Freitag, 28. Februar 2025

Wozu Staat?

Dieses Gerede, dass der Staat notwendig sei, weil er die Menschen vor einander schütze, hat mit der Wirklichkeit nichts zu tun. In Wahrheit sorgt der Staat dafür, dass die einen die anderen weitgehend ungestört ausbeuten können, sie unterdrücken, schädigen, verdummen können. Der Staat ordnet und umsorgt den ständigen Bürgerkrieg, den Klassenkampf von oben nach unten, sein Sinn ist es, die Reichen auf Kosten aller anderen (auch der natürlichen Ressourcen, der Tiere und Pflanzen) reicher werden zu lassen und alle, die etwas dagegen haben könnten, in Schach zu halten.
Persönliche Freiheit, Meinungsfreiheit, freie Berufswahl, Vereinigungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, Gleichheit vor dem Gesetz, Schutz vor Willkür, Rechtsstaatlichkeit usw. usf. all diese höchst erfreulichen und durchaus kostbaren Gewährungen (und nicht so sehr oder gar nicht „Errungenschaften“) sind dennoch nur Nebenwirkungen eines im Ganzen repressiven und destruktiven Systems ― und werden sofort geopfert, wenn das dem Staat und seinen Auftraggebern in den Kram passt. Es ist ja der Staat höchstselbst, der die Grenze zwischen Erlaubtem und Verbotenem festlegt. Der Staat bestimmt, an welche Regeln er sich halten will und welche Regeln seine Untertanen befolgen müssen. Und der Staat verfügt darüber, welche Ausnahmen von seinen Regeln er sich zugestehen kann. Darum darf der Staat, seiner Meinung nach, belauschen und ausspionieren, Eigentum wegnehmen, Leute einsperren, Meinungsäußerungen untersagen und bestrafen, die Religionsausübung beschränken usw. usf, wenn es ihm passt und er diese zumindest partielle Ungültigkeit der eigentlich gewährten Grundrechte als Gesetze verkündet und gemäß dieser seiner selbstgemachten Gesetze vollzieht.
Dass ist so „normal“, so selbstverständlich, so häufig und so grundlegend, dass die Absurdität dieser Zustände den allermeisten Bürgerinnen und Bürgern gar nicht auffällt. Wer sonst, wenn nicht der Staat, soll bestimmen, was Recht und Unrecht ist? Er tut es ja in unserem Namen und (wenigstens zumeist) in unserem Sinne. So stellen sich die Leute das vor. Doch die Gesetze sind, Demokratie hin oder her, keineswegs etwas, was wie ein Vertrag aushandelt wird und von beiden Seiten einzuhalten ist, sondern sie sind eine einseitige Festlegung von Seiten der mächtigen Institution, die das Gewaltmonopol beansprucht und das Festgelegte zurücknehmen oder nach Bedarf modifizieren kann.
Gewiss, viele Menschen fühlen sich in einer repressiven Situation durchaus wohl und machen dabei gerne mit, diese durchzusetzen (auch, indem sie Abweichler denunzieren). Viele glauben an Ordnung und Sicherheit und leugnen die offensichtlich Unordnung, das Versagen, die Verwüstung und all die Kränkungen der Vernunft, die staatliches Handeln fortgesetzt produziert. Aber dass es Freunde der Unterdrückung gibt (und Nutznießer, echte und vermeintliche), bedeutet nicht, dass Unterdrückung etwas Gutes ist.
Der Trick der liberalen Gesellschaften ist es, dass viele Freiheiten gewährt werden und deren Einschränkungen angeblich immer nur denen gelten, die diese Freiheiten bedrohen. Den Verbrechern. Den Gefährdern. Den Extremisten. Den Verrückten. Die Braven haben nichts zu befürchten, heißt es.
Autoritäre Systeme hingegen weiten nicht nur den Bereich der Abweichung und darum Bedrohung aus, die unterdrückt werden muss, sie sind überhaupt vorrangig mit der merkbaren Machtsicherung befasst. Das ist ineffizient. Liberale Systeme sind darum bestrebt, Unterdrückung und Ausbeutung, Überwachung und Steuerung so wenig merkbar wie möglich zu gestalten und sie vor allem als ganz und gar im Interesse der (Mehrheit der) Betroffenen und als mehr oder minder von diesen gewollt darzustellen.
So oder so ist das, was der Staat an Freiheit gewährt und als Toleranz fordert, nicht auf seine Großzügigkeit und seinen guten Willen zurückzuführen. Es sind nur Normen, Werte und Regeln, die einen möglichst ungestörten Geschäftsgang erlauben sollen. Wenn die Insassen der Wirtschaftsordnung daran glauben, dass alles mit rechten Dingen zugeht, dass der Staat ihr väterlicher Freund ist, der an ihrer Seite steht und sie schützt, ihnen Wohltaten gewährt und ihr Wohlverhalten, das auf Grund der Lenkung durch die Obrigkeit zum Gemeinwohl beträgt, belohnt, dann ist Ruhe im Karton und die grundlegenden Schweinereien können unbehelligt durchgezogen werden.
Darum gibt es tatsächlich Menschen- und Bürgerrechte, unabhängige Gerichte, eine an Gesetze gebundene Exekutive, Verbraucherschutz, Gefahrenabwehr, mal mehr, mal weniger frei zugängliche Bildungseinrichtungen, Kulturförderung usw. und nicht zuletzt allgemeine, freie, gleiche und geheime Wahlen. All das gibt es, und das ist gut so. Nur …
Was nützt die schönste Demokratie, wenn Trump, Melloni, Millei, Merz etc. dabei herauskommen und nicht zurechnungsfähige, intelligente, kompetente und mit konstruktiven Problemlösungsvorschlägen ausgestattete Politiker? Nicht, dass das Gesindel und Gesocks, von dem an regiert wird (in Demokratie und Diktatur) an allem Unheil in der Welt schuld wären, sie haben zwar ihren Anteil daran, aber vor allem dadurch, dass sie mit ihrem sinnlosen Herumgekaspere von der zu Grunde liegenden Herrschaft des Prinzips der Profitmaximierung (und die von dessen Agenten und Profiteuren) ablenken. Wenn allgemeine, freie, gleiche und geheime Wahlen immer nur zur Bestätigung des politischen Systems taugen, dass den Kapitalismus schützt und fördert, wozu sind sie dann gut? Ob die regierenden Knechte schwarz, rot, grün, gelb, blau, braun oder blasslila sind, der Unterschied ist im liberalen System gering. (Und in einer Diktatur hat man eh keine Wahl.)
Nein, der Staat schützt nicht vor dem Krieg aller gegen alle. Er organisiert ihn. Er zivilisiert ihn. Er domestiziert ihn. Mit anderen Worten, er hält ihn am Laufen. Wenn der Staat etwas Gutes wäre, wieso gibt es dann eigentlich soziales Unrecht, Armut, Umweltzerstörung, Hunger und Verschwendung? Kann der Staat nicht, was er verspricht, oder will es gar nicht? Oder nur in dem Maße, indem ein paar Privilegierte profitieren und die Masse sich nicht wehren will?
Wer käme auf die Idee, einen Schutzgelderpresser, der einen vor anderen Gangstern zu beschützen verspricht, für etwas anderes als einen Gangster zu halten, selbst wenn das mit dem Schutz funktioniert? Wenn aber der Erpresser das Geld nimmt und dann andere Gangster dazu einlädt, die Erpressten ihrerseits noch einmal auszupressen?

Donnerstag, 27. Februar 2025

Wider den Dienst für Mammon

Wenn Armut etwas Schlechtes ist, dann muss sie bekämpft werden. Wenn sie nichts Schlechtes ist, warum dann den Armen helfen? Den Armen aber muss geholfen werden, dass ist ein Gebot der Menschlichkeit und Gottes Wille.
Am besten ist allen geholfen, wenn es keine Armut mehr gibt (und keine neue entstehen kann). Es kann ja nicht darum gehen, dem einen oder anderen Armen seine Armut erträglicher zu machen. Das ist etwas Gutes, aber es genügt nicht. Armut als solche muss abgeschafft, also jene gesellschaftlichen Missstände müssen beseitigt werden, die Armut erzeugen.
Dafür genügt Mildtätigkeit nicht. Dafür braucht es politischen Willen und politisches Handeln. Es muss eingegriffen werden in das herrschende ökonomische System, dass unter dem Schutz der Nationalstaaten die Reicher immer reicher werden lässt. Dass die einen, die Wenigen, reich sind, hat zur Voraussetzung, dass die anderen, die Vielen, arm sind und bleiben. Das ist unmoralisch. Reichtum, der mit Armut erkauft wird, ist unmoralisch.
Niemand sollte sich Christ nennen, der das anders sieht. Jesus lässt an seiner Haltung keinen Zweifel: Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher ins Reich Gottes gelangt. Darum: Sammelt euch nicht Schätze hier auf der Erde, wo Motte und Wurm sie zerstören und wo Diebe einbrechen und sie stehlen, sondern sammelt euch Schätze im Himmel ― gute Taten ―, wo weder Motte noch Wurm sie zerstören und keine Diebe einbrechen und sie stehlen.
Niemand sollte sich Christ nennen, der das herrschende politisch-ökonomische System bewahren will. Es erzeugt Armut, Ausbeutung, Unterdrückung und Betrug aller Art. Niemand kann behaupten, er liebe seinen Nächsten, Gottes Ebenbild, wenn er für dessen Entwürdigung und Vernutzung eintritt oder davon sogar noch profitieren will.
Das Schlechte am Weltwirtschaftssystem ist keine zufällige Nebenwirkung, die auch anders sein und abgestellt werden könnte. Das Schlechte folgt aus den Grundsätzen. Profitmaximierung auf Kosten aller ist genau der Götzendienst, vor dem Jesus warnt, wenn er sagt: Niemand kann zwei Herren dienen; er wird entweder den einen hassen und den andern lieben oder er wird zu dem einen halten und den andern verachten. Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon.

Stand der Dinge (meine Sicht)

Es ist alles so schrecklich. So schrecklich lächerlich. So schrecklich dumm. So schrecklich bösartig. Dass ich das alles erleben muss, ist eine Zumutung. Warum halte ich es nicht wie so viele andere, schaue weg, höre nicht hin, lenke mich ab, betäube mich? Es ist schrecklich.
Nicht, dass es mich überraschte. Wer die Offenbarung des Johannes gelesen hat, kann nicht überrascht davon sein, dass alles ein schreckliches Ende nimmt. Aber es durfte trotzdem gehofft werden, es käme anders, weil doch alle Prophetenworte darauf abzielen, zur Umkehr zu bewegen. Die Hoffnung wurde enttäuscht. Die Ankündigungen erfüllten sich.
Dabei sprach alles dagegen. Wer hätte sagen dürfen, er wisse von nichts? Die Kenntnisse nahmen zu, die Warnungen wurden dringlicher, aber von Umkehr keine Spur. Im Großen und Ganzen wurde weitergemacht wie bisher. Die Ausbeutung der Menschen und der Lebensgrundlagen, die Unterdrückung, offen oder verdeckt, die Verdummung, all das nahm zu und immer neue Formen an.
Freilich, wer wissen wollte, wie es zuging in der Welt, konnte auch das in reichem Maße. Aber die meisten wollten belogen werden. Wollten abgelenkt und zerstreut werden. Wollten ihren Spaß haben und ihren Rausch.
Viele müssen ums Überleben kämpfen. Denen kann man nicht vorwerfen, dass sie nicht aufbegehren. Aber gar nicht so wenigen geht es doch gut. Die hätten Zeit und Kraft und Gelegenheit, Kritik zu üben und Änderungen zu verlangen. Fast keiner tut das. Das System funktioniert. Die Leute machen mit, weil alle mit, weil alle mitmachen. Sie verteidigen ihren relativen Wohlstand und und ihre relativen Freiheiten gegen de Rest der Welt, weil sie durchaus wissen, dass all das mit der Armut und Unfreiheit anderer erkauft ist. Sie wissen es und wollen es nicht wissen. Sie wissen auch, dass ihre Lebensweisen zerstörerisch sind. Verschwenderisch. Haltlos. Aber sie ändern sie nicht oder kaum, allenfalls in dem Maße, dessen sie bedürfen, um ihr schlechtes Gewissen zu beruhigen.
Keine Umkehr also, nirgends. Vielleicht von Einzelnen. Aber ohne Wirkung auf die Gesellschaft. Diese Zivilisation steuert sich auf ihren Untergang zu. Die Frage ist nur, ob zuerst der technische und ökologische Kollaps kommt oder die Herrschaft der Maschinen, der anonymen und automatischen Systeme, die die technokratischen Prinzipien, auf die sie programmiert sind, erbarmungslos durchsetzen und, einer Rationalität ohne Sinn und Verstand folgend, die Herrschaft der Sklaverei perfektionieren.
Hätte ich noch Hoffnung, so hoffte ich auf eine Katastrophe. Auf ein großes, heilsames Unglück. Oder wenigstens auf einen vorübergehenden Aufstand, dessen sinnlose Gewalt sicher schrecklich wäre, aber immerhin besser als der Schrecken ohne Ende, der die letzte Denkmöglichkeit darstellt.

Mittwoch, 26. Februar 2025

Über mein Gedicht „Station Philadelphiabrücke“

Zuerst war da die Wendung mein Herz dröhnt. Die fiel mir unvermutet ein und verlangte danach, dass etwas mit ihr gemacht werde. Mein Herz dröhnt. Ohne viel nachzudenken, assoziierte ich sogleich damit, dass mir seit ein paar Jahren in der Wiener U-Bahn-Station Philadelphiabrücke bei der donnernden Einfahrt eines Zuges immer das Herz stark bebt, wenn ich am Bahnsteig stehe. Ich kenne keine andere Station, in der das so ist. Dort aber finde ich den Lärm und die Erschütterung immer sehr unangenehm. Irgendwer hat da irgendwann irgendetwas technisch oder architektonisch verpfuscht, dass solch gewaltiges Dröhnen entsteht; früher war das jedenfalls nicht so.
Also schrieb ich Mein Herz dröhnt / von der Unvernunft der Verhältnisse und setzte dann erläuternd hinzu: wenn der U-Bahn-Zug einfährt. Aber das schien mir nicht ausreichend deutlich. Konnte ein Leser wirklich schon sehen, hören und verstehen, dass jemand am Bahnsteig steht und ein lauter, alles und also auch den Wartenden durchrüttelnde Zug einfährt? Darum beschloss ich zunächst, dass das Gedicht die Überschrift Philadephiabrücke bekommen solle. Und ich fügte als vierten Vers ein: Wenn ich in der Station am Bahnsteig stehe. Das passte aber nicht gut an das Ende. U-Bahnzug/Bahnsteig, das klapperte, das donnerte nicht. Also stellte ich die Wendung, gekürzt zu Ich stehe am Bahnsteig, an den Anfang. (Die Station wanderte in die Überschrift.)
Nun waren die Verse auch nicht mehr so verschieden lang. Das wäre zwar möglich gewesen, weil ich die Form gern vom Stoff her bestimme, aber so erschien es mir doch besser.
Dass ich aus von der Unvernunft der Verhältnisse dann von der Verhältnisse Unvernunft machte, war eher Gefühlssache. Es klang für mich besser und war zwar ein wenig gestelzt, aber gerade das schien mir zu passen: Dem brutalen Rumpeln des Fahrzeugs eine „edle“ Formulierung entgegenzusetzen.
Allerdings missfiel mir sehr, dass da ein „Ich“ am Anfang stand. Im Gedicht davor hatte ich mich noch über das lyrische Ich mockiert, über meine Neigung, immer und immer wieder davon Gebrauch zu machen. Probehalber setzte ich das Gedicht deshalb in die dritte Person. Er steht am Bahnsteig. Sein Herz dröhnt / von der Verhältnisse Unvernunft, / wenn der U-Bahnzug einfährt.
Das war’s. Das hätte mir schon genügt als eines meiner „minimale“ Gedichte. Aber als ich den Text dann aufschrieb ― ich „schreibe“ Gedichte oder Gedichtentwürfe immer erst in Gedanken, notiere sie dann und schreibe sie manchmal noch ab, bevor ich sie abtippe ―, sprudelte es hervor: Mitten durch ihn hindurch / gehn die falschen Zwecke und Mittel / der gehetzten Leute. Und der lapidare Schlusspunkt: Dann steigt er ein.
Im Grunde bringen der vierte, fünfte, sechste Vers nichts Neues. Was das Bild vom dröhnenden Herzen zeigen soll, wird paraphrasierend wiederholt und damit bekräftigt. Die Unvernunft der Verhältnisse erscheint als falsche Zwecke und Mittel, als etwas, was nicht nur besteht und geschieht, sondern vorgenommen und ausgeführt wird. Wie eben der Bau einer U-Bahnstation und von U-Bahnwägen, die zusammen fast unzumutbaren Krach machen. Oder wie all die Pläne und Handlungen, die die Leute, die eilig und gegeneinander gleichgültig in so eine U-Bahn einsteigen, gewiss umtreiben und die mit allen anderen Plänen und Handlungen (gesellschaftliche) Verhältnisse ergeben, die unvernünftig sind: für den Einzelnen unangenehm und schier bedrohlich. Kultur- und Gesellschaftskritik wird hier nicht expliziert, sondern als unschönes Erlebnis, das regelmäßig wiederkehrt (darum das Präsens) dargestellt. Aber es hilft ja nichts, die Verhältnisse sind, wie sie sind, der Einzelne kann da vorderhand nichts machen, auch er hat Pläne, will irgendwohin, darum muss er jetzt einsteigen wie alle anderen..
Kurz überlegte ich, ob ich wirklich die strophenartige Gliederung beibehalten sollte und strich (beim Abtippen) die Leerzeilen. Aber das sah falsch aus. Zu gedrängt. Mit den Leerzeilen schien es mir großzügiger und lesbarer. Viel Text war es ja ohnehin nicht.
Ich sage nicht, dass mir da ein sehr gutes Gedicht gelungen ist. Aber doch eines, mit dem ich zufrieden sein muss, weil ich es nicht besser machen könnte.Vielleicht interessert es den einen oder anderen Leser, wie ich dabei vorgegangen bin. Darum, und um es mir selbst zu erklären, habe ich es hier erzählt. 
Das Gedicht findet man auch hier:

Montag, 24. Februar 2025

Notiz zur Zeit (243)

So, ihr habt eure Wahlen gehabt. Können wir uns jetzt bitte der Realität zuwenden?
 
Wenn Wahlen etwas ändern könnten, müssten sie anders ausgehen.
 
Ihr habt euch eine Große Koalition zusammengewählt (mit Trittbretfahrern). Und, seid ihr stolz darauf?
 
Wenn nach 250 bis 300 Jahren sogenannter Aufklärung das Ergebnis freier, gleicher, allgemeiner Wahlen (freilich ohne die Ausländer) so aussieht, muss man nicht nur am Konzept der Aufklärung erheblichen Zweifel anmelden, sondern auch an dem der Schwarmintelligenz.
 
Es geht gar nicht darum, ob es anderswo besser gemacht wird. Schlimm genug, wenn es so ziemlich aufs selbe hinausläuft.
 
Nicht durch Talkshows und Parteiengeklüngel werden die großen Fragen der Zeit entschieden, könnte man Bismarck paraphrasieren, sondern im Stahlbad des Kapitalismus mit dem Blut der Armen (inklusive der geschundenen Natur).
 
Dem Reden der Leute über ihre Wahlentscheidung (oder den Schwierigkeiten damit) merkt man auch nicht ansatzweise an, dass sie verstanden haben, in welcher Welt sie leben, welches Unrecht herrscht, wer ihre Gegner sind und wie sie verarscht werden.
 
Damit Wahlen nichts ändern (was ja rein technisch passeren könnte, wenn zum Beispel keiner zur Wahl ginge oder alle eine umstürzlerische Partei wählten), wird dafür gesorgt, dass erstens das Wahlvolk möglichst nicht mitbekommt, was Sache ist, und stattdessen mit Scheindebatten abgespeist wird (Migration!) und dass zweitens niemand, der zur Wahl steht, ernsthafte Lösungen anzubieten hat.
 
Wenn alles mehr oder minder so weitergeht wie bisher (und der popelige Möchtegernfaschismus erfolgreich abgewehrt ist), kommt das den Profitinteressen einiger sehr zu gute. Es wird noch ein bisschen mehr Krise und immer weniger Kuchenbrösel zu verteilen geben, aber das ist ja ohnehin das, was schon bisher stattgefunden hat.
 
Es gäbe viel zu tun, aber die Leute haben entschieden, dass besser nichts getan wird.
 
Gehen Sie wählen, gehen Sie wählen, gehen Sie wählen!, scholl es von allen Seiten. Kannste machen. Dann isses halt Kacke. 

Samstag, 22. Februar 2025

Auf die Frage, ob man denn etwa nicht gegen Krieg sei

Sie reden vom Krieg, als ob man eine Wahl hätte. Als ob man dafür oder dagegen sein könne. Das kann man aber nicht, wenn er bereits stattfindet. Jedenfalls nicht so einfach und bequem wie im Frieden. Wenn der Krieg schon stattfindet, hat man keine Wahl, denn selbst dann, wenn man gegen ihn ist, muss man ihn zu Ende bringen, also führen (oder führen lassen).
Sie reden vom Krieg, also ob er, wenn er schon stattfindet, plötzlich aufhörte, wenn man nur genug dagegen wäre. Das tut er aber nicht.
So ist das im Leben. Dinge geschehen, von denen man nicht wollte, dass sie geschehen. Da sie nun einmal geschehen, muss man sich zu ihnen verhalten. Es genügt nicht, zu betonen, dass man sie nicht will. Man muss auch sagen können, wie man von dem, was man nicht will, zu dem kommt, was man nicht will.
Einfach nur die Augen zu schließen und sich was zu wünschen, ist kindisch.
Man mag sich wünschen, der Krieg wäre ausgeblieben. Ist er aber nicht. Man könnte sich wünschen, er würde von denen beendet, die ihn herbeigeführt haben, das wird er aber nicht. Jedenfalls nicht, wenn man sie nicht dazu zwingt.
Wünschen genügt nicht. Man muss auch handeln und Handeln befürworten und unterstützen. 
Man kann auch so tun, als sei der Krieg etwas Abstraktes, etwas das nur anderen angetan wird, bei dem man sich selbst aber heraushalten kann (und darf). Man kann auch fliehen. Flucht in der Realität ist auch ein Verhalten im Krieg. Flucht in die Einbildung ist ein imaginärer, nutzloser, zum Teil schädlicher Möchtegernpazifismus.
Den Krieg nicht zu wollen, mag vernünftig sein. Ihn zu wollen, ist Wahnsinn. Trotzdem findet er statt. Weil er stattfindet, muss man sich zu ihm verhalten.
Wer statt Krieg Frieden will, muss sagen, wie er vom Krieg, der stattfindet, zum Frieden kommen will, der aussteht. (Oder er muss untätig abwarten, was passiert.)
Sich zu wünschen, die Angegriffenen mögen aufhören, sich zu verteidigen, führt nicht zum Frieden. Der Krieg hört nicht auf, wenn der Angreifer siegt, er nimmt nur eine etwas andere Gestalt an.
Wer Friede für die Ukraine will, muss den Sieg der Ukraine wollen. Der ist nur mit diesem Krieg und als dessen Ergebnis zu haben.
Ein Sieg der Ukraine bestände in nichts anderem, als dass der Angreifer das Land verlässt und die Menschen nicht mehr tötet und bedroht.
Wer etwas anderes will, will nicht Frieden, sondern Krieg. Egal, was er sagt.

„Gebietsabtretungen“?

Immer wieder ist im Zusammenhang mit einem künftigen Frieden in der Ukraine von zwar vielleicht unerfreulichen, aber doch sehr wahrscheinlich unvermeidbaren „Gebietsabtretungen“ die Rede. Selbstverständlich von solchen der Ukraine an die Russländische Föderation. Diese hält ja bekanntlich seit 2014 und 2022 Teile des ukrainischen Staatsgebietes besetzt (und hat sie auch in völkerrechtlich null und nichtigen „Annexionen“ zu eigenem Staatsgebiet erklärt).
Dazu muss man sagen, dass der Ausdruck „Gebietsabtretungen“ völlig untauglich ist, um die Wirklichkeit zu bezeichnen, die dahintersteht. „Gebietsabtretung“, das klingt irgendwie nach harmloser Flurbereinigung, nach ein irgendeinem beliebigen Territorium, auf dessen Besitz die Republik Ukraine sich doch bitte nicht kaprizieren solle. Was machen so ein paar Quadratkilometer weniger schon aus!
Nur geht es gar nicht in erster Linie um Land (Gebäude, Infrastruktur, Bodenschätze), sondern um Menschen. Ukrainisches Gebiet, das schon jetzt russländisch besetzt ist, auch rechtlich an Russland abzutreten, würde heißen, die Menschen, die dort leben, dauerhaft an Putins Diktatur auszuliefern.
Es ist bekannt (wenn auch im Westen weitgehend ignoriert), was schon jetzt die russländische Herrschaft im Donbass und auf der Krim bedeutet: Unterdrückung, Verfolgung, Verschleppung, Folter, Mord. Man kennt die Berichte und Bilder aus Butscha und Irpin und all den anderen Orten, von denen die russischen Kriegsverbrecher wieder abziehen mussten. Weniger bekannt ist der mörderische Umgang mit allen, die sich der russischen Herrschaft in welcher Form auch immer widersetzen (oder dessen verdächtigt werden) überall in der besetzten Ukraine. Konzentrationslager, Folterkeller, „normale“ Gefängnisse, Morde: Das bedeuten „Gebietsabtretungen“. Und auch die Ukrainer, die sich nicht wehren oder verweigern, würden trotzdem in völliger Unfreiheit, in scharfer Ausbeutung, unter ständiger Polizeiwillkür und unter der Herrschaft des Scheins und der Lüge leben müssen.
Nein, „Gebietsabtretungen“ kommen nicht in Frage. Aus Gründen des Völkerrechts, weil kein Aggressor von seinen Verbrechen auch noch durch Gebietsgewinn profitieren darf. Aus Gründen der kollektiven Würde und Selbstachtung der ukrainischen Bürger und Bürgerinnen. Und vor allem aus Gründen des Menschenrechts auf ein selbstbestimmtes Leben ohne Terror und Erniedrigung.

Leute (25)

Vor Jahren schrieb X. einmal in einem sozialen Netzwerk, wie es sich mit irgendetwas bei ihm so verhalte. (Kein Ahnung mehr, worum es ging, und es ist auch unwichtig.) Und ich regagierte darauf, indem ich schrieb, wie es sich bei mir verhalte. Darauf antwortete X.: „Immer dieses Distinktionsbedürfnis!“ Ich war vor den Kopf gestoßen. Distinktion? Inwiefern? Mir scheint, ich begriff damals nicht, was er meinte, und begreife es vielleicht auch heute nicht. Aber es schien mir nichts Gutes. Und ein Missverständnis.
Wie kann ich einen anderen verstehen, wenn ich ihn nicht mit mir vergleiche? Wie mich selbst verstehen, ohne mich mit anderen zu vergleichen? Dabei ist, was bei allen gleich ist, uninteressant; nur worin man sich unterscheidet, belehrt einen darüber, wie wer ist. (Das bei allen Gleiche zu betonen, hat allenfalls die Funktion, die eigene Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der Normalen zu bekräftigen, sich und Seinesgleichen von den unzugehörigen, etwa einer anderen „Generation“ oder dergleichen abzugrenzen.)
Um Abgrenzung geht es dabei nicht (oder nicht notwendig), wenn man auf die Mitteilung, bei jemandem verhalte es sich mit dem und dem so und so, antwortet, bei einem selbst verhalte es sich anders. Eher um die Chance auf wechselseitige Verständigung, um die Entdeckung der Verschiedenheit und Vielfalt, um eine Orientierung in der Welt anhand der Mitmenschen, die eben bestenfalls nicht konform sind.
In diesem Sinne: Kein Distinktionsbedürfnis.
Und in dem anderen Sinne: Distinktion als  Überhebung, als Hervorstreichen der eigenen Besonderheit als Überlegenheit? Darin war eigentlich immer eher X. der Spezialist mit seiner Vorliebe für distinguierte Kleidung und teure Parfums, seinen modischen Brillengestellen und metaphorischen Messerbänkchen, mit seiner ab und an eingestreuten Bekanntschaft mit allerhand Prominenz, seiner Stilisierung zum proletarischen Intellektuellen katholischer Herkunft und, ja, auch seiner Krankheit, die ihn schließlich am gewöhnlichen Leben hinderte, nachdem er lange das außergewöhnliche ausgekostet hatte. Das alles immer mit Diskretion und Ironie mehr angedeutet als auf die Nase gebunden, aber doch stets präsent und im Sinne deutlicher Abhebung von denen, die nicht so gebildet, kultiviert, erfahren, reflektiert sind, selbstverständlich.
Auch dieses „Distinktionsbedürfnis“ ist mir (im Unterschied zu X.) fremd.

Aufgeschnappt (bei Sebastian Hafner)

Nominell leben wir in einer Demokratie, das heißt: Das Volk regiert sich selbst. Tatsächlich hat, wie jeder weiß, das Volk nicht den geringsten Einfluss auf die Regierung, weder in der großen Politik noch auch nur in solchen administrativen Alltagsfragen wie Mehrwertsteuer und Fahrpreiserhöhungen. (...) Das entmachtete Volk hat seine Entmachtung nicht nur hingenommen, sondern geradezu lieb gewonnen.

Freitag, 21. Februar 2025

Leute (24)

Y. ist sozusagen das Gegenstück zu X. aus Spaltungsirresein. Während dieser gegen Russland zur Ukraine hält, aber Israel verteidigt, kritisiert Y. Israel scharf, sprach aber 2014 vom Euro-Maidan als Putsch (wohl der CIA), postete damla viele Karten, die Spaltung in russischsprachige und ukrainischssprachige Gebiete zeigen sollten, sieht in der Ukraine seither den bösen Westen am Werk und verurteilt zwar den russischen Angriff, ist aber strikt gegen die Unterstützung der Ukraine. Nach dem Motto: Wenn die Ukraine sich wehren, sind sie selber schuld, dass der Krieg nicht vorbei ist. Nie im Leben fiele Y. ein, so von den Palästinensern zu denken. Wie gesagt: moralisch und politisch schizophren.

Leute (23)

Dass ausgerechnet X. irgendwann den Kontakt zu mir abgebrochen hat, ohne das freilich zu sagen und darum selbstverständlich auch ohne zu sagen, warum, ist eine der großen Kränkungen meines Lebens. Er war meine Jugendliebe gewesen, blieb es lange, viel zu lange; unerwidert, versteht sich. Wenigstens als Vertrauten und Freund hätte ich ihn gern für immer gehabt. Er aber fand wohl irgendwann, wir hätten nichts mehr miteinander gemein als (zudem womöglich abweichende) Erinnerungen, hätten uns zu weit von einander entfernt (nicht bloß räumlich), passten in keiner Hinsicht meht zueinander. Das kann ich gut verstehen. Ich bin seltsam. Aber das war ich doch immer. Früher dachte ich, er könne etwas damit anfangen. Nun, vielleicht hat er sich weiterentwickelt (wenn ich richtig unterstelle, wohin und wozu, gefällt mir das allerdings auch nicht), während ich immer noch derselbe Spinner wie früher bin, der überall aneckt und nirgendwo dazugehören will. Tja, das ist blöd, wenn das, was man für seine größte Stärke hält, von den andern als größte Schwäche erlebt wird.

Leute (22)

Ich muss immer mal wieder an X., Y. oder Z. usw. denken, an all die Leute, mit denen befreundet zu sein, ich gedacht hatte, bis sie irgendwann aufhörten, mich zu treffen, mit mir zu reden oder mir auch nur eine Antwort zu schreiben. Sicher liegt es an mir. Ich werde wohl irgendetwas gesagt haben, was sie nicht hören wollten. Wahrscheinlich bin ich langweilig. Verschroben. Rechthaberisch. Was auch immer. Freilich, wenn man mir nicht sagt, was ich falsch mache (oder inwiefern ich nicht ganz richtig bin), kann ich auch nicht wissen, ob ich etwas ändern soll oder kann oder will. Ich finde das einen merkwürdigen Umgang mit mir. Wenn ich mit jemandem nichts mehr zu tun haben will, sage ich ihm das und nenne die Gründe. So viel Respekt selbst vorm vielleicht Verachteten muss sein.

Donnerstag, 20. Februar 2025

Aphorismen (2)

Philosophie hätte der Versuch zu sein, die Leute mit dem zu behelligen, was sie sich selbst hätten denken können.

Philosophie sollte nicht das Bemühen sein, den Leuten ihre Vorurteile vorzukauen, damit sie daran gewöhnt werden, alles zu schlucken, was ihnen die Obrigkeit vorsetzt.
 
Pöbel, das sind nicht etwa die Unterschichten. Überhaupt handelt es sich nicht um eine Klasse, sondern um ein Benehmen. Pöbel, das sind die Verwahrlosten und Verrohten. (Trump ist Pöbel.)
 
Zu wissen, was falsch läuft und wie es besser zu machen wäre, nützt einem gar nichts, wenn die Sache, um die es geht, das Zusammenleben ist und die andern einfach nicht tun, was sie sollen.
 
Ob für zwei oder drei oder alle, es gilt immer dieselbe Regel: Was du nicht willst, was man dir tu, das füg auch keinem andern zu. 

Die Einsicht, dass andere ebenfalls Rechte haben und dass die sogar über dem eigenen Recht stehen können (über den eigenen Wünschen sowieso), ist die Grundlage jeder vernünftigen Weise des Miteinanders.
 
Es ist einfacher, als man denkt,  aber komplizierter, als man es brauchen kann.
 
Die Leute wollen eher durch vermeintliche Tiefe beeindruckt werden, als sich auch beim Philosophieren ums Naheliegende und Machbare zu kümmern.
 
Ein Denken, das keinen Unterschied macht, muss man sich leisten können. Mir ist der Preis zu hoch.

Montag, 17. Februar 2025

Wahrer Glaube?

Unlängst wurde ich in einem sozialen Netzwerk angepöbelt*, nachdem ich den Ausdruck „wahrer Glaube“ verwendet hatte. Das ist einerseits verständlich, denn meine Zeitgenossen, wenigstes die typischen unter ihnen, fühlen sich provoziert, wenn man so von religiösen Dingen spricht, als seien in Bezug auf diese nicht alle Wahrheitsansprüche gleichermaßen gültig; hier etwas für wahr zu halten und anderes für falsch, gilt als Fanatismus und Missachtung der „Andersgläubigen“. Andererseits ist diese Haltung der Gleich-Gültigkeit überhaupt nicht verständlich, denn sie widerspricht jeglicher Vernunft und ist nur Ausdruck der Angepasstheit an die herrschenden Verhältnisse, in denen Konflikte religiöser Überzeugungen den Geschäftsgang und das fröhliche Konsumieren stören könnten und Religion nur zugelassen ist, insofern sie missbraucht werden kann.
Den meisten Menschen ist es hoffentlich selbstverständlich, dass von zwei mit Wahrheitsanspruch geäußerten Behauptungen, die einander widersprechen, nicht beide in demselben Sinne wahr sein können: „A ist älter als B“ und „A ist jünger als B“ kann nicht beides stimmen, wenn in beiden Aussagen A und B dieselben Personen bezeichnet. (Und mit „älter“ und „jünger“ sich auf die Lebenszeit bezieht und nicht etwa im übertragenen Sinne auf Reife oder gleichen.)
Ohne die Unterscheidung von wahr und falsch, ohne die Anwendung dieser Unterscheidung auf Behauptungen, kommt niemand auf Dauer aus, im Gegenteil, richtig von falsch, wahr von unwahr zu unterscheiden, ist eine täglich notwendige Tätigkeit jedes Menschen, ohne die er jeden Wirklichkeitsbezug verlöre und gar nicht lebensfähig wäre. Daran ändert auch nichts, dass man sich irren , dass man belogen werden oder dass manchmal die Unterscheidung nicht getroffen werden kann, weil man zu wenig weiß und sich zunächst kein weiteres Wissen zu verschaffen vermag. Dass man aber Irrtümer einsehen, Lügen durchschauen und sein Wissen erweitern kann, zeigt, dass Wahrheit und Unwahrheit verschieden sind und dass Menschen wollen, dass ihr Wissen wahr ist. (Von Ausnahmen abgesehen, in denen sie lieber mit Lügen leben wollen, also eigentlich wollen, das Unwahres wahr ist. Auch gibt es bekanntlich pathologische Lügner …)
Es ist nun überhaupt nicht einzusehen, warum beim Glaubens nicht gelten soll, was beim Wissen gilt: Dass es Wahres und Falsches gibt und dass es vernünftig, wünschenswert und notwendig ― und darum vermutlich auch möglich ist ― es zu unterscheiden.
Zunächst gilt es einmal mehr festzuhalten, dass Glaube keine defiziente Form des Wissens ist („Glauben heißt nicht wissen“). Das Missverständnis mag damit zu tun haben, dass es Verwendungen des Verbs „glauben“ gibt, bei denen es mit „vermuten“ synonym ist: „Ich glaube, morgen wird es regnen.“ Wer so spricht, weiß nicht sicher, ob es morgen regnen wird oder nicht, hat aber irgendwelche guten oder schlechten Gründe, anzunehmen, dass es so sein wird. (Weil das Wetter danach ist oder weil es immer regnet, wenn er verreisen will.) Das ist aber nicht die entscheidende Bedeutung von „glauben“, schon gar nicht die, die gemeint ist, wenn man Glauben im religiösen Sinne von Wissen unterscheidet.
Die umfassende Bedeutung von „glauben“ ist: für wahr halten. Ich glaube, dass es morgen regnen wird, weil es so vorhergesagt wird. Ich glaube, dass du die Wahrheit sagst. Ich glaube, dass er sich etwas vormacht. Ich glaube daran, dass du schaffen wirst, was du dir vorgenommen hast. Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist. Ich glaube, ich weiß, wo ich meinen Regenschirm stehen gelassen habe. Ich glaube, dass Jesus Christus Gottes Sohn ist.
Die Überzeugung, dass etwas wahr ist, hat verschiedene Grade der Festigkeit (von „vielleicht“ bis „dafür lege ich mich meine Hand ins Feuer“) und verschiedene Grade der Begründetheit. Beides muss nicht übereinstimmen: Mancher glaubt fest an etwas, wofür er keine Gründe hat, ein anderer weiß zwar um gewisse Gründe, vermag aber trotzdem nicht wirklich daran zu glauben.
Während es also ein Für-wahr-halten geben kann, das schlecht, falsch oder gar nicht begründet ist, führt umgekehrt jede mehr oder minder gut begründete Einsicht zur Überzeugung, dass sie wahr ist. Mit anderen Worten: Man muss glauben, was man weiß, sonst glaubt man es nicht. Die Aussage „Ich weiß zwar, dass es so und so ist, aber ich glaube nicht, dass es so und so ist“ ist unsinnig. (Was nicht bedeutet, dass solch irrationales Vergalten nicht vorkommt; ein psychologisches, kein epistemologisches und logisches Thema.)
Was ich weiß, daran glaube ich auch. Das heißt, wofür ich (für mich) unabweisbare Gründe habe, das halte ich für wahr. In diesem Sinne ist Glauben Wissen und Wissen Glauben. Glauben ist also nicht minderes Wissen („vermuten“), sondern zu glauben ist der höchste Grad des Wissens: Nicht bloße Kenntnisnahme von irgendwelchen Fakten und ihren Relationen, sondern Zustimmung zur Wahrheit der Wirklichkeit. Und Ablehnung von Täuschung, Irrtum, Lüge.
Dabei ruht das Wissen, die begründete Einsicht, immer auf jeder Menge Vermutungen und wenig oder gar nicht begründeten Annahmen auf. Das ist unvermeidlicherweise so, weil kein Mensch alles wissen kann. Auch kann es keinen Wissenserwerb geben, der bei nichts begänne, es muss unbegründete Voraussetzungen geben, um etwas zu begründen. Diese Voraussetzungen können nachträglich erkannt und ihrerseits auf ihre Begründetheit hin untersucht werden, aber auch dazu kann nicht nur schon begründetes Wissen zur Grundlage gemacht werden. In diesem Sinne ist Glauben umfassender und grundlegender als Wissen.
Wenn es Erkenntnisgewinn gibt, und das ist schwerlich zu leugnen, dann als Fortschreiten von unbegründeten zu begründeten Annahmen. Anders gesagt, von bewusstem oder nicht bewusstem Für-wahr-halten zu erkanntem und begründetem Wissen. Dieser Fortschritt beginnt im Glauben und gelangt nie zur Allwissenheit. Insofern ist Wissen sozusagen nur die Spitze eines Eisbergs, dessen unterer, viel größerer, schwererer und alles aus dem Wasser Ragende tragender Teil Glauben ist.
Damit zurück zum religiösen Glauben. Es ist gar nicht einzusehen, warum bei diesem nicht zwischen wahr und falsch unterschieden werden kann oder sogar muss. Zumal die religiösen Fragen doch schon theoretisch nicht unerheblich sind: Existiert Gott? Was will er? Was ist ein gottgefälliges Leben? Was geschieht nach dem Tod mit mir? Warum gibt es Leiden und Schuld? An wen kann ich mich wenden, wenn mich existenzielle Nöte quälen? Warum gibt es überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts? Warum existiere ich?
Die verschiedenen Religionen und religiösen Richtungen stellen diese Fragen, wenn überhaupt, dann verschieden und sie beantworten sie verschieden. Es ist blanker Unsinn, was manche immer wieder behaupten, dass alle Religionen dasselbe sagen. Zwischen dem Bekenntnis, es gebe nur den transzendenten und von der Welt verschiedenen Gott, und der Annahme, es gebe viele Götter oder Gott und Welt seien identisch; zwischen dem Versuch, Geister Verstorbener zu beschwören und dem Glauben an die Heilswirksamkeit guter Taten; zwischen der Behauptung der Notwendigkeit, Kriegsgefangenen das Herz bei lebendigem Leib herauszureißen, um es der Sonne zu opfern, und dem Aufruf zu Liebe, Barmherzigkeit und Demut sind doch erhebliche Unterschiede …
Obwohl es keineswegs sicher ist, dass ein einheitlicher Begriff von Religion sinnvoll gebildet werden kann (weil damit womöglich viel zu verschiedene Phänomene nach einem kulturell vorgeprägten Muster zusammengefasst werden), kann man sich vielleicht doch auf diese wahre Behauptung verständigen: Was die verschiedenen religiösen Gemeinschaften für wahr halten, widerspricht einander. Zwar nicht in jedem Fall, aber doch in vielen wichtigen Fällen, die die Eigenart der jeweiligen Religion ausmachen.
Religiöser Glaube ist jedenfalls sehr viel mehr als ein bloßes Für-wahr-Halten, vielmehr eine existenzielle Entscheidung. Will sagen: Woran man glaubt, entscheidet hier, worauf man sein Dasein gründet, was man tut und lässt, was man von anderen verlangen zu dürfen glaubt, was man erhofft. Religion besteht nicht aus irgendwelchen Annahmen, die auch anders sein könnten, und irgendwelchen Rituale, die so oder so gestaltet werden können. Jede Religion ist auf ihre Weise ein Verhältnis des Menschen zu sich, zu anderen, zur Welt und zu dem, was es sonst noch gibt. Dieses Verhältnis beeinflusst auf je eigene Weise das Verhalten. Wer glaubt, dass er Gott beleidigt, wenn er Schweinefleisch isst und samstags arbeitet, wird es lassen. Wer glaubt, dass ein Bad im Ganges ihn von seinen Sünden reinigt, wird wohl eines nehmen. Wer glaubt, dass er sein Nächsten lieben muss, weil er sonst in die Hölle kommt, wird sich bemühen, es zu tun. (Das alles im Idealfall; man kann einer Religion anhängen und ihre Normen doch von Fall zu Fall missachten.)
Wenn religiöser Glaube existenziell ist, dann sind auch religiöse Differenzen existenziell. Das gilt auch und gerade bei religiösen Überzeugungen (oder zumindest Behauptungen), die nahe miteinander verwandt sind oder es zu sein scheinen, also etwa den unterschiedlichen Lehrsätzen (fachsprachlich Dogmen genannt) der verschiedenen christlichen „Konfessionen“.
Es macht offensichtlich einen erheblichen Unterschied, ob man Jesus Christus für Gott hält (eine der drei Personen des ewigen, ungeschaffenen Gottes) oder nur für ein besonderes Geschöpf. Ob Jesus Christus ganz Mensch und ganz Gott oder nur eines von beidem war (und ist). Ob man daran glaubt, dass Jesus Christus für alle Menschen am Kreuz gestorben ist oder nur für eine Gruppe von Auserwählten. Ob jeder Mensch durch die Gnade Gottes zur ewigen Seligkeit berufen ist, oder ob Gott im Voraus die einen für den Himmel und die anderen für die Hölle bestimmt. Ob man es für wahr hält, dass jeder sich frei für oder Gott entscheiden kann, oder glaubt, dass kein Mensch einen freien Willen hat. Ob man meint, dass es genügt, an Gott zu glauben, oder ob man, um selig zu werden, auch Gottes Willen tun muss. Ob bei der Feier der Eucharistie Brot und Wein tatsächlich zu Leib und Blut Christi werden oder die Kommunikanten sich das nur vorstellen. Ob man meint, der Heilige Geist bewahre die Kirche und ihr Lehramt letztlich vor Irrtum, oder ob man wahr haben will, dass jeder im Grunde glauben kann, was er will.
Die Liste der konfessionellen Unterschiede ist schier endlos. Sie betrifft wichtige theologische Themen, Konzepte der kirchlichen Organisation, Fragen der persönlichen Lebensführung. Nichts davon ist bloße Folklore, die man so oder anders gestalten kann (solche Unterschiede gibt es auch, um sie geht hier aber nicht). Hier entscheidet das, was man glaubt (oder glauben soll), darüber, welche Sicht seiner selbst, der Welt und Gottes man hat.
Bei jedem dieser Unterschiede kann gefragt werden: Ist das eine wahr oder das andere? Beides kann nicht zugleich und auf dieselbe Weise wahr sein. Vielmehr ist immer nur eines wahr, alles andere falsch. Es kann auch nicht egal sein, was stimmt. Weil es nicht um theologische Spitzfindigkeiten geht, sondern um praktische Effekte. Wenn Menschen zum Beispiel keinen freien Willen haben, erübrigen sich alle moralischen Appelle und das Strafrecht. Aber auch jede theologische Argumentation, denn jeder muss ja glauben, was er halt glaubt. Die Verbreitung von Unwahrheit schädigt die Menschen, weil sie unter Umständen ihren Zugang zur Wahrheit verstellt. Wem es wichtig ist, was wahr ist, der wird Irrtum und Lüge bekämpfen wollen.
Selbstverständlich kann man auch die Meinung vertreten, alles, was die katholische Kirche und die nichtkatholischen Häresien lehrten, sei falsch. das Christentum und Religion überhaupt sei immer unwahr. Nur dass kein Gott existiert, sei eine unbezweifelbare Wahrheit.
Allerdings glauben das die wenigsten. Die meisten Menschen überall auf der Welt sind auf die eine oder andere Weise religiös. Nur unter den Bewohnern der säkularisierten Industrienationen hat sich, wenigstens implizit, eine gewisse Glaubenslosigkeit, Glaubensmüdigkeit oder Glaubensschwäche durchgesetzt. (Nicht in den USA allerdings.) Religion spielt keine öffentliche Rolle mehr, gilt allenfalls als Privatsache, ist aber auch im Privatbereich längst ohne Bedeutung oder nur von kaum noch merklicher.
Unter solchen Bedingungen scheint es dann folgerichtig egal zu sein, welcher Glaube wahr oder falsch ist, man hat keinen oder nur einen weitgehend wirkungslosen: Irgendetwas Höheres wird es schon geben. Oder auch nicht. Hauptsache, man ist ein guter Mensch. Religiöse und „konfessionelle“ Differenzen sind, sofern überhaupt noch bekannt und verstanden, ohne Bedeutung.
Woher dann die Kriterien dafür, ein guter Mensch zu sein, also richtig zu handeln und nicht falsch, allerdings kommen sollen, ist in höchstem Maße fraglich und bleibt im Diffusen. Damit soll nicht gesagt sein, ein Atheist oder anderer Nichtkatholik könne „kein guter Mensch“ sein, also das Richtige tun und das Falsche meiden. (Während umgekehrt Menschen, die als Katholiken registriert sind, sehr wohl Dummköpfe und Verbrecher sein können.) Aber seine richtige Praxis hängt ohne den wahren Glauben sozusagen in der Luft, ist willkürlich und bestenfalls schlecht begründet. Jeder kann und soll sich an die Goldene Regel halten, die Grundlage aller Ethik: Behandle andere stets so, wie die von anderen behandelt werden willst. („Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andern zu.“) Aber nur der Gläubige weiß, dass das Gute, das sich in dieser universellen Handlungsanweisung zu Wort meldet, von Gott stammt, dem Quell alles Guten.
Das Wahre und das Gute gehören zusammen, sind im metaphysischen sinne dasselbe. Wer die Möglichkeit oder Bedeutung wahren Glaubens verwirft, verwirft die Vernunft, das Wissen, das Streben nach richtigem Handeln und einem sinnerfüllten Leben.
Manche sagen. Alles gut und schön. Aber ob es stimmt oder nicht, was als wahrer Glaube verkündet wird, kann man nicht wissen. Das übersteigt das menschliche Erkenntnisvermögen. Der Einwand zielt auf etwas Richtiges ― und verfehlt es doch. Denn zwischen den endlichen Menschen und dem unendlich, unfassbaren Gott vermittelt die Offenbarung, die freie Selbstmitteilung Gottes. Für Christen heißt das: Das Wort ist Mensch geworden und „hat unter uns gewohnt“; Jesus Christus ist Gottes Sohn und selbst ganz Gott und ganz Mensch, er „hat Kunde gebracht“. Auf diese Offenbarung, die durch die Zeugnisse (und die Beispiele der Heiligen) überliefert (und durch das Lehramt der Kirche geordnet) wird, antwortet der Glaube.
Was Gott sagt, kann nicht unwahr sein. Wer glaubt, was Gott sagt, kann nicht irren. Darum muss, wer glaubt, sicher gehen, dass das, was er glaubt, auch das ist, was wahr ist. Anders gesagt: Glaube allein genügt nicht, nur wahrer Glaube führt zum Heil.

* „Könnte es sein, dass Sie ein etwas irrer, jedenfalls wirrer und extremistischer Papist sind? (…) ‘Wahrer Glaube’? My ass!“

Sonntag, 16. Februar 2025

Spaltungsirresein

Spaltungsirresein (oder Schizophrenie) ist hier selbstverständlich nicht im klinischen Sinne gemeint. Das steht mir nicht zu, ich bin kein Psychiater. Ich meine es politisch, moralisch und intellektuell. Es gibt Menschen, und zwar gar nicht wenige, die zwei durchaus vergleichbare Phänomene völlig verschieden beurteilen, je nachdem, wie sie ihnen in ihren ideologischen Kram passen oder mit ihren Ressentiments und privaten Bindungen zusammenstimmen. Sie spalten ihr Denken auf und urteilen einmal so, einmal so. (George Orwell sprach in „Nineteen Eighty-four“ von blackwhite und doublethink. Siehe unten.)
X. zum Beispiel schreibt als Journalist aus eigener Erfahrung und in Kenntnis mancher Quellen kluge Dinge über die Ukraine und Russland. Er ist ein Gegner des russländischen politischen Systems und nimmt eindeutig für die überfallene Ukraine gegen den Aggressor Russland Partei. Er sieht, zeigt und benennt Recht und Unrecht.
Geht es aber um Israel, gelten seine sonst angewandten Kriterien nicht. Dann nennt X., der jüdischer Abstammung ist, bedenkenlos Unrecht Recht und Recht Unrecht, er erklärt den Aggressor zum Verteidiger und sieht in den Unterdrückten, Bedrängten, Bestohlenen, Verfolgten, Gefolterten, Verwundeten, Ermordeten nur kaum noch als Menschen geltende „Terroristen“, die es nicht besser verdient haben. Jede Kritik an Israel und dem Zionismus weist er aggressiv als „Antisemitismus“ zurück.
Mir ist völlig unklar, wie man das brutale Vorgehen des einen Regimes im brutalen Vorgehen des anderen Regimes nicht wiedererkennen kann und wie man es zu Stande bringt, denen einen Opfern eines Vernichtungskrieges die Solidarität und schlichten menschlichen Anstand zu verweigern, während man die Opfer eines anderen Vernichtungskrieges zu Recht beklagt.
Diese ethische Aufspaltung, die von sich nichts weiß, weil der so Verfahrende seine Äußerungen für konsistent hält, ist selbstverständlich weit verbreitet. Doppel- und Mehrfachmoral sind gängige Mittel, um das eigene Gewissen gar nicht erst zu beruhigen, sondern bereits im Vorfeld auszuschalten. Allerdings ist ein solches Vorgehen bei einem klugen und gebildeten Menschen, einem Intellektuellen von Beruf, frappant. Der erkennbare Wille zum Fehlurteil schlägt zurück auch auf die richtigen Urteile. Wenn X. für Terror und Menschenverachtung eintritt, weil er sich für einen Juden hält, ist er dann vielleicht auch nur gegen Russland, weil er auf der Krim geboren wurde? Hängen seine politischen Einschätzungen und Urteile, so sachlich sie sich geben mögen, viel stärker von seinen Affekten ab, als es ihrem Wert guttun kann?
Unlängst postete X. in einem sozialen Netzwerk, die widerlichsten Menschen zur Zeit seien JD Vance und Tilda Swinton. Das klingt verrückt. Was hätten der fanatische Israel-Unterstützer Vance und die vorsichtige BDS-Sympathisantin gemeinsam, sodass man sie beide zur selben Zeit gleichermaßen als „widerlich“ bezeichnen könnte? Wohl nur den Hass von X., nämlich einerseits auf jede Zurückweisung des Zionismus, andererseits auf mangelnde Unterstützung der Ukraine. Konsistent ist das nicht. Eher „schizophren“. Ich bin mir ziemlich sicher (auch wenn ich das nicht gegoogelt habe), dass die Swinton den russischen Angriffskrieg verurteilt, während Vance als Repräsentant des Trump-Regimes bekanntermaßen nicht nur mit Putin (und auch deshalb mit der AfD) sympathisiert und den Staat Israel rückhaltlos unterstützt (und mit der Idee der Massendeportation der Palästinenser die Auslöschungsstrategue sogar noch ins Bizarre vorantreibt). Aber der Philozionismus (sonst sehr erwünscht, ja gefordert) des Vizepräsidenten nutzt ihm bei X. nichts, weil der Politiker zu russlandfreundlich ist, und die Schauspielerin könnte vor der russländischen Botschaft in Washington in den Hungerstreik treten, es nutzt ihr nichts, weil sie Israel delegitimieren möchte: Also sind beide widerlich. Jedenfalls für X. (und seine followers.)
Ich finde es irr, die eigenen politischen und moralischen Wertungen so aufzuspalten. Ich möchte stattdessen unbedingt an dem festhalten, was mir offensichtlich scheint: Ukrainer sind Opfer, Palästinenser sind Opfer, Russland ist der Täter, Israel ist der Täter. Recht ist Recht, Unrecht ist Unrecht. Unterschiede gibt es selbstverständlich, aber für die grundsätzliche Bewertung spielen sie keine Rolle. Auch die eigene Herkunft oder Zugehörigkeit darf das Urteilsvermögen nicht beeinflussen. Dass man daran überhaupt erinnern muss, ist traurig.

The key-word here is blackwhite. Like so many Newspeak words, this word has two mutually contradictory meanings. Applied to an opponent, it means the habit of impudently claiming that black is white, in contradiction of the plain facts. Applied to a Party member, it means a loyal willingness to say that black is white when Party discipline demands this. But it means also the ability to believe that black is white, and more, to know that black is white, and to forget that one has ever believed the contrary. This demands a continuous alteration of the past, made possible by the system of thought which really embraces all the rest, and which is known in Newspeak as doublethink. (George Orwell, Nineteen Eighty-four, 1949)

München, gestern (II)

Der Tatverdächtige habe im Verhör erklärt, heißt es, seine Tat sei ihm von Allah befohlen worden. Er habe sie begehen sollen, damit die Getöteten ins Paradies kämen.
Trotzdem beharren die Ermittler darauf, heißt es, dass der Mann nicht verrückt sei. Vielmehr sei seine Tat „islamistisch motiviert“.
Ich bin da kein Spezialist, aber wann und wo hätte je ein Islamist töten wollen, damit die Getöteten ins Paradies kommen? Will ein Islamist nicht normalerweise die Feinde Allahs und der Muslime beseitigen (die dann ja wohl sicher in die Hölle kommen)?
Und wenn einer erzählt, zu seiner, mit Verlaub, Wahnsinnstat sei er unmittelbar von Gott beauftragt worden, lässt das nicht doch den Verdacht aufkommen, er sei nicht ganz richtig im Kopf? Über die Berichte von Marienerscheinungen macht der moderne, säkularisierte Mensch sich gern lustig und nimmt sie als Ausdruck ungesunder religiöser Überspanntheit, aber wenn ein, wie es heißt, eifriger Muslim angeblich Mordbefehle von Allah bekommt, ist das nicht abwegig und macht ihn zum politisch Motivierten statt zum Geistesgestörten? Wie gestört ist das denn?

Freitag, 14. Februar 2025

München, gestern

Es wird nicht wirklich überraschen können, welche der mutmaßlichen Zuschreibungen (Afghane, Autofahrer, Bodybuilder, Deutschlandbewohner, Mann, Münchner, Muslim, Verrückter oder Asylbewerber) für die Tat ursächlich gewesen sein müssen wird.
 
Der Bald-Ex- (und Cum-Ex-)Kanzler will naturgemäß sofort ausweisen. Das wird allerdings seine Partei auch nicht vorm selbstverschuldeten Desaster bewahren.
 
Der bayerische Innenminister verbreitet Unwahres. Simple Strategie: Erst einmal in eine Kerbe hauen, dann zurückrudern. Die Leute werden sich dann schon das merken, was man ihnen mitteilen wollte.
 
„Diesmal ist es München“: Eine infame Schlagzeile. Als ob in der BRD dauernd Blutbäder wären. Da könnten die Menschen in Gaza, in der Ukraine oder im Sudan aber noch von ganz anderem erzählen.

Donnerstag, 13. Februar 2025

Notiz zur Zeit (242)

Wenn das Trump-Regime eine Form der Klassenherrschaft ist, was es ja wohl sein muss, dann herrscht da eine völlig irre Klasse.

Wahlkampf in der BRD: Ich weiß nicht, was ich beleifigender finde, das schamlos leere Gerede der Politiker (beiderlei Geschlechts), oder die klebrige Geschäftigkeit der Journalistinnen (beiderlei Geschlechts), die all das hohle Geschwätz einfordern und bis ins zermürbendste Detail hinein analysieren.

An dem Tag, an dem ich verstanden habe werde, warum sich jemand freiwillig ein sogenanntes „Tefauduell“ anschaut (etwa „Merz gegen Scholz“), habe ich alle Rätsel gelöst.
 
Ist Interesse am bundesdeutschen Wahlkampf und seinen Wucherungen womöglich eine Abart des Todestriebs?

Wer nicht ziemlich präzise vorhersagen kann, was ein Vertreter einer der üblichen Parteien auf eine der üblichen Fragen antworten wird, hat wohl seit längerer Zeit nicht aufgepasst (oder ist dumm).

Der Versuch, etwas so Langweiliges und Inhaltsleeres wie einen Wahlkampf in der Berliner Republik zu etwas Spannendem und Entscheidendem zu stilisieren, hat etwas Verzweifeltes und ist in seiner unübersehbaren Vergeblichkeit lächerlicher Ausdruck der zu Grunde liegenden Vertuschungsabsicht.

Die wirklichen Probleme werden nicht nur nicht angesprochen (da sonst mögliche Lösungen einfallen könnten), es werden Scheinprobleme („Migration“) zu Schicksalsthemen aufgeblasen. Als ob Zuwanderung die Ursache einer kaputten Infrastruktur, einem maroden Bildungssystem, einer ungerechten Gesellschaft und einer ausbeuterischen, umweltzerstörerischen und verdummenden Wirtschaft wäre.

Das muss man Trump und seiner Truppe von närrischen Schädlingen zu Gute halten: Sie haben angekündigt, Dummes und Zerstörerisches tun zu wollen, und sie tun es. Das ist freilich nicht Ehrlichkeit, sondern Zwanghaftigkeit.

Dass Lächerlichkeit, anders als vom aperçu einst versprochen, doch nicht tötet, ist eine der enttäuschendesten Einsichten meines bisherigen Lebens.
 
Zu Österreich fällt mir nichts mehr ein. Hier sind die Nazis sogar zu blöd, die Konservativen, wie sonst üblich, als Steigbügelhalter zu gebrauchen.

Sonntag, 9. Februar 2025

Notiz vom 15. Februar 2017

In meinem Denken und Schreiben versuche ich, die Menschen, und zwar die wirklichen Menschen, mit all ihren Stärken und Schwächen, mit ihrer Würde und Bedürftigkeit, mit ihren Rechten, ihrer Endlichkeit und der Einzigartigkeit jedes einzelnen von ihnen in Schutz zu nehmen gegen die Gewalten, die über sie herrschen und sie verderben wollen. Und doch, so gebe ich zu, halte ich sehr viele Menschen für Gesindel und nicht wenige für Abschaum. Dass es ihnen an Anstand und Geschmack, an Demut und Liebe mangelt, mag man als Wirkung besagter herrschender Gewalten ansehen, ich verstehe es aber auch als Ursache derselben. Denn die verderblichen Gewalten, die die Welt beherrschen, sind nichts anderes als die Folge all der kleinen und großen Unzulänglichkeiten, all der Schummeleien, Ausreden [und Lieblosigkeiten, aber eben auch all der] Vergehen und Verbrechen[, die das Tun und Lassen der Leute ausmachen.] Ich werde wohl nicht damit aufhören, die Menschen mit meinen bescheidenen Mitteln verteidigen zu wollen. Aber mir ist klar, das ich sie damit am meisten vor sich selbst in Schutz nehmen muss.
 
[Ergänzungen vom 9. Februar 2025 in eckigen Klammern.]

Freitag, 7. Februar 2025

Es ist manifest

Das Problem der Klassengesellschaft ist nicht die Bourgeoisie, sondern das Proletariat.
Die Bourgeoise macht, gemessen an der ihr zugeschriebenen Rationalität, alles richtig.
Das Proletariat  aber soll doch angeblich die Revolution machen.
Und, was ist jetzt damit?

Dienstag, 4. Februar 2025

Anziehsachen

Es gibt heutzutage Menschen, die haben einen Beruf daraus gemacht, dass sie sich anziehen (und andere dabei zusehen lassen).
 
Das finde ich erstaunlich. Aber richtig schlimm scheint mir, dass es Menschen gibt, die aus dem Anziehen einen Lebensinhalt gemacht haben.
 
Mir ist so wurscht, wer was anhat (Hauptsache, es verhüllt, was ich ungern sähe), dass mir die, denen es offensichtlich ganz und nicht egal ist, zuweilen ziemlich auf die Nerven gehen.

Ästhetisches Verhalten ist ethisches Verhalten. Schon der Versuch, der ja nicht selten kläglich scheitert, das eigene Aussehen nach den gerade geltenden Regeln zu gestalten, erscheint mir mitunter als Affront. Hast du schon die Welt gerettet? Nein? Dann kümmere dich doch erstmal darum, bevor du hier als Möchtegern-Modepüppchen rumstolzierst.
 
(Männer, die viel Aufhebens um ihr Aussehen machen ― Kleidung, Frisur, teurer Duft, gebleichte Zähne, antrainierte Muskeln, nicht zuletzt piercings und tattoos ― finde ich zumeist spontan unattraktiv. Vielleicht unterstelle ich immer einen Mangel an Persönlichkeit.)

Mir ist schon klar, dass Kleidung immer auch eine symbolische Funktion hat und seit jeher der Distinktion dient. Und doch wäre mir am liebsten, der code lautete einfach immer nur: Das ist bequem und erfüllt seinen Zweck.
 
Aber unter den Herrschaft der Mode sendet selbst der, der (wie ich) sich der Mode verweigert (einfach weil er sie zumeist gar nicht kennt) eine lesbare Botschaft.

Samstag, 1. Februar 2025

Der arme Teufel und die Beelzebübische

Dass Frau M. (Uckermarck), die immer schon dumm und niederträchtig war und durch ihr Tun und Lassen viel Schaden anrichtete, jetzt Herrn M. (Sauerland), ihrem alten Intimfeind, aus ihrem Ruhestand heraus ans Bein pinkelte, freut manche. Das ist aber, als zöge man die Beelzebübische dem Teufel vor. 
Dass Herr M. nicht die Schläue und den Machtinstinkt von Frau M. besitzt, macht ihn nicht weniger gefährlich, aber umgekehrt auch sie nicht, nicht einmal im verklärenden Rückblick, zur verantwortungsvollen Politikerin.
Was manche ihr ankreiden, andere als Verdienst zuschreiben, die angebliche Grenzöffnung für Flüchtlinge 2015, war einfach ein Fügen ins Unvermeidliche. Hätte sie die deutschen Außengrenzen schließen lassen, hätten sich die in die BRD wollenden Flüchtlinge in Österreich und anderen Durchgangsländern gestaut, und das hätte eine europäische Krise ausgelöst, die Frau M. politisch nicht überlebt hätte. Mit Menschlichkeit hatte ihre Entscheidung (und übrigens ihre wie immer blasse und ungeschickte Rhetorik) nichts zu tun.
Der unempathische, durchbürokratisierte Umgang mit Zuflucht suchenden Menschen wurde zwar von der M. nicht erfunden, aber symbolisch auf die Spitze getrieben mit ihrem berühmt-berüchtigten Wir schaffen das! Als banale Feststellung, dass ein stinkend reiches Land wie die BRD selbstverständlich nahezu jede Menge Flüchtlinge aufnehmen kann, den politischen Willen dazu vorausgesetzt (den freilich auch Frau M. nicht hatte), wäre die Aussage sogar zutreffend gewesen. Indem sie aber, wo es um Menschen gung, von „schaffen“ redete, definierte sie mitmenschliche Rechte, Bedürfnisse, Wünsche von vornherein als herausforderndes Problem fremder Leute und artikuliert gerade nicht das, worum es hätte gehen müssen (und noch heute zu gehen hat): moralische Verpflichtung („wir müssen das“) und schlichten menschlichen Anstand („wir wollen das“).
Herr M. ist nun gewiss um keinen Deut besser als Frau M., auf seine Weise (weniger raffiniert, weniger geschickt) sogar schlimmer. Aber immerhin ist er jedem, der hinschauen will, sofort als der miesepetrig Tropf und verklemmte Gierhals erkennbar, der er ist. Bei Frau M. verwechseln leider manche die graue Leidenschaftslosigkeit, die innere Abgestorbenheit, die phantasielose Hohlheit und Dumpfheit der Frau mit Nüchternheit und Sachlichkeit. Im Übrigen macht es wohl kaum einen Unterschied, ob einem Muttis ruhige Hand an die Gurgel greift oder Fritzens kalte Kralle. Diabolisch ist beides.

Notiz über Sozialismus (17. September 2014)

Die Abschaffung des Privateigentums (an Produktionsmitteln) ist kein Selbstzweck. Sie dient dazu, die Herrschaft von Menschen über Menschen abzuschaffen oder wenigstens zu mindern. Eine Abschaffung des Privateigentums, die zu mehr oder härterer Herrschaft führt, ist nicht im mindestens erstrebenswert. Sozialismus ohne Freiheit ist sinnwidrig. 
Es ist, als ob man eine Straßenverkehrsordnung einführte, die zu mehr Unfällen führte, noch dazu solchen mit Todesfolge. Nun kann es ja sein, dass eine Straßenverkehrsordnung schlecht durchdacht ist oder schlecht umgesetzt wird. Dann kann man sich Verbesserungen überlegen. Ist die Straßenverkehrsordnung aber, aus welchen Gründen auch immer, ausdrücklich darauf angelegt, Menschen zu schaden, so kann sie nur verworfen werden.
Aus der bloßen Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln für sich genommen folgt für die [Bewertung einer] Gesellschaft noch gar nichts. Es kommt darauf an, wer der neue Eigentümer ist und wie das Eigentum verwaltet wird.
Die Menschen können nicht sich selbst umgestalten, ohne ihre Verhältnisse zueinander umzugestalten. Und sie können nicht ihre Verhältnisse zueinander umgestalten, ohne sich selbst umzugestalten. Eine bloß „soziale“ Revolution ist ebenso zu Scheitern verurteilt wie eine bloß „individuelle“.