Montag, 30. Oktober 2017

Nicht gelesen zu werden ist vermutlich besser als gelesen zu werden, denn wie die Erfahrung zeigt, lesen die Leute in das, was man geschrieben hat, allerhand hinein, was nicht darin steht, und ignorieren vieles, was sie darin hätten lesen können. Es geht dabei nicht um Missverständnisse, die sich hätten vermeiden lassen, wenn man klarer und deutlicher geschrieben hätte, sondern um eine grundsätzliche Unfähigkeit, einen Unwillen, sich von Texten etwas sagen zu lassen, was man so nicht erwartet hat. Man mag so verständlich und unmissverständlich schreiben, wie es nur möglich ist, die Leute werden immer nur das lesen, was sie bestätigt, und nie das, was sie in Frage stellt. Und selbst sie offen und zugänglich sind, wenn sie Kritik schätzen, wünschen sie sich, dass das kritisiert werde, was sie (an anderen und an sich selbst) ohnehin nicht mögen.
Manchmal muss man harte Entscheidunge treffen, zweifellos, Entscheidungen, mit denen man sich keine Freunde macht, die aber von der Sache her notwendig zu sein scheinen. Jene Leute jedoch wollen sich bloß den Anschein geben, hart und entschieden zu sein, um sich beliebt zu machen. Was sie vorhaben, entbehrt der sachlichen Notwendigkeit. Man soll von ihnen denken, dass sie bereit seien, notfalls auch über Leichen zu gehen, freilich ohne für einen einzigen Toten die Verantwortung zu übernehmen. Was sie treiben, ist das Gegenteil von Politik, sofern man darunter die Kunst versteht, das Zusammenleben aller zu gestalten. Sie fördern ein Gegeneinander, um auf Kosten vieler einige zu begünstigen. Den vielen machen sie vor, dass gerade sie zu den Begünstigten gehören. Damit der Betrug nicht auffällt, vergiften sie die Stimung und machen das entscheidende Angebot: hassen zu dürfen, auf Kosten anderer sich selbst aufzuwerten, auf andere hinunterzusehen.

Donnerstag, 19. Oktober 2017

Ein paar einfache Dinge, die ich stattdessen* lieber gesagt hätte

Alle sind für Demokratie. Warum eigentlich? Was wollen wir, wenn wir Demokratie wollen? Was meinen wir, wenn wir von Demokratie sprechen? Alle dasselbe?
Manche verwechseln Demokratie mit Rechtsstaat und der Geltung von Grundrechten. Aber in einer Diktatur kann (theoretisch) die Regierungstätigkeit strikt an Gesetze gebunden sein und eine unabhängige Justiz existieren. Umgekehrt ist Demokratie auch ohne allgemeine Menschenrechte denkbar (siehe antikes Griechenland). Was also ist Demokratie?
Manche verwechseln Demokratie mit Wahlen und Abstimmungen, mit dem Mehrheitsprinzip. Dieses aber ist nichts als die (erfreulicherweise) zivilisierte Form des Rechts des Stärkeren, das ja aber bekanntlich kein Recht ist. Es gibt andere Formen der Demokratie, die ohne Repräsentation bzw. Machtdelegation auskommen (Basisdemokratie) und in denen keine Mehrheiten und Minderheiten gebildet werden (Konsensdemokratie). Was also ist Demokratie?
Die allgemeinste Bestimmung dessen, was Demokratie ist, lautet: Die, die regiert werden, müssen dem Regiertwerden zustimmen. Aber das kann ja wohl nicht alles sein, warum alle Demokratie wollen. Was macht Demokratie so begehrenswert?
Demokratie scheint das größtmögliche Maß an Selbstbestimmung zu gewähren. Der Anspruch lautet: Es gibt zwar eine Regierung, aber diese wird „letztlich“ durch die bestimmt, die regiert werden, sie regieren sich also im Prinzip selbst.
Einmal abgesehen davon, dass dieses Demokratieverständnis („Der Staat sind wir alle“) reale Machtverhältnisse ignoriert, die zum Beispiel durch massive ökonomische Ungleichheit auch eine entscheidende Ungleichheit hinsichtlich politische Teilhabe und Mitbestimmung bewirkt, ist das darin Gewünschte durchaus legitim: Selbst über die eigenen Angelegenheiten bestimmen zu wollen. Und zwar zusammen mit den anderen, die es auch angeht.
Zu Ende gedacht wäre Demokratie also Anarchie: herrschaftsfreie Gesellschaft, kein Mensch herrscht über einen anderen.
Das ist nicht innerhalb des politische Systems oder durch dieses zu erreichen. Die herkömmlichen Repräsentativdemokratie steht der Anarchie im Wege. Sie muss umgangen werden. (Mehr direkte Demokratie ändert daran nichts, wenn das Wahlvolk derselbe autoritätshörige Haufen ist; im Gegenteil, es könnte mehr Populismus bedeuten: formelle „Demokratie“ ohne Freiheit.)
Ziel und Mittel ist die gemeinschaftliche Selbstermächtigung aller und jedes Einzelnen. Jeder soll im Rahmen seiner Möglichkeiten und Bedürfnisse mitentscheiden. Das kann nur in überschaubaren Einheiten geschehen. Aus ihnen sind durch Vernetzung größere Einheiten zu bilden. Konsens und Kompromiss müssen praktisch erlernt werden: Wie entscheiden wir so, dass niemand überstimmt, niemand übervorteilt, niemand ausgegrenzt wird? (Ausgegrenzt werden nur konsensuell als destruktiv Erkannte: Rassisten, Hetzer usw.) Das erfordert Kreativität und Vernunft.
Der Nationalstaat ist nicht die Maßeinheit, in der echte Demokratie praktiziert werden kann. Es muss einerseits größer, andererseits kleiner gedacht werden: lokal und global und mit allem sinnvoll Verbindenden dazwischen. Die affektive Bindung an Illusionen wie „mein Land“, gar „mein Volk“ steht dem im Wege und muss überwunden werden. Zusammengelebt werden muss mit all denen, die wirklich da sind (oder dazukommen), nicht mit einer imaginären homogenen Kommunität.
Demokratie ist nichts, was es schon gibt, sondern etwas, das (ohne fertige Rezepte, aber womöglich mit wohlüberlegten Modellen) erst in der Praxis entwickelt werden muss. Damit kann jederzeit begonnen werden. Es ist schon begonnen worden. Es käme darauf an, die ganze Gesellschaft nach und nach daran auszurichten.

* Am 12. Oktober 2017 war ich in der Talkshow „Talk im Hangar 7“ zu Gast. Das war eine sehr interessante Erfahrung und bestätigte meine Erwartungen: Dass Talkshows sinnloses Gequassel sind, bei dem niemand wirklich zu Wort kommt und keine relevanten Dinge besprochen werden können. Und dass die sachhaltigen und lustigen Gespräche stattfinden, wenn Kameras und Mikrophone ausgeschaltet sind. Mit meiner eigenen Rolle in der Show war ich nicht zufrieden. Weder wurde ich richtig vorgestellt, noch kam ich in angemessener Weise zu Wort. Es liegt mir nicht, mich auf Kosten des Geltungsbedürfnisses anderer durchzusetzen, zumal wenn ich den Eindruck habe, dass ohnehin alles in die falsche Sichtung läuft. So blieb das, was ich vielleicht gern gesagt hätte, in der Sendung ungesagt. Ich trage es hier nach.

Dienstag, 3. Oktober 2017

Geständnis zum Ende des schwulen Buchhandels

Zeit für ein Geständnis. Ich bin einer von denen … denen das Herz bricht, wenn sie an irgendeinen für immer geschlossen Buchladen denken; die von Meldungen vom Aufgeben schwuler Buchläden irgendwo auf der Welt am Boden zerstört werden, auch wenn sie nie dort waren; die biblioman (nicht bibliophil) sind und mehr Bücher kaufen, als man lesen kann, deren Wohnung überquillt von bedrucktem Papier wie eine schlecht geordnete Bibliothek und die trotzdem nicht aufhören können, zu viel Geld für zu viele Bücher, Broschüren, Zeitschriften, Zeitungen auszugeben. 
Und ich bin ein Extremist. Mit erschreckenden Wünschen. Ich möchte in jeder Großstadt fünf schwule Bauchläden und in den Universitätsstädtchen sieben. Ich möchte, dass sie sich bekriegen, na ja, dass sie unterschiedlich ausgerichtet sind und das auch zeigen. Ich möchte, dass sie alle florieren, auch die angeschlossenen Cafés, Galerien, Verlage. Und ich möchte bei ihnen allen einkaufen können, mit den Buchhändlern Gespräche von connaisseur zu connaisseur führen und das Zweitschönste, was es auf der Welt nach den Männern gibt, vor Ort ausgiebig genießen: Bücher. Träumen darf man ja. Das ist immer kontrafaktisch und anachronistisch. Aber wie gestaltetet man Realität und wozu?
„Eine Zukunft ganz ohne schwule Buchläden ist vorstellbar. Aber wer will sie?“ Habe ich geschrieben, um die Frage zu provozieren: Wer will sie nicht, diese Zukunft? Warum nicht? Aus Gewohnheit und Sentimentalität beispielsweise? Weil jenseits eines an der gesellschaftlichen Realität Geschäftsmodelles manche gerne Bücher verkaufen und kaufen, wie sie es früher schon gemacht haben? Gibt es eine Zukunft für schwule Buchläden (oder meinetwegen LGBTIQsternchen-Bookshops), die diese als Orte lebendiger Auseinandersetzung notwendig erweist und nicht bloß als interaktive Museen der Mediengeschichte?
Dass es einige gibt, die die verbliebenen schwulen Buchläden gerne erhalten sehen möchten, steht außer Frage. Aber wer braucht sie? Und wofür? Oder ist das falsch gefragt …? Mir scheint, eine befriedigende Antwort wird es erst geben, wenn es nicht nur gelingt (wofür auch ich sehr bin!), Bestehendes zu erhalten, sondern wenn irgendwann ein neuer schwuler Buchladen aufmacht und sich hält. Träumen darf man ja.

Montag, 2. Oktober 2017

Zum Ende des schwulen Buchhandels

„In den 70er Jahren haben die Schwulen über ihre Verhältnisse gelesen.“ Mit diesen Worten hat Joachim Bartholomae einmal Martin Dannecker zitiert. (Der sich auf Nachfrage nicht daran erinnern konnte, das je gesagt, geschweige denn geschrieben zu haben.) Das ist ein wunderbarer Satz, ein schrecklicher. Wunderbar, weil er eine retrospektive Utopie benennt, schlichter gesagt: eine ehemalige Möglichkeit anderer Zustände. „Über ihre Verhältnisse“. das kann ja beides meinen: darüber, wie ihre Verhältnisse sind; und: mehr, als ihnen eigentlich hätte möglich sein sollen, mehr, als eigentlich zu erwarten war, mehr, als ihnen zugestanden wurde (analog zu „jemand lebt über seine Verhältnisse“).
Es gab also Zeiten, da war das geschriebene Wort, auch und gerade das in Bücher gedruckte, ein wesentliches Medium der Verständigung und Selbstverständigung, Teil jener Selbstermächtigung, die Emanzipation sein wollte. Nicht nur für einzelne, versprengte, verborgene Leser, sondern für „die Schwulen“ überhaupt, also — ohne den etwas haltlosen und zu Recht aus anderer Sprache geborgten Ausdruck „community“ bemühen zu wollen — für eine unbestimmte, aber spürbare Zahl von solchen, die gerade als Leser und wohl eben unter anderem auch durch ihre Leserschaft aus der Vereinzelung, Versprengung, Verborgenheit heraustraten und zu einem wenigstens imaginären Kollektiv wurden, das nach und nach eine Geschichte bekam und damit womöglich auch eine Zukunft hatte. Das also ist das Wunderbare an dem zitierten Satz, dass es offenbar eine Zeit gab, in der Schwule über ihre Verhältnisse lasen; das Schreckliche daran ist, dass es damit offensichtlich vorbei ist. Und zwar nicht erst seit heute.
Als Inizialzündung dessen, was sich als Bewegung begriff, gilt in Deutschland ein Film. Aber ohne Zeitschriften und Bücher wäre nichts weiter passiert. Und nicht ohne die Orte, an denen ganz besondere Zeitschriften und Bücher nicht nur verkauft, sondern vermittelt wurden. Der schwule Buchladen als Ort der Begegnung, ausnahmsweise nicht primär zwecks sexueller Kontaktaufnahme, sondern der emotionalen und intellektuellen Auseinandersetzung mit der Gesellschaft, in der solche Läden Inseln, Schutzräume und Archive waren, mit anderen und mit sich selbst; der schwule Buchladen als harmloseste Form der Kommerzialisierung des Begehrens; der schwule Buchladen als natürliches Biotop für ein studentisches Milieu ebenso wie als Anlaufstelle für bildungswilliges Bürgertum; der schwule Buchladen als Symbol und Realität einer gewissen Präsenz wenigstens in gewissen Großstädten — der schwule Buchladen also war unersetzbar.
Das blieb er nicht. Die Themen wurden andere, die Vergesellschaftungsformen, die gesellschaftlichen Reaktionen, das Kaufverhalten. Die AIDS-Krise kam, die Entpolitisierung, das Reaktionärwerden des Politischen. Emanzipation als Ansatz, der immer viel Rhetorik, Analyse und erwerbbare Kenntnisse voraussetzt, also auch Bücher, wurde durch Integration als Ziel ersetzt, das sich als voraussetzungslos gibt und mehr praktisch veranlagt ist. Literatur hörte auf, Herausforderung für wen auch immer durch was auch immer zu sein und kehrte dazu zurück, das zu sein, was sie im behaglich eingerichteten Bürgertum immer gewesen war: Sie wurde wieder zu Dekoration. Kleine Buchläden jedweder Ausrichtung und auch ohne irgendeine wurden von Ladenketten und dem Internet verdrängt, geschluckt, ersetzt. Niemand braucht heutzutage mehr schwule Buchläden, außer allenfalls den Buchhändlern, versteht sich, und einer Handvoll leicht anachronistischer Stammkunden.
Kaum jemand hat heutzutage noch Interesse, Bedürfnis, Kraft und Lust, über seine Verhältnisse zu lesen. Das Buch ist kein Schatz mehr, den man auf Grund besonderer Berufung an verstecktem Ort entdeckt, und dessen märchenhafter Reichtum einen aus den gegebenen Verhältnissen herauszureißen verspricht. Es ist Ware, Accessoire, Unterhaltungsstoff, Informationsmedium. Der Zauber ist verflogen. Der schwule Buchladen ist funktionell von der Filiale der Buchhandelskette nicht zu unterscheiden. Das Geschäft findet vor allem im Netz statt.
Gewiss kann man versuchen, zu retten, was zu retten ist. Viele mussten aufgeben, wenige halten sich noch. Vielleicht noch ein bisschen länger. Aber man kann die Uhr nicht zurückdrehen. Wenn man draufschaut, sieht man, wie spät es ist. Schon so spät? Zu spät gar? Früher war nicht alles besser, aber es ging um anderes. Die Uhr der Lesenden geht immer ein bisschen nach, aber das macht nichts, weil sie nie nur die heutige Zeit anzeigt. Eine Zukunft ganz ohne schwule Buchläden ist vorstellbar. Aber wer will sie?