Unlängst wurde ich in einem sozialen Netzwerk angepöbelt*, nachdem ich den Ausdruck „wahrer Glaube“ verwendet hatte. Das ist einerseits verständlich, denn meine Zeitgenossen, wenigstes die typischen unter ihnen, fühlen sich provoziert, wenn man so von religiösen Dingen spricht, als seien in Bezug auf diese nicht alle Wahrheitsansprüche gleichermaßen gültig; hier etwas für wahr zu halten und anderes für falsch, gilt als Fanatismus und Missachtung der „Andersgläubigen“. Andererseits ist diese Haltung der Gleich-Gültigkeit überhaupt nicht verständlich, denn sie widerspricht jeglicher Vernunft und ist nur Ausdruck der Angepasstheit an die herrschenden Verhältnisse, in denen Konflikte religiöser Überzeugungen den Geschäftsgang und das fröhliche Konsumieren stören könnten und Religion nur zugelassen ist, insofern sie missbraucht werden kann.
Den meisten Menschen ist es hoffentlich selbstverständlich, dass von zwei mit Wahrheitsanspruch geäußerten Behauptungen, die einander widersprechen, nicht beide in demselben Sinne wahr sein können: „A ist älter als B“ und „A ist jünger als B“ kann nicht beides stimmen, wenn in beiden Aussagen A und B dieselben Personen bezeichnet. (Und mit „älter“ und „jünger“ sich auf die Lebenszeit bezieht und nicht etwa im übertragenen Sinne auf Reife oder gleichen.)
Ohne die Unterscheidung von wahr und falsch, ohne die Anwendung dieser Unterscheidung auf Behauptungen, kommt niemand auf Dauer aus, im Gegenteil, richtig von falsch, wahr von unwahr zu unterscheiden, ist eine täglich notwendige Tätigkeit jedes Menschen, ohne die er jeden Wirklichkeitsbezug verlöre und gar nicht lebensfähig wäre. Daran ändert auch nichts, dass man sich irren , dass man belogen werden oder dass manchmal die Unterscheidung nicht getroffen werden kann, weil man zu wenig weiß und sich zunächst kein weiteres Wissen zu verschaffen vermag. Dass man aber Irrtümer einsehen, Lügen durchschauen und sein Wissen erweitern kann, zeigt, dass Wahrheit und Unwahrheit verschieden sind und dass Menschen wollen, dass ihr Wissen wahr ist. (Von Ausnahmen abgesehen, in denen sie lieber mit Lügen leben wollen, also eigentlich wollen, das Unwahres wahr ist. Auch gibt es bekanntlich pathologische Lügner …)
Es ist nun überhaupt nicht einzusehen, warum beim Glaubens nicht gelten soll, was beim Wissen gilt: Dass es Wahres und Falsches gibt und dass es vernünftig, wünschenswert und notwendig ― und darum vermutlich auch möglich ist ― es zu unterscheiden.
Zunächst gilt es einmal mehr festzuhalten, dass Glaube keine defiziente Form des Wissens ist („Glauben heißt nicht wissen“). Das Missverständnis mag damit zu tun haben, dass es Verwendungen des Verbs „glauben“ gibt, bei denen es mit „vermuten“ synonym ist: „Ich glaube, morgen wird es regnen.“ Wer so spricht, weiß nicht sicher, ob es morgen regnen wird oder nicht, hat aber irgendwelche guten oder schlechten Gründe, anzunehmen, dass es so sein wird. (Weil das Wetter danach ist oder weil es immer regnet, wenn er verreisen will.) Das ist aber nicht die entscheidende Bedeutung von „glauben“, schon gar nicht die, die gemeint ist, wenn man Glauben im religiösen Sinne von Wissen unterscheidet.
Die umfassende Bedeutung von „glauben“ ist: für wahr halten. Ich glaube, dass es morgen regnen wird, weil es so vorhergesagt wird. Ich glaube, dass du die Wahrheit sagst. Ich glaube, dass er sich etwas vormacht. Ich glaube daran, dass du schaffen wirst, was du dir vorgenommen hast. Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist. Ich glaube, ich weiß, wo ich meinen Regenschirm stehen gelassen habe. Ich glaube, dass Jesus Christus Gottes Sohn ist.
Die Überzeugung, dass etwas wahr ist, hat verschiedene Grade der Festigkeit (von „vielleicht“ bis „dafür lege ich mich meine Hand ins Feuer“) und verschiedene Grade der Begründetheit. Beides muss nicht übereinstimmen: Mancher glaubt fest an etwas, wofür er keine Gründe hat, ein anderer weiß zwar um gewisse Gründe, vermag aber trotzdem nicht wirklich daran zu glauben.
Während es also ein Für-wahr-halten geben kann, das schlecht, falsch oder gar nicht begründet ist, führt umgekehrt jede mehr oder minder gut begründete Einsicht zur Überzeugung, dass sie wahr ist. Mit anderen Worten: Man muss glauben, was man weiß, sonst glaubt man es nicht. Die Aussage „Ich weiß zwar, dass es so und so ist, aber ich glaube nicht, dass es so und so ist“ ist unsinnig. (Was nicht bedeutet, dass solch irrationales Vergalten nicht vorkommt; ein psychologisches, kein epistemologisches und logisches Thema.)
Was ich weiß, daran glaube ich auch. Das heißt, wofür ich (für mich) unabweisbare Gründe habe, das halte ich für wahr. In diesem Sinne ist Glauben Wissen und Wissen Glauben. Glauben ist also nicht minderes Wissen („vermuten“), sondern zu glauben ist der höchste Grad des Wissens: Nicht bloße Kenntnisnahme von irgendwelchen Fakten und ihren Relationen, sondern Zustimmung zur Wahrheit der Wirklichkeit. Und Ablehnung von Täuschung, Irrtum, Lüge.
Dabei ruht das Wissen, die begründete Einsicht, immer auf jeder Menge Vermutungen und wenig oder gar nicht begründeten Annahmen auf. Das ist unvermeidlicherweise so, weil kein Mensch alles wissen kann. Auch kann es keinen Wissenserwerb geben, der bei nichts begänne, es muss unbegründete Voraussetzungen geben, um etwas zu begründen. Diese Voraussetzungen können nachträglich erkannt und ihrerseits auf ihre Begründetheit hin untersucht werden, aber auch dazu kann nicht nur schon begründetes Wissen zur Grundlage gemacht werden. In diesem Sinne ist Glauben umfassender und grundlegender als Wissen.
Wenn es Erkenntnisgewinn gibt, und das ist schwerlich zu leugnen, dann als Fortschreiten von unbegründeten zu begründeten Annahmen. Anders gesagt, von bewusstem oder nicht bewusstem Für-wahr-halten zu erkanntem und begründetem Wissen. Dieser Fortschritt beginnt im Glauben und gelangt nie zur Allwissenheit. Insofern ist Wissen sozusagen nur die Spitze eines Eisbergs, dessen unterer, viel größerer, schwererer und alles aus dem Wasser Ragende tragender Teil Glauben ist.
Damit zurück zum religiösen Glauben. Es ist gar nicht einzusehen, warum bei diesem nicht zwischen wahr und falsch unterschieden werden kann oder sogar muss. Zumal die religiösen Fragen doch schon theoretisch nicht unerheblich sind: Existiert Gott? Was will er? Was ist ein gottgefälliges Leben? Was geschieht nach dem Tod mit mir? Warum gibt es Leiden und Schuld? An wen kann ich mich wenden, wenn mich existenzielle Nöte quälen? Warum gibt es überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts? Warum existiere ich?
Die verschiedenen Religionen und religiösen Richtungen stellen diese Fragen, wenn überhaupt, dann verschieden und sie beantworten sie verschieden. Es ist blanker Unsinn, was manche immer wieder behaupten, dass alle Religionen dasselbe sagen. Zwischen dem Bekenntnis, es gebe nur den transzendenten und von der Welt verschiedenen Gott, und der Annahme, es gebe viele Götter oder Gott und Welt seien identisch; zwischen dem Versuch, Geister Verstorbener zu beschwören und dem Glauben an die Heilswirksamkeit guter Taten; zwischen der Behauptung der Notwendigkeit, Kriegsgefangenen das Herz bei lebendigem Leib herauszureißen, um es der Sonne zu opfern, und dem Aufruf zu Liebe, Barmherzigkeit und Demut sind doch erhebliche Unterschiede …
Obwohl es keineswegs sicher ist, dass ein einheitlicher Begriff von Religion sinnvoll gebildet werden kann (weil damit womöglich viel zu verschiedene Phänomene nach einem kulturell vorgeprägten Muster zusammengefasst werden), kann man sich vielleicht doch auf diese wahre Behauptung verständigen: Was die verschiedenen religiösen Gemeinschaften für wahr halten, widerspricht einander. Zwar nicht in jedem Fall, aber doch in vielen wichtigen Fällen, die die Eigenart der jeweiligen Religion ausmachen.
Religiöser Glaube ist jedenfalls sehr viel mehr als ein bloßes Für-wahr-Halten, vielmehr eine existenzielle Entscheidung. Will sagen: Woran man glaubt, entscheidet hier, worauf man sein Dasein gründet, was man tut und lässt, was man von anderen verlangen zu dürfen glaubt, was man erhofft. Religion besteht nicht aus irgendwelchen Annahmen, die auch anders sein könnten, und irgendwelchen Rituale, die so oder so gestaltet werden können. Jede Religion ist auf ihre Weise ein Verhältnis des Menschen zu sich, zu anderen, zur Welt und zu dem, was es sonst noch gibt. Dieses Verhältnis beeinflusst auf je eigene Weise das Verhalten. Wer glaubt, dass er Gott beleidigt, wenn er Schweinefleisch isst und samstags arbeitet, wird es lassen. Wer glaubt, dass ein Bad im Ganges ihn von seinen Sünden reinigt, wird wohl eines nehmen. Wer glaubt, dass er sein Nächsten lieben muss, weil er sonst in die Hölle kommt, wird sich bemühen, es zu tun. (Das alles im Idealfall; man kann einer Religion anhängen und ihre Normen doch von Fall zu Fall missachten.)
Wenn religiöser Glaube existenziell ist, dann sind auch religiöse Differenzen existenziell. Das gilt auch und gerade bei religiösen Überzeugungen (oder zumindest Behauptungen), die nahe miteinander verwandt sind oder es zu sein scheinen, also etwa den unterschiedlichen Lehrsätzen (fachsprachlich Dogmen genannt) der verschiedenen christlichen „Konfessionen“.
Es macht offensichtlich einen erheblichen Unterschied, ob man Jesus Christus für Gott hält (eine der drei Personen des ewigen, ungeschaffenen Gottes) oder nur für ein besonderes Geschöpf. Ob Jesus Christus ganz Mensch und ganz Gott oder nur eines von beidem war (und ist). Ob man daran glaubt, dass Jesus Christus für alle Menschen am Kreuz gestorben ist oder nur für eine Gruppe von Auserwählten. Ob jeder Mensch durch die Gnade Gottes zur ewigen Seligkeit berufen ist, oder ob Gott im Voraus die einen für den Himmel und die anderen für die Hölle bestimmt. Ob man es für wahr hält, dass jeder sich frei für oder Gott entscheiden kann, oder glaubt, dass kein Mensch einen freien Willen hat. Ob man meint, dass es genügt, an Gott zu glauben, oder ob man, um selig zu werden, auch Gottes Willen tun muss. Ob bei der Feier der Eucharistie Brot und Wein tatsächlich zu Leib und Blut Christi werden oder die Kommunikanten sich das nur vorstellen. Ob man meint, der Heilige Geist bewahre die Kirche und ihr Lehramt letztlich vor Irrtum, oder ob man wahr haben will, dass jeder im Grunde glauben kann, was er will.
Die Liste der konfessionellen Unterschiede ist schier endlos. Sie betrifft wichtige theologische Themen, Konzepte der kirchlichen Organisation, Fragen der persönlichen Lebensführung. Nichts davon ist bloße Folklore, die man so oder anders gestalten kann (solche Unterschiede gibt es auch, um sie geht hier aber nicht). Hier entscheidet das, was man glaubt (oder glauben soll), darüber, welche Sicht seiner selbst, der Welt und Gottes man hat.
Bei jedem dieser Unterschiede kann gefragt werden: Ist das eine wahr oder das andere? Beides kann nicht zugleich und auf dieselbe Weise wahr sein. Vielmehr ist immer nur eines wahr, alles andere falsch. Es kann auch nicht egal sein, was stimmt. Weil es nicht um theologische Spitzfindigkeiten geht, sondern um praktische Effekte. Wenn Menschen zum Beispiel keinen freien Willen haben, erübrigen sich alle moralischen Appelle und das Strafrecht. Aber auch jede theologische Argumentation, denn jeder muss ja glauben, was er halt glaubt. Die Verbreitung von Unwahrheit schädigt die Menschen, weil sie unter Umständen ihren Zugang zur Wahrheit verstellt. Wem es wichtig ist, was wahr ist, der wird Irrtum und Lüge bekämpfen wollen.
Selbstverständlich kann man auch die Meinung vertreten, alles, was die katholische Kirche und die nichtkatholischen Häresien lehrten, sei falsch. das Christentum und Religion überhaupt sei immer unwahr. Nur dass kein Gott existiert, sei eine unbezweifelbare Wahrheit.
Allerdings glauben das die wenigsten. Die meisten Menschen überall auf der Welt sind auf die eine oder andere Weise religiös. Nur unter den Bewohnern der säkularisierten Industrienationen hat sich, wenigstens implizit, eine gewisse Glaubenslosigkeit, Glaubensmüdigkeit oder Glaubensschwäche durchgesetzt. (Nicht in den USA allerdings.) Religion spielt keine öffentliche Rolle mehr, gilt allenfalls als Privatsache, ist aber auch im Privatbereich längst ohne Bedeutung oder nur von kaum noch merklicher.
Unter solchen Bedingungen scheint es dann folgerichtig egal zu sein, welcher Glaube wahr oder falsch ist, man hat keinen oder nur einen weitgehend wirkungslosen: Irgendetwas Höheres wird es schon geben. Oder auch nicht. Hauptsache, man ist ein guter Mensch. Religiöse und „konfessionelle“ Differenzen sind, sofern überhaupt noch bekannt und verstanden, ohne Bedeutung.
Woher dann die Kriterien dafür, ein guter Mensch zu sein, also richtig zu handeln und nicht falsch, allerdings kommen sollen, ist in höchstem Maße fraglich und bleibt im Diffusen. Damit soll nicht gesagt sein, ein Atheist oder anderer Nichtkatholik könne „kein guter Mensch“ sein, also das Richtige tun und das Falsche meiden. (Während umgekehrt Menschen, die als Katholiken registriert sind, sehr wohl Dummköpfe und Verbrecher sein können.) Aber seine richtige Praxis hängt ohne den wahren Glauben sozusagen in der Luft, ist willkürlich und bestenfalls schlecht begründet. Jeder kann und soll sich an die Goldene Regel halten, die Grundlage aller Ethik: Behandle andere stets so, wie die von anderen behandelt werden willst. („Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andern zu.“) Aber nur der Gläubige weiß, dass das Gute, das sich in dieser universellen Handlungsanweisung zu Wort meldet, von Gott stammt, dem Quell alles Guten.
Das Wahre und das Gute gehören zusammen, sind im metaphysischen sinne dasselbe. Wer die Möglichkeit oder Bedeutung wahren Glaubens verwirft, verwirft die Vernunft, das Wissen, das Streben nach richtigem Handeln und einem sinnerfüllten Leben.
Manche sagen. Alles gut und schön. Aber ob es stimmt oder nicht, was als wahrer Glaube verkündet wird, kann man nicht wissen. Das übersteigt das menschliche Erkenntnisvermögen. Der Einwand zielt auf etwas Richtiges ― und verfehlt es doch. Denn zwischen den endlichen Menschen und dem unendlich, unfassbaren Gott vermittelt die Offenbarung, die freie Selbstmitteilung Gottes. Für Christen heißt das: Das Wort ist Mensch geworden und „hat unter uns gewohnt“; Jesus Christus ist Gottes Sohn und selbst ganz Gott und ganz Mensch, er „hat Kunde gebracht“. Auf diese Offenbarung, die durch die Zeugnisse (und die Beispiele der Heiligen) überliefert (und durch das Lehramt der Kirche geordnet) wird, antwortet der Glaube.
Was Gott sagt, kann nicht unwahr sein. Wer glaubt, was Gott sagt, kann nicht irren. Darum muss, wer glaubt, sicher gehen, dass das, was er glaubt, auch das ist, was wahr ist. Anders gesagt: Glaube allein genügt nicht, nur wahrer Glaube führt zum Heil.
* „Könnte es sein, dass Sie ein etwas irrer, jedenfalls wirrer und extremistischer Papist sind? (…) ‘Wahrer Glaube’? My ass!“
Den meisten Menschen ist es hoffentlich selbstverständlich, dass von zwei mit Wahrheitsanspruch geäußerten Behauptungen, die einander widersprechen, nicht beide in demselben Sinne wahr sein können: „A ist älter als B“ und „A ist jünger als B“ kann nicht beides stimmen, wenn in beiden Aussagen A und B dieselben Personen bezeichnet. (Und mit „älter“ und „jünger“ sich auf die Lebenszeit bezieht und nicht etwa im übertragenen Sinne auf Reife oder gleichen.)
Ohne die Unterscheidung von wahr und falsch, ohne die Anwendung dieser Unterscheidung auf Behauptungen, kommt niemand auf Dauer aus, im Gegenteil, richtig von falsch, wahr von unwahr zu unterscheiden, ist eine täglich notwendige Tätigkeit jedes Menschen, ohne die er jeden Wirklichkeitsbezug verlöre und gar nicht lebensfähig wäre. Daran ändert auch nichts, dass man sich irren , dass man belogen werden oder dass manchmal die Unterscheidung nicht getroffen werden kann, weil man zu wenig weiß und sich zunächst kein weiteres Wissen zu verschaffen vermag. Dass man aber Irrtümer einsehen, Lügen durchschauen und sein Wissen erweitern kann, zeigt, dass Wahrheit und Unwahrheit verschieden sind und dass Menschen wollen, dass ihr Wissen wahr ist. (Von Ausnahmen abgesehen, in denen sie lieber mit Lügen leben wollen, also eigentlich wollen, das Unwahres wahr ist. Auch gibt es bekanntlich pathologische Lügner …)
Es ist nun überhaupt nicht einzusehen, warum beim Glaubens nicht gelten soll, was beim Wissen gilt: Dass es Wahres und Falsches gibt und dass es vernünftig, wünschenswert und notwendig ― und darum vermutlich auch möglich ist ― es zu unterscheiden.
Zunächst gilt es einmal mehr festzuhalten, dass Glaube keine defiziente Form des Wissens ist („Glauben heißt nicht wissen“). Das Missverständnis mag damit zu tun haben, dass es Verwendungen des Verbs „glauben“ gibt, bei denen es mit „vermuten“ synonym ist: „Ich glaube, morgen wird es regnen.“ Wer so spricht, weiß nicht sicher, ob es morgen regnen wird oder nicht, hat aber irgendwelche guten oder schlechten Gründe, anzunehmen, dass es so sein wird. (Weil das Wetter danach ist oder weil es immer regnet, wenn er verreisen will.) Das ist aber nicht die entscheidende Bedeutung von „glauben“, schon gar nicht die, die gemeint ist, wenn man Glauben im religiösen Sinne von Wissen unterscheidet.
Die umfassende Bedeutung von „glauben“ ist: für wahr halten. Ich glaube, dass es morgen regnen wird, weil es so vorhergesagt wird. Ich glaube, dass du die Wahrheit sagst. Ich glaube, dass er sich etwas vormacht. Ich glaube daran, dass du schaffen wirst, was du dir vorgenommen hast. Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist. Ich glaube, ich weiß, wo ich meinen Regenschirm stehen gelassen habe. Ich glaube, dass Jesus Christus Gottes Sohn ist.
Die Überzeugung, dass etwas wahr ist, hat verschiedene Grade der Festigkeit (von „vielleicht“ bis „dafür lege ich mich meine Hand ins Feuer“) und verschiedene Grade der Begründetheit. Beides muss nicht übereinstimmen: Mancher glaubt fest an etwas, wofür er keine Gründe hat, ein anderer weiß zwar um gewisse Gründe, vermag aber trotzdem nicht wirklich daran zu glauben.
Während es also ein Für-wahr-halten geben kann, das schlecht, falsch oder gar nicht begründet ist, führt umgekehrt jede mehr oder minder gut begründete Einsicht zur Überzeugung, dass sie wahr ist. Mit anderen Worten: Man muss glauben, was man weiß, sonst glaubt man es nicht. Die Aussage „Ich weiß zwar, dass es so und so ist, aber ich glaube nicht, dass es so und so ist“ ist unsinnig. (Was nicht bedeutet, dass solch irrationales Vergalten nicht vorkommt; ein psychologisches, kein epistemologisches und logisches Thema.)
Was ich weiß, daran glaube ich auch. Das heißt, wofür ich (für mich) unabweisbare Gründe habe, das halte ich für wahr. In diesem Sinne ist Glauben Wissen und Wissen Glauben. Glauben ist also nicht minderes Wissen („vermuten“), sondern zu glauben ist der höchste Grad des Wissens: Nicht bloße Kenntnisnahme von irgendwelchen Fakten und ihren Relationen, sondern Zustimmung zur Wahrheit der Wirklichkeit. Und Ablehnung von Täuschung, Irrtum, Lüge.
Dabei ruht das Wissen, die begründete Einsicht, immer auf jeder Menge Vermutungen und wenig oder gar nicht begründeten Annahmen auf. Das ist unvermeidlicherweise so, weil kein Mensch alles wissen kann. Auch kann es keinen Wissenserwerb geben, der bei nichts begänne, es muss unbegründete Voraussetzungen geben, um etwas zu begründen. Diese Voraussetzungen können nachträglich erkannt und ihrerseits auf ihre Begründetheit hin untersucht werden, aber auch dazu kann nicht nur schon begründetes Wissen zur Grundlage gemacht werden. In diesem Sinne ist Glauben umfassender und grundlegender als Wissen.
Wenn es Erkenntnisgewinn gibt, und das ist schwerlich zu leugnen, dann als Fortschreiten von unbegründeten zu begründeten Annahmen. Anders gesagt, von bewusstem oder nicht bewusstem Für-wahr-halten zu erkanntem und begründetem Wissen. Dieser Fortschritt beginnt im Glauben und gelangt nie zur Allwissenheit. Insofern ist Wissen sozusagen nur die Spitze eines Eisbergs, dessen unterer, viel größerer, schwererer und alles aus dem Wasser Ragende tragender Teil Glauben ist.
Damit zurück zum religiösen Glauben. Es ist gar nicht einzusehen, warum bei diesem nicht zwischen wahr und falsch unterschieden werden kann oder sogar muss. Zumal die religiösen Fragen doch schon theoretisch nicht unerheblich sind: Existiert Gott? Was will er? Was ist ein gottgefälliges Leben? Was geschieht nach dem Tod mit mir? Warum gibt es Leiden und Schuld? An wen kann ich mich wenden, wenn mich existenzielle Nöte quälen? Warum gibt es überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts? Warum existiere ich?
Die verschiedenen Religionen und religiösen Richtungen stellen diese Fragen, wenn überhaupt, dann verschieden und sie beantworten sie verschieden. Es ist blanker Unsinn, was manche immer wieder behaupten, dass alle Religionen dasselbe sagen. Zwischen dem Bekenntnis, es gebe nur den transzendenten und von der Welt verschiedenen Gott, und der Annahme, es gebe viele Götter oder Gott und Welt seien identisch; zwischen dem Versuch, Geister Verstorbener zu beschwören und dem Glauben an die Heilswirksamkeit guter Taten; zwischen der Behauptung der Notwendigkeit, Kriegsgefangenen das Herz bei lebendigem Leib herauszureißen, um es der Sonne zu opfern, und dem Aufruf zu Liebe, Barmherzigkeit und Demut sind doch erhebliche Unterschiede …
Obwohl es keineswegs sicher ist, dass ein einheitlicher Begriff von Religion sinnvoll gebildet werden kann (weil damit womöglich viel zu verschiedene Phänomene nach einem kulturell vorgeprägten Muster zusammengefasst werden), kann man sich vielleicht doch auf diese wahre Behauptung verständigen: Was die verschiedenen religiösen Gemeinschaften für wahr halten, widerspricht einander. Zwar nicht in jedem Fall, aber doch in vielen wichtigen Fällen, die die Eigenart der jeweiligen Religion ausmachen.
Religiöser Glaube ist jedenfalls sehr viel mehr als ein bloßes Für-wahr-Halten, vielmehr eine existenzielle Entscheidung. Will sagen: Woran man glaubt, entscheidet hier, worauf man sein Dasein gründet, was man tut und lässt, was man von anderen verlangen zu dürfen glaubt, was man erhofft. Religion besteht nicht aus irgendwelchen Annahmen, die auch anders sein könnten, und irgendwelchen Rituale, die so oder so gestaltet werden können. Jede Religion ist auf ihre Weise ein Verhältnis des Menschen zu sich, zu anderen, zur Welt und zu dem, was es sonst noch gibt. Dieses Verhältnis beeinflusst auf je eigene Weise das Verhalten. Wer glaubt, dass er Gott beleidigt, wenn er Schweinefleisch isst und samstags arbeitet, wird es lassen. Wer glaubt, dass ein Bad im Ganges ihn von seinen Sünden reinigt, wird wohl eines nehmen. Wer glaubt, dass er sein Nächsten lieben muss, weil er sonst in die Hölle kommt, wird sich bemühen, es zu tun. (Das alles im Idealfall; man kann einer Religion anhängen und ihre Normen doch von Fall zu Fall missachten.)
Wenn religiöser Glaube existenziell ist, dann sind auch religiöse Differenzen existenziell. Das gilt auch und gerade bei religiösen Überzeugungen (oder zumindest Behauptungen), die nahe miteinander verwandt sind oder es zu sein scheinen, also etwa den unterschiedlichen Lehrsätzen (fachsprachlich Dogmen genannt) der verschiedenen christlichen „Konfessionen“.
Es macht offensichtlich einen erheblichen Unterschied, ob man Jesus Christus für Gott hält (eine der drei Personen des ewigen, ungeschaffenen Gottes) oder nur für ein besonderes Geschöpf. Ob Jesus Christus ganz Mensch und ganz Gott oder nur eines von beidem war (und ist). Ob man daran glaubt, dass Jesus Christus für alle Menschen am Kreuz gestorben ist oder nur für eine Gruppe von Auserwählten. Ob jeder Mensch durch die Gnade Gottes zur ewigen Seligkeit berufen ist, oder ob Gott im Voraus die einen für den Himmel und die anderen für die Hölle bestimmt. Ob man es für wahr hält, dass jeder sich frei für oder Gott entscheiden kann, oder glaubt, dass kein Mensch einen freien Willen hat. Ob man meint, dass es genügt, an Gott zu glauben, oder ob man, um selig zu werden, auch Gottes Willen tun muss. Ob bei der Feier der Eucharistie Brot und Wein tatsächlich zu Leib und Blut Christi werden oder die Kommunikanten sich das nur vorstellen. Ob man meint, der Heilige Geist bewahre die Kirche und ihr Lehramt letztlich vor Irrtum, oder ob man wahr haben will, dass jeder im Grunde glauben kann, was er will.
Die Liste der konfessionellen Unterschiede ist schier endlos. Sie betrifft wichtige theologische Themen, Konzepte der kirchlichen Organisation, Fragen der persönlichen Lebensführung. Nichts davon ist bloße Folklore, die man so oder anders gestalten kann (solche Unterschiede gibt es auch, um sie geht hier aber nicht). Hier entscheidet das, was man glaubt (oder glauben soll), darüber, welche Sicht seiner selbst, der Welt und Gottes man hat.
Bei jedem dieser Unterschiede kann gefragt werden: Ist das eine wahr oder das andere? Beides kann nicht zugleich und auf dieselbe Weise wahr sein. Vielmehr ist immer nur eines wahr, alles andere falsch. Es kann auch nicht egal sein, was stimmt. Weil es nicht um theologische Spitzfindigkeiten geht, sondern um praktische Effekte. Wenn Menschen zum Beispiel keinen freien Willen haben, erübrigen sich alle moralischen Appelle und das Strafrecht. Aber auch jede theologische Argumentation, denn jeder muss ja glauben, was er halt glaubt. Die Verbreitung von Unwahrheit schädigt die Menschen, weil sie unter Umständen ihren Zugang zur Wahrheit verstellt. Wem es wichtig ist, was wahr ist, der wird Irrtum und Lüge bekämpfen wollen.
Selbstverständlich kann man auch die Meinung vertreten, alles, was die katholische Kirche und die nichtkatholischen Häresien lehrten, sei falsch. das Christentum und Religion überhaupt sei immer unwahr. Nur dass kein Gott existiert, sei eine unbezweifelbare Wahrheit.
Allerdings glauben das die wenigsten. Die meisten Menschen überall auf der Welt sind auf die eine oder andere Weise religiös. Nur unter den Bewohnern der säkularisierten Industrienationen hat sich, wenigstens implizit, eine gewisse Glaubenslosigkeit, Glaubensmüdigkeit oder Glaubensschwäche durchgesetzt. (Nicht in den USA allerdings.) Religion spielt keine öffentliche Rolle mehr, gilt allenfalls als Privatsache, ist aber auch im Privatbereich längst ohne Bedeutung oder nur von kaum noch merklicher.
Unter solchen Bedingungen scheint es dann folgerichtig egal zu sein, welcher Glaube wahr oder falsch ist, man hat keinen oder nur einen weitgehend wirkungslosen: Irgendetwas Höheres wird es schon geben. Oder auch nicht. Hauptsache, man ist ein guter Mensch. Religiöse und „konfessionelle“ Differenzen sind, sofern überhaupt noch bekannt und verstanden, ohne Bedeutung.
Woher dann die Kriterien dafür, ein guter Mensch zu sein, also richtig zu handeln und nicht falsch, allerdings kommen sollen, ist in höchstem Maße fraglich und bleibt im Diffusen. Damit soll nicht gesagt sein, ein Atheist oder anderer Nichtkatholik könne „kein guter Mensch“ sein, also das Richtige tun und das Falsche meiden. (Während umgekehrt Menschen, die als Katholiken registriert sind, sehr wohl Dummköpfe und Verbrecher sein können.) Aber seine richtige Praxis hängt ohne den wahren Glauben sozusagen in der Luft, ist willkürlich und bestenfalls schlecht begründet. Jeder kann und soll sich an die Goldene Regel halten, die Grundlage aller Ethik: Behandle andere stets so, wie die von anderen behandelt werden willst. („Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andern zu.“) Aber nur der Gläubige weiß, dass das Gute, das sich in dieser universellen Handlungsanweisung zu Wort meldet, von Gott stammt, dem Quell alles Guten.
Das Wahre und das Gute gehören zusammen, sind im metaphysischen sinne dasselbe. Wer die Möglichkeit oder Bedeutung wahren Glaubens verwirft, verwirft die Vernunft, das Wissen, das Streben nach richtigem Handeln und einem sinnerfüllten Leben.
Manche sagen. Alles gut und schön. Aber ob es stimmt oder nicht, was als wahrer Glaube verkündet wird, kann man nicht wissen. Das übersteigt das menschliche Erkenntnisvermögen. Der Einwand zielt auf etwas Richtiges ― und verfehlt es doch. Denn zwischen den endlichen Menschen und dem unendlich, unfassbaren Gott vermittelt die Offenbarung, die freie Selbstmitteilung Gottes. Für Christen heißt das: Das Wort ist Mensch geworden und „hat unter uns gewohnt“; Jesus Christus ist Gottes Sohn und selbst ganz Gott und ganz Mensch, er „hat Kunde gebracht“. Auf diese Offenbarung, die durch die Zeugnisse (und die Beispiele der Heiligen) überliefert (und durch das Lehramt der Kirche geordnet) wird, antwortet der Glaube.
Was Gott sagt, kann nicht unwahr sein. Wer glaubt, was Gott sagt, kann nicht irren. Darum muss, wer glaubt, sicher gehen, dass das, was er glaubt, auch das ist, was wahr ist. Anders gesagt: Glaube allein genügt nicht, nur wahrer Glaube führt zum Heil.
* „Könnte es sein, dass Sie ein etwas irrer, jedenfalls wirrer und extremistischer Papist sind? (…) ‘Wahrer Glaube’? My ass!“
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