Sonntag, 27. März 2011

Oculi

Gott ist tot, heißt es, und wir haben ihn getötet. Aber nicht das ist die bemerkenswerte Botschaft, dass Gott tot ist — hierin irrte Nietzsche —, denn das Sterben eines Gottes ist von alters her fester Bestandteil der Lehren vieler Religionen. Vielmehr verdient das, was viele Religionen ebenfalls verkünden, die eigentliche Aufmerksamkeit: Er starb und stand von den Toten auf. Wenn das wahr ist, gibt es Hoffnung. Wenn nicht …
Mir selbst ist es, wenn ich dies persönliche Bekenntnis wagen darf, nicht verständlich, wie man leben kann ohne Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod. Ich meine damit nicht den egomanischen Wunsch nach einem eigenen Weiterexistieren. Ob es mich gibt oder nicht, ist mir nicht so wichtig. Ich klammere mich nicht an mein Dasein und fürchte mich nicht vor dem Tod. Ich habe das eigene Totsein nie erlebt und kann darum nicht sagen, ob ich dafür oder dagegen bin. Was ich aber erlebt habe, ist das Sterben und Totsein anderer. Und da nun tut sich für mich die Notwendigkeit der Hoffnung auf.
Ich kann nicht nachvollziehen, dass es Menschen gibt, die von einem anderen Menschen, den sie angeblich geliebt haben und der gestorben ist, sagen können: Jetzt existiert er nicht mehr. Mir ist die Vorstellung, der geliebte Mensch sei ein Nichts, völlig unerträglich. Wie weiterleben, wenn er nicht mehr lebt?
Selbstverständlich kann man nun einwenden: Es geht dir nur um deine Gefühle, du willst die Realität nicht wahrhaben, kannst sie nicht ertragen und flüchtest dich darum in eine Illusion.
Dem kann ich nichts entgegensetzen als meine Wahrnehmung der Wirklichkeit: Ich kann nun einmal nicht anders, ich kann die Endgültigkeit des Todes nicht anerkennen. Und ich verstehe nicht, wie das irgendjemand können kann.
Wirklichkeit ist für mich das, was ich nicht beliebig so oder so verstehen kann, sondern unter den und den Bedingungen also so und so seiend hinnehmen muss. Ich mag es verändern können, aber zunächst einmal setzt es meinem Wunsch und Willen Widerstand entgegen. Real ist, was Grenzen zieht. Insofern ist mein Unvermögen, mit der Endgültigkeit des Todes des geliebten Anderen zu leben, Bedingung meiner Wirklichkeit.
Das begründet noch keine Religion. Aber es hält zumindest offen für Transzendenz. Dass das, was immanent erfahrbar ist, was erklärbar und gewiss scheint, nicht alles sein kann, ist selbst eine Erfahrung innerhalb der Immanenz. Man könnte sagen, Immanenz ist ohne Transzendenz nicht denkbar. Und schon gar nicht erträglich.

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