Prozent Homosexualität für moralisch verwerflich und weitere 36 Prozent für eine psychische Krankheit halten; 39 Prozent sollen dafür sein, Homosexuelle auch ohne gegen der Willen zu „therapieren“ oder von der Gesellschaft zu isolieren und vier Prozent möchten sie gerne „liquidieren“). Keineswegs geht es in Russland also primär um „staatlich verordnete Homophobie“, vielmehr wird eine gesellschaftlich bereits vorhandene Homosexualitätsfeindschaft vom Regime populistisch genutzt.
Das ist übel. Dagegen kann und soll man etwas tun. Aber man sollte die Homosexualitätsfeindschaft nicht zum isolierten Thema machen. Es gilt, intersektionell zu denken. „Homophobie“ ist nur eine weitverbreitete kritikwürdige Einstellung, eine andere ist zum Beispiel Rassismus. Tagtäglich wird Jagd auf „Schwarzärsche“ (Menschen aus dem Kaukasus) gemacht, und mit asiatischer oder afrikanischer Herkunft muss man in Russland jederzeit sehr auf der Hut sein. Sollen Lesbenundschwule sich sagen: Was geht uns das an? Das ist schließlich kein LGBTIQ-spezifisches Problem. Wer so denkt, zeigt, dass die herrschende Homopolitik eine der weißen, bürgerlichen Konformisten ist. Und das ist sie ja wohl tatsächlich …
Wer sich über Putins Gesetz gegen „Homopropaganda“ empört und einen Boykott von Sotschi 2014 fordert, muss sich fragen lassen: Wärst Du auch noch für den Boykott, wenn das Gesetz aufgehoben würde? Wäre dann aus Deiner Sicht alles in Ordnung? Der Rest interessiert Dich nicht?
Ich meinerseits bin für einen Boykott: Aber aus den richtigen Gründen! Weil Olympische Spiele, wo immer sie stattfinden, widerlich sind. Weil Russland ein autoritär geführter, seine schwerwiegenden sozialen, ökologischen Probleme nicht einmal eingestehender, geschweige denn angehender Staat ist. Ich bin aber nicht für einen Boykott wegen des Gesetzes gegen „Homopropaganda“; das sind übrigens die organisierten russischen Schwulen (und …) auch nicht: Weil sie wohl zu Recht vermuten, dass Boykottaufrufe des Auslands ihre Situation in Russland verschlimmern. (Siehe hier.)
Darum schließe ich mich dem unter Schwulen (und …) grassierenden Protest nicht an. Und schon gar nicht, wenn ausgerechnet Sportler und Sportfunktionäre dabei zu (potenziellen) moralischen Vorbildern stilisiert werden. Dieses Getue anlässlich der Leichtathletikweltmeisterschaften in Moskau um lackierte Fingernägel und einen „lesbischen“ Kuss, der dann doch keiner war, sollte allen eine Lehre sein. Menschen, deren Lebensinhalt darin besteht, völlig sinnlose körperliche Höchstleistungen zu vollbringen, sind schwerlich geeignete Ansprechpartner für ethische und politische Themen. Ich bedaure sie, die nichts Besseres zu tun haben, und ich verabscheue die, die ihnen zujubeln und sie für „Helden“ halten. Wie hirnlos muss man sein, um jemanden dafür zu feiern, dass er seinen Körper ruiniert hat, um irgendeine belanglose Tätigkeit ein paar Hundertstelsekunden schneller als ein anderer auszuüben?
Ich boykottiere seit 47 Jahren jede Form von Sport. Ich werde also auch Sotschi 2014 boykottieren, das versteht sich von selbst. Ich werde es ausdrücklich auch deshalb tun, weil jener Ort, dessen ursprüngliche Bewohner (Sadsen, Ubychen, Schapsugen) im 19. Jahrhundert von Russen massakriert, vertrieben oder assimiliert wurden, durch die Zurüstung für die Winterspiele massiver Umweltzerstörung ausgesetzt ist. Aber ich werde nicht in das selbstgerechte Geheul jener einstimmen, die die Russländische Föderation wegen ihrer Homofeindlichkeit anklagen, aber in Ländern, die außerhalb der Touristengebiete nicht weniger schwulenfeindlich sind als Russland, gerne Urlaub machen. Oder jener, die Putin (zu Recht!) für einen autoritären Pseudodemokraten halten, aber den Machthabern des Westens dankbar zu Füßen liegen, wenn sie bloß ein paar warme Worte für ihre lieben, braven Schwuchteln finden.
Keinen Fußbreit dem Homonationalismus! Keinen Homo-Boykott gegen Sotschi! Nieder mit dem Leistungssport!
Aber auf mich wird ja wieder keiner hören …

Mittwoch, 21. August 2013

Aufgeschnappt (beim „Allherrn“)

Ich habe jedermann wie seinesgleichen geschaffen / und nicht befohlen, daß sie Unrecht tun. / Es ist (nur) ihr Wille, der meinem Wort zuwiderhandelt.


Altägyptischer Sargtext (Altägyptische Dichtung, ausgewählt,
übersetzt und erläutert von Erik Hornung, Stuttgart 1996, S. 117)

Sonntag, 18. August 2013

Wäre Heterosexualität die vernünftigere Wahl?

Als Kommentar unter einem Artikel von „Spiegel online“ (über die Verurteilung des russischen Vereins „Wichod“ nach dem „Agentengesetz“) fand ich dies: „Homosexualität ist keine Krankheit, und schon gar nicht heilbar. Wer schwul ist, ist schwul. Und wer nicht, ist eben Hetero. Weder das Eine noch das Andere kann man sich aussuchen, man ist eben einfach entsprechend veranlagt. Zwar merkt man evtl. erst später, welches Geschlecht einen wirklich anzieht, aber aussuchen kann man sich das nicht. Bei den Anfeindungen, denen Homosexuelle ausgesetzt sind, würde sich doch ein vernünftiger Mensch, wenn es denn möglich wäre, die heterosexuelle Orientierung aussuchen.“
Der Kommentar ist nicht namentlich gezeichnet (nur mit einer Mailadresse). Es ist für meine Zwecke aber auch völlig egal, wie der Autor oder die Autorin heißt, welches Geschlecht oder welche sexuelle Orientierung die verfassende Person hat. Mir gefällt der Text, weil er so klar und schnörkellos die in vielen, wenn auch keineswegs allen gegenwärtigen Gesellschaften herrschende Auffassung von Homosexualität formuliert. Eben diese Auffassung möchte ich im Folgenden kritisieren.
„Wer schwul ist, ist schwul. Und wer nicht, ist eben Hetero.“ Ist dem so? Gibt es sie wirklich, die beiden von einander deutlich abgrenzbaren Bevölkerungsteile „Schwule“ (bzw. „Lesbenundschwule“) und „Heteros“? Immerhin ist es üblich, auch noch eine dritte Existenzform anzuerkennen, „Bisexuelle“ genannt. Die freilich in öffentlichen Debatten niemals eine Rolle spielt. Oder hat man je eine Diskussion über „Bisexuellen-Ehe“ und das Recht von Bisexuellen auf Adoption vernommen? Das hat selbstverständlich damit zu tun, dass es dem allgemeinen Verständnis zufolge schlichtweg kein „bisexuelles Paar“ geben kann. (Sofern man, was im Allgemeinen der Fall ist, von klar abgegrenzten Identitäten „Mann“ oder „Frau“ ausgeht.) Was es allenfalls geben kann, wären „Paare von Bisexuellen“. Aber das ist zu differenziert gedacht. Für gewöhnlich wird nämlich auch „heterosexuelles Paar“ mit „Paar aus Heterosexuellen“ und „homosexuelles Paar“ mit „Paar aus Homosexuellen“ gleichgesetzt. Als ob das selbstverständlich wäre.
Ist es jedoch nicht. Ebenso wenig wie die Einteilung in in bloß zwei Kategorien: „hetero“ und „homo“ (und, wie gesagt, die marginale Überschneidungskategorie „bi“). Zur Erinnerung: Der Sexualforscher Alfred Kinsey hatte bei seinen Erhebungen und deren Auswertung noch ein zwar ebenfalls sehr simples, aber wenigstens ansatzweise differenzierendes Modell angewandt: ausschließlich heterosexuell, ganz überwiegend heterosexuell, eher heterosexuell, gleichermaßen hetero- wie homosexuell, eher homosexuell, ganz überwiegend homosexuell, ausschließlich homosexuell. Es ist offensichtlich, dass man mit einem solchen Schema, so ungenügend es sein mag, der Lebenswirklichkeit von Menschen näher kommt als mit einer bloßen Zweiteilung, die dann suggeriert, es stünden sich exklusiv Heterosexuelle und exklusiv Homosexuelle gegenüber.
Das Dogma lautet: Man ist entweder schwul oder man ist es nicht. Für Heteros gilt umgekehrt dasselbe. Differenzierungen interessieren nicht. Das ist das vorherrschende Bild. Indem so getan wird, als gäbe es nur Exklusiv-Homosexuelle und Exklusiv-Heterosexuelle (und dazwischen eine nicht weiter beachtenswerte Gruppe von Unentschiedenen), wird die Vorstellung begünstigt, Homosexualität bzw. Heterosexualität sei eine „innere Wahrheit“, die das Individuum, für das sie gilt, bloß entdecken und — am besten öffentlich — anerkennen muss, um ganz es selbst zu sein.
Die Funktion, die eine solche Ideologie hat, ist offensichtlich: Wenn Homosexualität nicht mehr eine jedem Menschen mögliche Weise des Begehrens und Handelns ist, sondern nur noch als Homosexuellsein der Homosexuellen verstanden werden kann, dann sind die Heterosexuellen endlich von der Homosexualität befreit. Sie haben einfach nichts mehr damit zu tun. Homosexualität ist etwas, was ausschließlich Homosexuelle betrifft. Und homosexuell sind Heterosexuelle ja per definitionem nicht — also ist ihre nichthomosexuelle Heterosexualität perfekt, abgeschlossen und rein.
Das moderne Homosexualitätskonzept lagert Homosexualität aus der Mehrheit aus und verbannt sie in eine Minderheit. Zu der kann man dann auch freundlich sein. Was soll man auch gegen Homosexuelle haben, wenn sie doch so brav unter sich bleiben? Nur in „rückständigen“ Gesellschaften, die homosexuelle Betätigung nicht als angeborenen und unveränderlichen Ausdruck der innersten Wahrheit einer Person begreifen, sondern als Sünde, Laster, Krankheit oder Verbrechen, muss noch gegen Verführung oder Ansteckung vorgegangen werden. Liberale Gesellschaften hingegen wissen sich von der Bedrohung durch Homosexualität befreit (einige unverbesserliche, meist religiös motivierte Reaktionäre hinken dem noch hinterher, aber die sind in einer liberalen Gesellschaft ohnehin nur ungern gesehen). Die Gefahr ist gebannt. Vor einer Homosexualität, die nur noch die betrifft, die gar nicht anders können, geht keine Beunruhigung oder Verstörung mehr aus. Es ist halt eine Laune der Natur. Wie Linkshändigkeit oder Albinismus.
„Ich habe mir meine Homosexualität nicht ausgesucht“ und „I’m born this way“ lauten von Seiten der Schwulen die dazu passenden Rechtfertigungsformeln. So richtig es ist, nicht nach Ursachen von Homosexualität forschen zu wollen, so lange die Ursachen für Heterosexualität nicht erforscht werden können, weil diese mit Sexualität schlechthin identifiziert wird und als natürlich gilt, so falsch ist es, mit der Zurückweisung jeder Entscheidungsfreiheit und unter Berufung auf Angeborensein implizit einer genetischen Verankerung das Wort zu reden.
Wer solchem mehr oder minder stillschweigendem Biologismus huldigt, begibt sich auf dünnes Eis. Erstens ist trotz aller Bemühung (und entgegen umlaufenden Gerüchten) nichts gefunden worden, was eine Ableitung homosexueller Präferenz aus irgendwelchen körperlichen Gegebenheiten plausibel macht, geschweige denn zwingend nahelegt. Zweitens kann, was als Entschuldigung gedacht ist, jederzeit auch als Beschuldigung gemeint sein, denn vom Verständnis von Homosexualität als natürliche Variante zum Vorwurf der Degeneration und Missbildung ist es nur ein Schritt. Und drittens wird ein solches (implizites oder explizites) biologisches (Homo-)Sexualitätsmodell der Komplexität von kulturell geformten Sozialbeziehungen und gesellschaftlichen Verhältnissen nicht einmal annäherungsweise gerecht. Begehren und Lust, Intimität und Bindung, Selbstverständnis und Institutionalisierung sind doch wesentlich kompliziertere Angelegenheiten als etwa die Haarfarbe.
Aber die Doktrin vom Angeborensein ist durchaus sinnstiftend. Wenn auch bloß negativ. Kann nämlich homosexuelles Verhalten in keiner Weise mehr als etwas verstanden werden, für das man sich entschieden hat, ist nicht nur keine Kritik an Homosexualität mehr möglich, sondern auch keine Kritik durch Homosexualität. Dann ist auch — und das dürfte der Grund für den Erfolg dieses Konzeptes sein — Heterosexualität völlig unkritisierbar. Die Verhältnisse sind, wie sie sind, und wie sie sind, ist vorgegeben.
Die Normalisierung von Homosexualität läuft auf eine Naturalisierung von Heterosexualität hinaus. Diese hat dann mehr denn je das Recht, sich durchzusetzen. Wenn es für Homosexuelle, aber auch nur für sie, normal und richtig ist, sich homosexuell zu betätigen, dann ist es für Nichthomosexuelle umso unangebrachter. So etwas wie Jugendhomosexualität, also die berüchtigte „homoerotische Phase“, ist auf dem Rückzug. Studien belegen eine enormen Rückgang gleichgeschlechtlicher Erfahrungen bei Jugendlichen. Der Grund ist klar: Wenn homosexuelle Empfindungen und Handlungen als Ausdruck einer zu Grunde liegenden homosexuellen Identität interpretiert werden müssen — und sie müssen es umso mehr, je offener darüber geredet werden kann —, werden in dem Maße, in dem die Identität als unpassend empfunden wird („Ich bin nicht so“), auch bestimmte Handlungen unerwünscht („So etwas mache ich nicht“). Anders gesagt: Wer irgendwann einmal ein richtiger Heterosexueller sein will, schottet sich besser beizeiten gegen die bloße Möglichkeit ab, er könne es irgendwann irgendwie nicht gewesen sein.
Wie es der anonyme Verfasser oder die anonyme Verfasserin des eingangs zitierten Leserbriefs so schön formuliert hat: „Zwar merkt man evtl. erst später, welches Geschlecht einen wirklich anzieht, aber aussuchen kann man sich das nicht.“ Das meint: Es gibt ein eigentliches Begehren und das ist entweder auf das eine oder das andere Geschlecht gerichtet, alles andere ist Irrtum. Den gilt es zu vermeiden. Das gelingt nicht immer, aber in der Regel Heterosexuellen besser als Homosexuellen.
Der Grund, warum, dem Leserbriefschreiber oder der Leserbriefschreiberin zufolge, es sich nicht um eine Wahl handeln kann, scheint einleuchtend: Da Heterosexualität beliebter ist als Homosexualität, wäre man verrückt, sich letztere auszusuchen. Schwul ist nur, wer gar nicht anders kann, so sehr er vielleicht wollte, wenn er es sich aussuchen könnte.
Damit wird der Primat der Heterosexualität einmal mehr naturalisiert. Es ist einfach so, das Heterosexualität das ist, was jeder haben will. Homosexualität wäre unvernünftig, wenn sie nicht unvermeidlich, weil natürlich wäre. Nur Heterosexualität ist im Grunde vernünftig, normal und natürlich zugleich. Nach ihr bemisst sich, wie akzeptabel etwas anderes ist. Damit ist sie etwas, was nicht begründet werden muss, was vielmehr von sich aus Norm ist und was darum nicht kritisiert werden kann. Schon gar nicht durch Homosexuelle.
Ohne es auch nur zu bemerken, bringen somit die, die „Toleranz“ fordern oder gewähren, weil Homosexualität wie Heterosexualität nichts sei, was man sich aussuche und nichts, was ändern oder gar loswerden könne, jede Möglichkeit zur Kritik an den bestehenden Verhältnissen zum Verschwinden. Solche „Toleranz“ mag dem Einzelnen, dem sie entgegengebracht wird, den einen oder anderen Vorteil bringen, für die Möglichkeit, die Machtverhältnisse zu kritisieren, in denen und durch die etwas als natürlich, rational, normativ gilt, ist derlei verheerend.