Mittwoch, 26. Februar 2025

Über mein Gedicht „Station Philadelphiabrücke“

Zuerst war da die Wendung mein Herz dröhnt. Die fiel mir unvermutet ein und verlangte danach, dass etwas mit ihr gemacht werde. Mein Herz dröhnt. Ohne viel nachzudenken, assoziierte ich sogleich damit, dass mir seit ein paar Jahren in der Wiener U-Bahn-Station Philadelphiabrücke bei der donnernden Einfahrt eines Zuges immer das Herz stark bebt, wenn ich am Bahnsteig stehe. Ich kenne keine andere Station, in der das so ist. Dort aber finde ich den Lärm und die Erschütterung immer sehr unangenehm. Irgendwer hat da irgendwann irgendetwas technisch oder architektonisch verpfuscht, dass solch gewaltiges Dröhnen entsteht; früher war das jedenfalls nicht so.
Also schrieb ich Mein Herz dröhnt / von der Unvernunft der Verhältnisse und setzte dann erläuternd hinzu: wenn der U-Bahn-Zug einfährt. Aber das schien mir nicht ausreichend deutlich. Konnte ein Leser wirklich schon sehen, hören und verstehen, dass jemand am Bahnsteig steht und ein lauter, alles und also auch den Wartenden durchrüttelnde Zug einfährt? Darum beschloss ich zunächst, dass das Gedicht die Überschrift Philadephiabrücke bekommen solle. Und ich fügte als vierten Vers ein: Wenn ich in der Station am Bahnsteig stehe. Das passte aber nicht gut an das Ende. U-Bahnzug/Bahnsteig, das klapperte, das donnerte nicht. Also stellte ich die Wendung, gekürzt zu Ich stehe am Bahnsteig, an den Anfang. (Die Station wanderte in die Überschrift.)
Nun waren die Verse auch nicht mehr so verschieden lang. Das wäre zwar möglich gewesen, weil ich die Form gern vom Stoff her bestimme, aber so erschien es mir doch besser.
Dass ich aus von der Unvernunft der Verhältnisse dann von der Verhältnisse Unvernunft machte, war eher Gefühlssache. Es klang für mich besser und war zwar ein wenig gestelzt, aber gerade das schien mir zu passen: Dem brutalen Rumpeln des Fahrzeugs eine „edle“ Formulierung entgegenzusetzen.
Allerdings missfiel mir sehr, dass da ein „Ich“ am Anfang stand. Im Gedicht davor hatte ich mich noch über das lyrische Ich mockiert, über meine Neigung, immer und immer wieder davon Gebrauch zu machen. Probehalber setzte ich das Gedicht deshalb in die dritte Person. Er steht am Bahnsteig. Sein Herz dröhnt / von der Verhältnisse Unvernunft, / wenn der U-Bahnzug einfährt.
Das war’s. Das hätte mir schon genügt als eines meiner „minimale“ Gedichte. Aber als ich den Text dann aufschrieb ― ich „schreibe“ Gedichte oder Gedichtentwürfe immer erst in Gedanken, notiere sie dann und schreibe sie manchmal noch ab, bevor ich sie abtippe ―, sprudelte es hervor: Mitten durch ihn hindurch / gehn die falschen Zwecke und Mittel / der gehetzten Leute. Und der lapidare Schlusspunkt: Dann steigt er ein.
Im Grunde bringen der vierte, fünfte, sechste Vers nichts Neues. Was das Bild vom dröhnenden Herzen zeigen soll, wird paraphrasierend wiederholt und damit bekräftigt. Die Unvernunft der Verhältnisse erscheint als falsche Zwecke und Mittel, als etwas, was nicht nur besteht und geschieht, sondern vorgenommen und ausgeführt wird. Wie eben der Bau einer U-Bahnstation und von U-Bahnwägen, die zusammen fast unzumutbaren Krach machen. Oder wie all die Pläne und Handlungen, die die Leute, die eilig und gegeneinander gleichgültig in so eine U-Bahn einsteigen, gewiss umtreiben und die mit allen anderen Plänen und Handlungen (gesellschaftliche) Verhältnisse ergeben, die unvernünftig sind: für den Einzelnen unangenehm und schier bedrohlich. Kultur- und Gesellschaftskritik wird hier nicht expliziert, sondern als unschönes Erlebnis, das regelmäßig wiederkehrt (darum das Präsens) dargestellt. Aber es hilft ja nichts, die Verhältnisse sind, wie sie sind, der Einzelne kann da vorderhand nichts machen, auch er hat Pläne, will irgendwohin, darum muss er jetzt einsteigen wie alle anderen..
Kurz überlegte ich, ob ich wirklich die strophenartige Gliederung beibehalten sollte und strich (beim Abtippen) die Leerzeilen. Aber das sah falsch aus. Zu gedrängt. Mit den Leerzeilen schien es mir großzügiger und lesbarer. Viel Text war es ja ohnehin nicht.
Ich sage nicht, dass mir da ein sehr gutes Gedicht gelungen ist. Aber doch eines, mit dem ich zufrieden sein muss, weil ich es nicht besser machen könnte.Vielleicht interessert es den einen oder anderen Leser, wie ich dabei vorgegangen bin. Darum, und um es mir selbst zu erklären, habe ich es hier erzählt. 
Das Gedicht findet man auch hier:

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