Samstag, 12. Oktober 2019

Deutsche Betroffenheit und die Folgen

Wer schon mal in der BRD war, weiß, dass das mit dem besonderen Sinn von deren Bewohnern für Ordnung, Gründlichkeit und Effizienz ein Mythos ist. Aber in einer Sache sind die Deutschen richtig, richtig gut: Betroffenheitsgequatsche. Da macht ihnen keiner was vor. Genauer gesagt: da machen sie sich selber was vor.
So auch nach dem gescheiterten Anschlag auf eine Synagoge in Halle, bei dem zwei Menschen ermordeten wurden. Sofort gehen die Emotionen hoch, die eingebildete Solidarität ist maßlos, jeder weiß sofort, dass alle anderen schuld sind und dass auch ein einzelner Täter kein „Einzeltäter“ sein kann, weil der sogenannte „Antisemitismus“ anscheinend etwas wie eine Krankheit ist, die überall auf Ansteckung lauert und von der man nicht wissen muss, dass man sie hat, um andere an ihr leiden zu lassen.
Sofort auch wird ein allgemeines Bedrohungsszenario entworfen. Jüdische Einrichtungen müssten ab sofort stärker geschützt werden. Dabei hat gerade Halle gezeigt, dass gut verschlossene Türen genügen, damit niemandem ein Haar gekrümmt wird. Möchte man wirklich, das Menschen nur noch unter schwer bewaffnetem Polizeischutz beten dürfen, ihre Kinder in Kitas und Schulen bringen können usw.? Schon jetzt symbolisieren Polizei und private Sicherheitsdienste, dass „jüdisches Leben in Deutschland“ eine Art Fremdkörper ist, für den keine Normalität gilt. Will man das?
Vor allem aber wäre zu fragen, ob die gewaltige Bedrohung, die jetzt fürsorglich imaginiert, denn wirklich besteht. 2018 wurden in der BRD 62 „antisemitische Gewalttaten“ angezeigt. Zweifellos jede davon eine zu viel. Aber bei fast einer Viertelmillion Juden in einer Bevölkerung von über 80 Millionen sind 0,17 angezeigte Straftaten pro Tag nicht gerade alarmierend. Im selben Zeitraum gab es im deutschen Straßenverkehr 3.275 Todesopfer, 396.000 Menschen wurden verletzt. Solche Opferzahlen zu vergleichen heißt, Äpfel mit Birnen zu verrechnen, führt aber vor, welche Zahlen welche Emotionen auslösen.
Dass nicht jeder Tod deutschen Gemütern gleich viel zählt, ist bekannt. Die beiden Zufallsopfer von Halle werden betrauert, als hätte sie jeder gekannt oder kennen wollen. Irgendwelche anonymen Palästinenser hingegen, die von israelischen Heckenschützen oder Patrouillen abgeknallt werden, sind allenfalls eine Zahl in den Nachrichten. Mehr will man davon nicht wissen. Dort ist halt irgendsoein „Konflikt“.
Überhaupt ist ja alles, was mit Juden, Jüdinnen, Judentum, Israel zu tun hat, in der BRD in einen emotionalen Kokon eingesponnen, der Differenzierungen, gar Kritik nicht erlaubt. Wer Kritik an Israel übt, wird als „Antisemit“ diffamiert, und das zu sagen, ist wohl auch wieder „antisemitisch“. Der Gedanke, dass es keinen jüdischen Staat geben müsse ― sondern beispielsweise ein Gemeinwesen geben könnte, dessen Bürgerinnen und Bürger unabhängig von Religion und Abstammung gleiche Rechte und Pflichten hätten ―, wird gleichgesetzt mit dem starken Drang, alle Juden zu vergasen. Gegen die gewaltfreie Bewegung BDS, die für (moralische und völkerrechtliche) Selbstverständlichkeiten wie ein Ende der Besatzung und ein Rückkehrrecht der Flüchtlinge eintritt, werden sogar Parlamentsbeschlüsse gefasst.
Der Killer von Halle, dessen Motivation und verworrenes Weltbild mich ehrlich gesagt nicht interessieren, war freilich kein „Antizionist“, sondern ein Möchtegernmörder, der an einer Tür scheiterte und dann willkürlich zwei Menschen abknallte.
Was hat nun die hysterische Wir-müssen-unsere-Juden-schützen-Haltung der meisten Deutschen mit neonazistischer Gewalt zu tun? „Antisemitismus“ und sich blind, taub und dumm stellender „Philosemitismus“ sind zwei Seiten ein und derselben Medaille. Immer sind „die Juden“ das Objekt, an das man beliebige Affekte hängen kann, je nach dem positive oder negative. Rational ist das nicht.
Der Einwand, dass man in Deutschland nicht rational gegenüber Jüdischem sein können, sondern auf Grund der Vernichtungsgeschichte uneingeschränkt positiv voreingenommen sein müsse, zeigt nur, dass man nichts gelernt hat. Die millionenfache Entwürdigung, Entrechtung, Enteignung, Vertreibung, Verschleppung, Quälerei und Ermordung von Menschen mit der „Begründung“, es seien Juden und Jüdinnen, abzielte, war völlig irrational, wenn auch begründungsideologisch und umsetzungsmethodisch rationalisiert. Irrationalismus mit Irrationalismus zu begegnen, halte ich für problematisch. Vernunft, nicht undurchdachtes Vorurteil (sei es negativ oder positiv), sollte den Umgang von Menschen miteinander bestimmen.
Daraus, dass jüdischen Gemeinden in der BRD und ihre Vertreter (in der Öffentlichkeit) den Zionismus und die israelische Politik rechtfertigen und oft genug Kritik diffamieren, folgt nicht, dass man irgendwen umbringen darf. Niemand darf irgendwen ermorden. Aber daraus, dass es Judenhass und judenfeindliche Gewalt gibt, folgt auch nicht, dass alles immer unkritisierbar ist, was Juden tun. Aber genau das ist ein Effekt, den das Einspinnen in den „philosemtischen“ Betroffenheitskokon hat. Die Nation, die sich nicht genug darin tun kann, vor „Antisemitismus“ zu warnen und endlich gegen ihn vorgehen zu wollen, ist dieselbe moralisch verrottete Gesellschaft, die mehrheitlich in freien Wahlen eine Regierung ermöglicht hat, die Flüchtlinge im Mittelmeer ertrinken und in Lagern in Griechenland, der Türkei und Libyen dahinvegetieren lässt; die immer neue Rüstungsexporte genehmigt, die unzähligen Menschen das Leben kosten; die überhaupt wesentlich eine Wirtschaftsordnung fördert, die weltweit Ausbeutung und Umweltzerstörung zur Geschäftsgrundlage hat; eine Regierung, die nicht zuletzt fest an der Seite des Staates Israel steht, möge dessen konkrete Politik auch noch so rassistisch und mörderisch sein.
„Antisemitismus“ gibt es nicht deshalb, weil Israel verbrecherische Politik macht. Aber Israels verbrecherische Politik nicht beim Namen nennen zu können, weil das „antisemitisch“ sei ― „man sieht ja, wohin das führt: Halle!“ ―, ist eine Wirkung des Betroffenheitsgetues, das von echter Trauer und dem echten Willen, jedem Menschen die Ausübung derselben Rechte zu ermöglichen und denselben Schutz zu gewähren, in Wirklichkeit weit entfernt ist. Wären „die Deutschen“ wirklich besorgt um Menschenleben, die durch Menschen aus ihrer Mitte gefährdet und ausgelöscht werden, produzierten sie keine Waffen, freuten sich nicht darüber, „Exportweltmeister“ zu sein und machten keine Geschäfte mit Diktaturen (China, Russland, Saudi-Arabien e tutti quanti).
Gewiss, „Antisemitismus“ ist Quatsch. Aber nicht nur der „Antisemitismus“, für den jemand ist, sondern auch der „Antisemitismus“, gegen den jemand ist. Ein Verbrechen wird nicht schlimmer, wenn es „antisemitisch“ motiviert oder qualifiziert wird. Mord ist Mord. Jedes Leben ist heilig. In Halle und überall.

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