Sonntag, 15. September 2013

„Du sollst nicht wählen“ (3)

Ich bin also Nichtwähler. Damit macht man sich, wie gesagt, keine Freunde. Im Gegenteil, als Wahlverweigerer wird man regelmäßig angepöbelt. Was einem einfalle, nicht zu Wahl zu gehen, man sei wohl kein Demokrat, man wolle sich wohl nicht die Finger schmutzig machen, man halte sich wohl für etwas Besseres? Alle gehen doch wählen, bis auf die Dummen und Faulen, und da willst ausgerechnet du dich ausschließen? Bitte schön, dann eben nicht, aber dann darfst du hinterher auch nicht meckern, wenn bei den Wahlen etwas herauskommt. was du nicht willst.
Zu den infamsten Lügen der Wählereibefürworter gehört, wer nicht mitwähle, habe hinterher auch kein Recht, sich zu beschweren. Diese Logik erschließt sich mir nicht. Wenn ich als Pazifist jeden Kriegsdienst ablehne, heißt das ja wohl auch nicht, dass ich deshalb das Stattfinden, den Verlauf und den Ausgang von Kriegen nicht beurteilen kann und darf. Im Gegenteil, gerade weil ich gegen Gewalt bin, kann ich Gewaltanwendung und ihre Folgen kritisieren. Ebenso gilt, dass wer sich weigert, an den Ritualen eines bestimmten politischen Systems mitzuwirken, deshalb nicht nur nicht das Recht verliert, diesem System und seinen Funktionären die Leviten zu lesen, sondern dass ganz im Gegenteil gerade er geradezu dazu berufen ist, dies zu tun, da er nicht durch Komplizenschaft belastet ist.
Übrigens rechne ich das dem liberalen demokratischen System hoch an, dass es mich in dieser weitgehend in Ruhe lässt, mir meine Dissidenz erlaubt und mich nicht zwingt, Zustimmung zu heucheln. Dass ich lieber in einer Demokratie lebe als unter einem autoritären oder totalitären Regime, heißt freilich nicht, dass ich jede Demokratie, auch eine heruntergekommene, gut oder Demokratie als solche optimal finden muss. Ich finde es auch besser in einem wohlhabenden Land zu leben, das heißt aber nicht, dass ich eine Weltwirtschaftsordnung billige, die Länder und Menschen in Wohlhabende und Arme teilt, die Menschen in Dreck und Elend leben und an Hunger, Krankheit, Krieg sterben lässt.
Man muss kein „Demokrat“ (im nicht-radikalen Sinne) sein, um irgendeine Demokratie irgendeiner Diktatur vorzuziehen. Ich persönlich hätte allerdings auch nichts gegen eine Diktatur, vorausgesetzt, der Diktator bin ich. Rein logisch betrachtet wäre doch das Zweitbeste nach der Anarchie, wo kein Mensch herrscht, eine Autokratie, wo nur einer herrscht. Und da wäre mir niemand lieber als gütiger und weiser Herrscher las ich … Eine Demokratie jedenfalls, in der — dem Anspruch, nicht der Wirklichkeit nach! — alle herrschen, ist von der Anarchie von allen politischen Systemen am weitesten entfernt.
Tatsächlich sind die real existierende Demokratien dieser Welt aber eigentlich Oligarchien. Man lässt wählen, weil das das System stabilisiert. Wenn die Regierten den Eindruck haben, sie könnten mitbestimmen und hätten mitbestimmt, sind sie zufriedener und folgsamer, als wenn man ihnen offen sagt, sie hätten nichts zu melden und die wichtigen Entscheidungen seien sowieso schon getroffen worden. (Das tarnt man bei Bedarf als „Sachzwang“.)
Wenn Wahlen etwas ändern könnten, wären sie verboten. Gegen diese kluge Einsicht von Emma Goldman hat, so weit ich sehe, noch nie jemand ein überzeugendes Argument vorgebracht.
Und es gilt auch umgekehrt: Wo Wahlen verboten sind, könnten sie etwas ändern. In einem System, das Wahlen verbietet oder fälscht, das politische Opposition behindert oder unterdrückt, in einem solchen System sind allgemeine, freie, gleiche und geheime Wahlen unbedingt wünschenswert. Sie wären dann ein Mittel gegen das Unrecht.
In einer liberalen Demokratie hingegen geht es in der Regel bei Wahlen um nichts. Es liegt im Wesen des politischen Marktes, dass sich auf ihm alle Angebote angleichen. Rein theoretisch könnten auch hier Wahlen alles umstürzen, weil aber völlig unwahrscheinlich ist, dass sie das tun, darf alles gewählt werden, was zu Wahl steht. Heraus kommt Austauschbares. Parteien, Programmatiken, Kandidaten unterscheiden sich letztlich nicht stärker von einander als die Produkte verschiedener Schnellfraßketten. Wo doch Unterschiede und grundsätzliche Veränderungsvorschläge vorkommen, ist ziemlich sicher, dass sie keine Rolle spielen werden.
Ein Beispiel gefällig? Die deutsche Bundestagswahl ist im Grunde seit langem entschieden. Hinterher wird Merkel zur Kanzlerin gewählt werden. Ob sie dabei doch wieder mit der FDP oder, falls diese floppt, mit der SPD koalieren wird, ist auch schon egal. Selbst ein Kanzler Steinbrück machte keinen Unterschied. Oder hat Rotgrün damals wirklich eine grundsätzlich andere Politik gemacht als Schwarzrot oder Schwarzgelb? Die als Rot-Rot-Grün bezeichnete Möglichkeit gilt als ausgeschlossen. Doch selbst wenn sie verwirklicht würde, wäre, was sie innerhalb des vorgegebenen Rahmens vermöchte, nur systemimmanenter Reformismus.
Dass bei einer Wahl nichts Grundstürzendes passieren kann, mag man gut heißen. Dann soll man wählen gehen. Die einen wollen ein Weiterso, die anderen Glauben an ein bisschen Veränderung. Beides ist nichts für mich. Ich will mehr und anderes, das ist mit Wahlen nicht zu erreichen ist. Vielleicht ist es überhaupt nicht zu erreichen, aber wenn zumindest darüber geredet werden kann, dann nur im Abseits und in der Verweigerung. Eine freie und gerechte Gesellschaft ist nicht per Abstimmung herstellbar. Ob und wie sie überhaupt zu Stande kommen kann, ist schwer zu sagen. Das liegt auch daran, dass sich die „Demokratie“ zum ultimativen politischen System erklärt hat — so wie der Kapitalismus zum ultimativen ökonomischen —, wodurch über sie hinauszudenken leicht als Utopismus und Eskapismus diffamiert werden kann.
Nichtwählen ist aber nicht, wie die Wählereibeführworter behaupten, die bequemere Haltung. Viel komfortabler ist es, sich mit Wählerei zu stimulieren und zu beruhigen, als den prinzipiellen Widerspruch auszuhalten, dass es keine Wahl gibt, solange es Wahlen gibt. Wer an den Fortschritt, die List der Vernunft, die Weisheit der Massen glaubt, hat es leicht. Wer aber weiß, dass nur die Einzelnen zählen, aber jeder von ihnen, kann auf keinen verzichten, auch auf die nicht, die Unrecht haben, und sich dabei nicht irre machen zu lassen, ist schwer.
Für mich kommt nur eine Wahl in Frage, bei der jeder jeden wählt, woraufhin jeder nur sich selbst vertreten darf. Die Herstellung von Mehrheiten und Minderheiten lehne ich ab, ebenso die entmündigende Stellvertretung für die, die durchaus für sich selbst sprechen und handeln können. Darum gehe ich nicht wählen. Anders gesagt, ich habe schon gewählt: die Nichtteilnahme an der Wahl. Wer macht mit?

2 Kommentare:

  1. schon wieder ist ein kommentar verschwunden. fuck

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    1. Schon wieder? LiebeR Anonym, vielleicht machen Sie was falsch? Ich nehme z.B. an, das Kommentarkästchen akzeptiert nur eine gewisse Anzahl Zeichen. Oder Sie haben sonst eine technische Vorgabe missachtet. Ich für meinen Teil kann mir das "Verschwinden" jedenfalls nicht erklären. Mein Tipp: Kommentar erst schreiben, dann selbst abspeichern, dann abgeben. Sollte er dann geheimnisvollerweise "verschwinden", haben Sie ihn trotzdem noch - und können ihn mir per E-Mail schicken. Das hätte dann allerdings anonym keine Chance.

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