Sonntag, 15. September 2013

„Du sollst nicht wählen“ (1)

Allein schon, dass alle Welt will, dass man wählen gehe, ist doch wohl höchst verdächtig. Geh wählen, geh wählen, geh wählen, tönt es von überallher. Geh wählen, heißt es, egal was, Hauptsache, du wählst überhaupt. Wählen gehen sei wichtig, heißt es. Das glaube ich auch. Wählen gehen stärke die Demokratie, heißt es. Auch das glaube ich. Gerade deshalb bin ich ja dagegen.
Als Nichtwähler macht man sich im real existierenden Demokratismus nicht beliebt. Nichtwähler werden als passive Ignoranten, als faule Verweigerer, als überzählige Mitbürger betrachtet, die den anständigen und fleißigen Wählern und Wählerinnen politisch auf der Tasche liegen und am Wahltag, der bekanntlich Zahltag ist, ihren notwendigen Beitrag nicht leisten. Pfui. Wer nicht wählt, der soll eigentlich gar nicht existieren.
Dass man auch Nichtwähler sein kann, ohne politisch desinteressiert und inaktiv zu sein, darf nicht wahr sein. Wer nicht wählt, hat einen Defekt. Der kann vielleicht mit Verdrossenheit entschuldigt werden, bleibt aber ein Übel, das besser beseitigt würde. Nichtwählen aus Überzeugung aber, wo gibt’s denn so was!
Wahlen gelten als Kernbestandteil der Demokratie, und die Demokratie ist die Heilige Kuh (um nicht zusagen: das Goldene Kalb) der kapitalistischen Gesellschaft. Wer Demokratie nicht toll findet und nicht als die einzig vernünftige und erstrebenswerte Regierungsform anhimmelt, ist mehr als verdächtig. Der ist draußen. Nur Nazis und Kommunisten und solches Gesocks sind keine Demokraten. (Wobei man verdrängt, dass Hitler von der „germanischsten Demokratie“ schwärmte und die Bolschewisten ihre Gewaltherrschaft als „demokratischen Zentralismus“ betitelten.)
Undenkbar, dass man auch aus guten Gründen gegen Demokratie, so wie sie ist, etwas haben könnte. Also sage auch ich nicht etwa, ich sei Antidemokrat, sondern bezeichne mich als Demokratiekritiker. Das stimmt allerdings auch in der Sache, denn ich will nicht ja weniger als Demokratie, sondern mehr. Als Anarchist sähe ich gerne das an demokratischen Systemen, was an ihnen noch Herrschaft von Menschen über Menschen ist, überwunden. Wenn man also unter radikaler Demokratie verstehen kann, dass alles, was ihn betrifft, von jedem Mündigen mitbestimmt wird, dann bin ich radikaler Demokrat.
Radikale Demokratie und Anarchie sind so gesehen für mich Synonyme und bezeichneten ein politisches System, in dem jeder bei allem, was ihn etwas angeht, mitreden darf und in dem er mitentschieden haben muss, damit Entscheidungen als legitim betrachtet werden können. Das kann nicht funktionieren, lautet sofort der Einwand. Das ergibt nur endloses Gequatsche und letztlich völlige Blockade, weil es immer jemanden gibt, der sich querlegt. Nun, ich habe auch nicht gesagt, dass Anarchie „funktionieren“ wird, ich sage, dass ich sie mir wünsche. Das Wünschbare braucht mit dem Machbaren nicht immer identisch zu sein, denn dürfte man sich nur wünschen, was machbar ist, wäre bald nur noch wünschenswert und erwünscht, was sowieso gemacht wird.
Ich halte mein Wunschdenken aber für kritischen Realismus. Eine andere Wirklichkeit ist möglich! Wäre sie es nicht, wäre jede Kritik am Bestehenden sinnlos. Daraus folgt selbstverständlich nicht, dass immer alles möglich ist. So erscheint es mir zwar jetzt schon als wünschenswert und machbar, auf radikale Demokratie hinzuarbeiten, sie aber spontan global und restlos umzusetzen mit den Menschen, so wie sie heute drauf sind, halte ich für eher schwierig bis unmöglich. Miteinander umzugehen, ohne einander beherrschen zu wollen, das muss man nämlich erst lernen.
Allerdings ist es im Grunde die selbstverständlichste Sache von der Welt. Man stelle sich vor, eine paar Freunden verabredeten sich, gemeinsam ins Kino zu gehen. Welchen Film sollen sie sich anschauen? Einige wollen diesen, andere jenen. Hat es da Sinn, abzustimmen und die Mehrheit entscheiden zu lassen? Warum soll sich jemand einen Film anschauen, den nicht er, sondern jemand anderer sehen will? Und was, wenn es zum Beispiel nur zwei Leute sind? Da ergäbe jede Abstimmung entweder Einstimmigkeit oder ein Patt. Und doch schaffen es Paare immer wieder, ach bei unterschiedlichen Interessen, Vorlieben und Überzeugungen, gemeinsame Entscheidungen zu treffen. Rücksichtnahme und Kompromissfähigkeit werden da Schlüsselbegriffe sein. Warum aber soll, was im Kleinen möglich, ja unabdingbar ist, im Großen nicht „funktionieren“ können? Doch nur deshalb, weil es noch kein Bewusstsein, keine Sensibilität, keine Methoden, keine Modelle für die Kunst des herrschaftsfreien Miteinanders gibt.
Stattdessen macht man Wahlen und Abstimmungen. Das hält man für Demokratie. Hände hoch oder Zettel in die Urne, und dann wird abgezählt. Diese Wählerei schmeichelt der Eitelkeit des Einzelnen. Er ist dann mit einem Mal sehr wichtig, seine Meinung ist gefragt, er darf mitbestimmen. Dass sein Votum nur ein statistisches Pünktchen ist, fällt dabei nicht ins Gewicht. Auf jede Stimme komme es an, heißt es. Stimmt schon. Aber bloß als Teil einer Quantität. Qualitativ bleibt der Stimmabgebende völlig austauschbar. Das ist wie in der Marktwirtschaft: Wer die angebotenen Waren kauft, ist völlig wurscht, Hauptsache, sie werden bezahlt. Und so ist es auch egal, wer wofür stimmt, es kommt nur darauf an, wie viele wofür stimmen. Eine umfassendere Auslöschung von Singularität und Persönlichkeit ist gar nicht denkbar, das geht noch über die herrschende Massenkultur hinaus, die immerhin aus konsumierbaren Versatzstücken zusammengesetzte Pseudo-Individualitäten fabriziert. (Allerdings hat eine Darstellung von Politik, bei der es nur um Quantitäten in Gestalt von bunten Säulchen und Tortenstücken und Kurven geht, auch wieder viel Ähnlichkeit mit den abstrakten Leistungen des Sports und der Charts-Vernarrtheit der Popkultur.)
Kurzum: Demokratie, verstanden als Abstimmerei, hat mit radikaler Demokratie so viel zu tun wie der Publikumsjoker einer Quizshow mit einem Gespräch von Experten und Betroffenen. Das zu Grunde liegende Prinzip stimmt einfach nicht. Die Mehrheit hat niemals Recht, sie ist einfach nur die Mehrheit. Wie oft eine Meinung vertreten wird, besagt doch nichts über deren Richtigkeit oder Berechtigung. Dass die Mehrheit entscheidet, ist nichts anderes als das formalisierte „Recht“ des Stärkeren, das bekanntlich keines ist, sondern bloß Gewalt. Wir sind mehr als ihr, das heißt doch nichts anderes als: Wir können euch überwältigen, wenn ihr es darauf ankommen lasst.
Wenn eine Million Menschen über etwas abstimmt, und 500.001 entscheiden sich für A und 499.999 für B, ist dann wirklich A legitimiert? Rein formell nach einem bestimmten Demokratieverständnis schon. Allerdings wird auch der gestandenste Demokrat bei solchem Ergebnis ein Unbehagen haben. Hier könnte eine Seite die andere eben nicht überwältigen. Bei 55 Prozent zu 45 schon eher. Bei 75 zu 25 erst recht. Jenseits der 90 ist jeder Widerstand gebrochen. Es geht in Wahrheit also um Gewaltverhältnisse, und doch tut man so, als ob bei 50 Prozent plus X eine magische Grenze überschritten würde, die irgendeine Entscheidung von einer beliebigen in eine legitimierte verwandeln könnte. Eine Art säkularisiertes Gottesurteil.
Warum man nun solche Mehrheitsentscheidungen mit „demokratischer Reife“ akzeptieren soll, habe ich nie verstanden. Für sich genommen ist bloße Quantität noch kein Argument. Mehr von etwas zu haben, ist nur dann gut, wenn dieses Etwas gut ist. Etwas Falsches wird nicht richtig, wenn mehr Leute es unterstützen als ablehnen. Wenn ein solches Verfahren nicht als Herrschaftstrick zu durchschauen „reif“ sein bedeutet, bleibe ich lieber unreif.
Einstimmigkeit (Jeder stimmt zu) oder Einmütigkeit (Keiner stimmt dagegen) mögen mühsame und (nach welchen Kriterien eigentlich) „ineffiziente“ Verfahren sein. Aber sie sind die einzigen, die tatsächlich jedem, der am politischen Prozess teilnimmt, dasselbe Recht zubilligen. Die mehrheitsbildende Abstimmerei hingegen entwertet die, die in der Minderheit sind. Viel besser, als nun nachträglich Minderheiten zu schützen, wäre es, ein Einteilen in Mehrheiten und Minderheiten von vornherein zu unterlassen.
Darum gilt aus meiner Sicht: Du sollst nicht abstimmen!

1 Kommentar:

  1. "Radikale Demokratie und Anarchie sind so gesehen für mich Synonyme und bezeichneten ein politisches System, in dem jeder bei allem, was ihn etwas angeht, mitreden darf und in dem er mitentschieden haben muss, damit Entscheidungen als legitim betrachtet werden können. Das kann nicht funktionieren, lautet sofort der Einwand. Das ergibt nur endloses Gequatsche . . . "

    Doch es kann funktionieren. Wir haben es teilweise 68 auf privater Ebene umgesetzt, gelebt.

    Wir meinen nur das es nicht funktionieren kann weil wir mit einem anderen Bewußt sotialisiert und somit geprögt sind. Vor allen Dingen auch weil Anarchie negativ konnotiert ist. Kommunikation ist alles. Wir praktoezieren es täglich. Auf einigen Gebieten haben wir mehr Übung auch im erreichen dessen was wir wollen, auf anderen gebieten haben wir weniger Erfolg weil wir keine Übung haben weil uns "über etwas zu reden wie Tabus, Fremdes, etc fremd ist".

    Mehr auf politischer Ebene an Entscheidungen beteiligt zu werden, mitbestimmen den Alltag zu gestalten ja das wäre auch meine Devise.

    Im übrigen wo "keine Kommunikation stattfindet ist die Kacke für viele Menschen am dampfen. Das beste Beispiel ist ja zur Zeit Russland im Kontext zu dem Gesetz zum Verbot von “Homosexuellen-Propaganda”. Und auch wir kennen es aus unserer eigenen Geschichte.

    Demokratischer Anarchist . . . gfällt mir :)

    gez alivenkickn

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