Freitag, 13. Dezember 2019

Und die getreten werden

Die Verwunderung über Aung San Suu Kyi wundert mich. Wie könne die Friedensnobelpreisträgerin nur den Völkermord an den Rohingya kleinreden und so tun, als hätten sich die massakrierenden Soldaten nur ganz legitim gegen Terroristen gewehrt, mit vielleicht hie und da ein paar unschönen Übereifrigkeiten?
Von der Person von Aung San Suu Kyi ganz abgesehen (die immer schon autoritär und nationalistisch war) liegt da ein Denkfehler zu Grunde. Die Unterdrückten sind nicht die besseren Menschen. Bloß weil etwa die Myanmarer unter einer Militärdiktatur litten, heißt das nicht, dass sie, wenn diese Diktatur an Macht eingebüßt hat, nun in engelsgleicher Unschuld lebten.
Keine Bevölkerung, keine Klasse, keine Gruppe verkörpert deshalb, weil sie unterdrückt wird oder wurde das Gute „an sich“. Unterdrückung, Verfolgung, versuchte Auslöschung machen niemanden zu einem besseren Menschen.  Nicht von sich aus. Manche wachsen durch Unrecht, das ihnen widerfuhr, über sich hinaus (Nelson Mandela). Aber das ist selten und nicht die Regel.
Schon mal was von Foucaults Kritik an der Repressionshypothese gehört? Die bezieht sich zwar auf das Thema Sexualität, ist aber auch erweitert anwendbar. Herrschende gesellschaftliche Verhältnisse sind nie einfach bloß restriktiv, sondern immer auch produktiv. Sie bringen Subjekte (also Untertanen) hervor, ermöglichen und fördern Lebensweisen, affektive Bindungen, Weltsichten. Sie erziehen zur Systemimmanenz, nicht zu geistiger Unabhängigkeit und souveräner Widersetzlichkeit. Wer in einem Herrschaftsapparat „unten“ ist, hat genau so seine notwendige Funktion wie der, der „oben“ ist; die meisten sind eh irgendwo mittendrin.
Es ist dieser Denkfehler, der dazu verführte, vom Proletariat die Befreiung zu erwarten. Das ist selbstverständlich Unsinn. Die Geschichte hat es gezeigt: Die Unterdrückten mögen ein Unbehagen verspüren und manchmal revoltieren, aber sie wirken im Großen und Ganzen zwangsläufig an ihrer Unterdrückung mit, sie sind ein systemrelevanter und systemstabilisierender Faktor.
Manche haben ihre Hoffnungen von der Arbeiterklasse auf die Kolonialisierten übertragen, und sind darum immer enttäuscht, wenn postkoloniale Gesellschaften nicht von Demokratie, Solidarität und Achtung der Menschenrechte geprägt sind, sondern von Korruption, Machtmissbrauch und mörderischem Nationalismus. Derselbe Denkfehler. Die Unterdrückten sind, auch nach Aufhebung der Unterdrückung (an der sie mitwirken mussten) nicht Spezialisten in Sachen Freiheit und Würde.
Besonders trauriges Beispiel: Drei Jahre nach der Endes Nazismus und seiner millionenfachen Entwürdigung, Entrechtung, Verfolgung, Verschleppung, Folter und Ermordung von Menschen mit der „Begründung“, dass es Juden und Jüdinnen seien, gründeten Menschen mit der Begründung, dass sie Juden und Jüdinnen seien, einen Staat auf die vieltausendfache Entwürdigung, Entrechtung, Verfolgung, Vertreibung, Folter und Ermordung von Menschen.
Aus der Geschichte lernen?“ Gern, aber das sollen die anderen machen, die haben es nötiger. „Niemals wieder?“ Gern, aber nur nie wieder (solches Unrecht) an uns, sehr wohl aber (solches Unrecht) durch uns.

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