Samstag, 2. November 2019

Notizen aus Thüringen

In Thüringen verstehen sie was von Würsten. Von Bier nicht. Jetzt versteh ich Nietzsche besser.

Den Jammer-Ossi gibt es wirklich. Ich bin ihm begegnet. Mehrfach. Als Männchen und Weibchen. Schlechte Laune als Grundhaltung zur Mitwelt. Und am Dauerwinter des eigenen Missvergnügen muss ja jemand anderer schuld sein. Ein Beispiel von vielen: Der Führer im Romantikerhaus zu Jena, der seiner Gruppe erlärte, nach der Wende sei er an der Universität entlassen worden, von 30 Professoren seien 29 aus dem Westen gekommen, er habe dann statt Studenten unwillige Schüler am Gymnasium unterrichten müssen – und das alles zusammenfasste in der Wendung „Das war ein ganz schöner Knacks in meiner Biographie“. Das Ressentiment derer, die brav und angepasst gewesen waren und das Pech hatten, dass ihr geliebter Unrechtsstaat implodierte.

Jammer-Ossi. Beispiel 2. Bei dem Taxifahrer, von dem ich am ersten Abend in Weimar vom Bahnhof zum Hotel gefahren worden war, und der mir in breitestem „Thüringsch“ erklärt hatte, ich könne mal froh sein, dass er noch vorbeigekommen sei, eigentlich habe er schon nach Hause fahren wollen, stieg ich am nächsten Abend an derselben Stelle zufällig wieder ein. Wieder breitester Dialekt, erst nach zweimaliger Nachfrage verstand ich, dass er außer der Adresse, die ich ihm gesagt hatte, auch das Hotel erfragte. Er habe mich doch gestern schon gefahren, sagte ich. Daran könne er sich nicht erinnern, sagte er. Klar, er fährt jeden Abend einen Österreicher vom Bahnhof zum Frauenplan. Durch hartnäckige Konversation, bei der er meinem Wiener Charme zunächst immer mit „thüringscher“ Widerrede konterte, gelang es mir, ihn etwas aufzutauen, bis er am Zielort sogar lachte. – Was ist das nur für eine Haltung zu Beruf, Kunde, Leben, erst einmal schlecht gelaunt im eigenen Saft zu schmoren? So konnte das mit dem Sozialismus nix werden: Hamwa nich, jibt es nich, kommt ooch nich rein. Ich hätte gern gefragt, ob’s in der DDR auch Taxen gab, fürchtete mich aber vorm Affekt der möglichen Antworten: So'n bourgeoisen Kram hatten wir hier früher nicht. Oder: Was denken Sie denn, dass wir wie Affen auf den Bäumken hockten?

Jammer-Ossi. Beispiel 3. Dem Taxifahrer, der mich in Jena vom Bahnhof zur Oberlauengasse brachte, stand am Rand des Marktplatzes ein Lieferwagen etwas im Wege. Männer, die nicht blond und blauäugig waren, luden dort etwas aus oder ein. „Diese Kuruzzen überall!“, brüllte der Taxler. Na hören Sie mal, sagte ich, was sind denn das für Ausdrücke. „Wieso, kann man doch sagen, das Wort gibt's doch Stimmt, aber außerhalb von historischen Darstellungen der antihansburgischen Aufstände des 17. Jahrhunderts war es mir noch nie begegnet. Schon gar nicht als Synonym für Kümmeltürken, Kameltreiber oder andere rassistische Beschimpfungen. Von Thüringen lernen, heißt brutal granteln lernen.

Und dann war da noch die (nicht-thüringische) Frau, die im Frühstücksraum von ihrem Bekannten Karim erzählte, einem syrischen Flüchtling, der einmal seinen Bruder in Dresden besucht habe und spaßeshalber bei einer PEGIDA-Demo unerkannt mitmarschiert sei. „Es war ihm ein innerer Reichsparteitag.“ – Deutsche, achtet auf eure Redewendungen!

Einer der sympathischsten und faszinierendsten Thüringer, die mir in Weimar begegneten, war unser Führer durch die Gedenkstätte Buchenwald. Ein rüstiger Rentner, der anschaulich und nachdrücklich sprach, sich nur selten wiederholte und mit Bedacht versuchte, die Besucher einzubeziehen. Als er einmal erzählte, er habe als Kind Männer in Schlafanzügen auf dem Feld Kartoffeln klauben sehen und seinem Vater davon berichtet, der ihn aufklärte, die „Schlafanzüge“ seien Kazettkleidung gewesen, wurde mir abrupt klar, dass der Guide etwa 80 Jahre alt sein musste (etwas jünger als meine Eltern!) und dass das Grauen nicht in ferner Vergangenheit stattfand, sondern gleichsam gestern.

Über die Oberlippenbärte hab ich noch gar nichts gesagt. Davon sind mir in Thüringen einige begegnet. Viele. Zu viele. Vor allem bei Männern. Ich will nicht gleich von Schnäuzern sprechen, aber von ostentativem Bartwuchs zwischen Nase und Oberlippe. Das ist sooo ossimäßig. Na ja, darum wohl.

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