Sonntag, 30. Dezember 2012

Muttis Maulwurf

Ist das wahlkämpferischer Wahnsinn oder autodestruktive Methode? „Ein Bundeskanzler oder eine Bundeskanzlerin verdient in Deutschland zu wenig — gemessen an der Leistung, die sie oder er erbringen muss und im Verhältnis zu anderen Tätigkeiten mit weit weniger Verantwortung und viel größerem Gehalt“, sagte der Kanzler-Kandiat der SPD, Peer Steinbrück, der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“. Warum sagt der sowas?
Es gab Zeiten, da brachte man Kindern diese lebenskluge Regel bei: Wisse immer, was du sagst, aber sage nicht immer, was du weißt (oder zu wissen glaubst). In Herrn Steinbrücks Erziehung scheint in diesem Punkt etwas schiefgelaufen zu sein. Denn selbst wenn er wirklich überzeugt ist, von dem, was er da gesagt hat, scheint er zu dumm zu sein, um zu begreifen, dass solche Aussagen Wasser auf die Mühlen seiner Gegner und eine kalte Dusche für viele seiner Wähler sein müssen. Ohnehin schon aus eigenem Verschulden mit dem Image des Raffzahns ausgestattet, setzt er noch eins drauf, indem er erklärt, das Amt, das er anstrebt, zu schlecht bezahlt wird. Was für ein Depp!
Offensichtlich konnte der alte Zahlenjongleur Steinbrück sich nicht ausrechnen, dass die Zahl der potenziellen Wählerinnen und Wähler, die ein Jahresgehalt von einer Viertelmillion für eine astronomische Summe halten, größer ist als die Zahl derer, die meinen, entgegen der festen Überzeugungen der Stammtische seien Politiker unterbezahlt. Und so jemand will Kanzler werden und „Verantwortung“ übernehmen?
Will er ja gar nicht. Ich bin sicher, Peer Steinbrück ist ein von Angela Merkel in den Wahlkampf der SPD eingeschleuster Maulwurf. Vielleicht hat sie was gegen ihn in der Hand aus der gemeinsamen Zeit, als er unter ihr Finanzminister war. Oder sie hat ihn bestochen. So oder so, sobald Steinbrück Kanzlerkandidat wurde, war die Bundestagswahl 2013 für die CDU schon gewonnen.
Selbstverständlich hätte die SPD immer noch eine Chance: Was (außer eklatantem Personalmangel) hindert sie, den blamablen Kandidaten in die Wüste zu schicken und jemand anderen zu präsentieren? Bis zur Wahl sind noch neun Monate Zeit. Was wäre das für ein aufrüttelndes Signal: Wir haben einen Fehler gemacht, der bisherige Kandidat stand für alles, was mies ist an der deutschen Sozialdemokratie, aber ab jetzt machen wir Politik nicht mehr für Unternehmen, sondern für die Gesellschaft. Unsere Spitzenkandidatin ist Frau Gisela Hotzenplotzki aus Wanne-Eickel, alleinerziehende Mutter eines Sohnes und einer Tochter und Teilzeitbeschäftigte als Supermarktkassiererin; die Frau kann wenigstens rechnen und weiß, was sparen heißt.
Doch die Geschichte lehrt: Die SPD ist zwar einerseits eine Partei, die, sobald sie kann, alles verrät, was ihre Wähler je von ihr hätten wollen können, die aber andererseits, sobald sich ein einmal von ihr eingeschlagener Weg als falsch herausgestellt hat, eisern an diesem festhält. Insofern ist der derzeitige Kandidat wohl ohnehin der optimale Repräsentant einer immer wieder zielsicher in die Irre gehenden deutschen Sozialdemokratie.
Also wird Steinbrück bis zum Herbst bleiben, seine Partei wird die Wahl grandios verlieren und ohne ihn anschließend, aus lauter „Verantwortung“, als Juniorpartnerin in eine Große Koalition eintreten. Und Mutti hätte einmal mehr erreicht, was ihr Politikziel ist: Alternativlosigkeit. Glück auf!

Sonntag, 23. Dezember 2012

Aufgeschnappt (bei einem Rechtswissenschaftler)

Elite? Das ist eine Gruppe von Leuten, die bei höchstem Einkommen keine Steuern zahlen.
Carl Schmitt (Jurist)

Hass auf Weihnachten

Immer öfter haben mir, oft ungefragt, in letzter Zeit Mitmenschen, mitunter in völlig zufälligen Begegnungen, davon erzählt, wie sehr ihnen das alles auf die Nerven geht und wie froh sie sein werden, wenn das Ganze endlich vorbei sein wird: Weihnachten. Nun, bald ist, in der Vorstellung und im Erleben der meisten in diesen unseren Breiten, Weihnachten ja tatsächlich vorbei. Seit der ersten Sichtung von Schokoladen-Weihnachtsmännern im August oder spätestens September hat zunehmend „Vorweihnachtszeit“ geherrscht und schlagartig wird mit dem 24. Dezember oder allerspätestens dem 26. Weihnachten endlich vorbei sein. Erleichtert wird man sich auf den Silvestertrubel einstimmen.
Dabei liegt hier eine schlimme Verwechslung vor. Was man Vorweihnachtszeit nennt und mit Einkäufen, Plätzchenessen, Punschtrinken und Weihnachtsliederhören verbringt , hat mit Weihnachten so viel zu tun wie der Osterhase mit Pfingsten. Die Wochen vor Weihnachten, dem Fest der Geburt Jesu Christi, sind eigentlich als Fastenzeit, als eine Zeit der Einkehr und Umkehr gedacht. Der Advent dient der Vorbereitung auf ein Fest, dessen Freude schon vorausstrahlen mag, aber deren Stimmung eigentlich besinnlich und deren Farbe darum das bußfertige Violett — am dritten Adventssonntag zu vorfreudigem Rosarot getönt — zu sein hätte, nicht Rot und Grün und Glitzergold. Passend zur dunklen Jahreszeit wird eigentlich erst das Geburtsfest des Sohnes Gottes als Feier des Lichtes begangen. Das kann man aber über all dem elektrischen Geflimmer und romantischem Kerzenglanz fast vergessen, die seit Wochen über Fußgängerzonen, Einkaufsparadiese und Wohnzimmer niedergehen.
Selige Zeiten, als das Gabenbringen noch dem Heiligen Nikolaus oder den Weisen aus dem Morgenlande zugeschrieben und also am 6. Dezember oder 6. Januar in Szene gesetzt wurde und ausschließlich oder doch vor allem den Kindern galt, denen das Freudige des Weihnachtsfestes damit sinnlich erfahrbar gemacht wurde. Damit blieb die Feier der Geburt des Menschensohnes von sinnfremdem Brauchtum frei. Heute gelten der Weihnachtsbaum und fast auch schon der Schneemann, von Rentieren und Elchen gar nicht zu reden, bereits als „weihnachtlich“ und verschandeln mit ihren säkularen Fratzen den Raum, der eigentlich für religiöse Symbolik auszusparen wäre.
Wer Weihnachten hasst, hasst also eigentlich das Gegenteil von Weihnachten, nämlich Säkularisierung und Kommerzialisierung. Gottes Sohn ist Mensch geworden, das ist das Geheimnis, das in der Heiligen Nacht zu feiern wäre. Was hingegen nervt, weil es sich geradezu zum Terror entwickelt hat, hat nichts mehr mit dem Neugeborenen im Futtertrog zu tun, sondern ist irreligiöse Überwucherung. Die Menschwerdung Gottes ist dessen Geschenk an die Menschen. Nichts spricht dagegen, einander im Gedenken an diese unfassbare Gabe Freude bereiten zu wollen, aber überbieten kann man sie nicht und vor lauter Schenkerei vergessen sollte man sie auch nicht.
Wer den Rummel und die Hektik, das Getue und den Betrieb, die Aufdringlichkeit und Unehrlichkeit der „Vorweihnachtszeit“ und der angeschlossenen Familienzusammenkünfte verabscheut, hätte einen Verbündeten im eigentlich Sinn des Festes. Es wird ja zum Glück, von Betriebsweihnachtsfeiern und anderen Sozialrepressionen abgesehen, niemand gezwungen, im Übermaß am (Vor-)Weihnachtsterror teilzunehmen. Es ist also nie zu spät für Einsicht und Abkehr. Noch der 24. Dezember, den manche mit Weihnachten verwechseln, ist eigentlich ein Tag in der Fastenzeit.
Weihnachten als Fest der Liebe, als Fest der Familie, als Fest der Umsatzsteigerung im Einzelhandel — all das ist sekundär, oft verstellt es sogar das Eigentliche. Im Advent wird der ersten Ankunft Christi gedacht und seine Wiederkunft erwartet. Wem das ein Anlass für Kitsch und Sentimentalität, für Ausflucht und Unwirschheit ist, dem ist schwerlich zu helfen. Wer angesichts von Weihnachten nur weg oder rasch weiter will, weil er sich dem hinter und neben aller Ablenkung und Verstellung Unverlierbaren, dem Gnadenangebot Gottes, nicht stellen will, wer also meint, keinen Erlöser zu brauchen, der hat keinen Bedarf an Ostern und auch nicht an Weihnachten. Und also auch keinen Grund, sich zu beschweren. Die Hohlheit des längst dem Sinn des Festes entfremdeten Rummels ist für ihn dann aber auch im Grunde ohne Alternative, die Falle der Verweltlichung hat zugeschnappt.

Mittwoch, 19. Dezember 2012

Was dürfen Homosexuelle?

Irgendetwas stimmt hier nicht: „Vor dem Bundesverfassungsgericht hat die Verhandlung über ein erweitertes Adoptionsrecht für Homosexuelle begonnen. Derzeit dürfen Schwule und Lesben nicht das Adoptivkind ihres Lebenspartners adoptieren — anders als Ehepartner. Für sie ist das ein Verstoß gegen die Gleichbehandlung.“ (tagesschau.de) Man staunt. Das Adoptionsrecht hängt von der sexuellen Orientierung des oder der Adoptionswilligen ab? Es gibt also in Deutschland ein eigenes Adoptionsrecht für Homosexuelle und eines für Heterosexuelle? Wusste ich gar nicht. Ich dachte bisher, es gäbe bloß ein unterschiedliches Adoptionsrecht je nachdem, ob man verheiratet oder verpartnert ist.
Der schludrige Sprachgebrauch rund um die erwähnte Verhandlung in Karlsruhe ist nicht nur bei der Tagesschau zu finden und insgesamt symptomatisch für die Geistesverwirrung, die sich in Bezug auf die Themen „Homo-Ehe“, Diskriminierung und Gleichbehandlung ausgebreitet hat.
Es beginnt mit der grundlegenden Unwahrheit, es habe je eine Diskriminierung von Homosexuellen durch das Eherecht gegeben. Wahr ist vielmehr, dass auch heterosexuelle Männer keine Männer und heterosexuelle Frauen keine Frauen heiraten durften. Niemand wurde also in diesem Punkt wegen seiner sexuellen Orientierung diskriminiert.
Eine Diskriminierung kann man erst behaupten, wenn man die Perspektive verschiebt: vom Einzelnen und seinen Rechten auf das Paar. Tatsächlich konnten früher nur gegengeschlechtliche Paare eine staatlich privilegierte Lebenspartnerschaft, Ehe genannt, eingehen und gleichgeschlechtliche nicht. Für gleichgeschlechtliche Paare hat man darum in Deutschland 2001 die „Homo-Ehe“ geschaffen. Ich bin kein Jurist, aber mir ist nicht bekannt, dass man seither, um heiraten zu können, heterosexuell sein muss oder dass man lesbisch oder schwul zu sein hat, um eine registrierte Partnerschaft eingehen zu können. Meines Wissens spielt sexuelle Orientierung — die übrigens auf welche Weise amtlicherseits festzustellen wäre? — im Recht (seit der Abschaffung des § 175 im Jahr 1994) keine Rolle.
Und das tut sie eben auch nicht, wenn es um Adoption geht. Was vom Bundesverfassungsgericht verhandelt wird, ist keineswegs „ein erweitertes Adoptionsrecht für Homosexuelle“, sondern die Frage, ob Verpartnerten dasselbe Recht auf Sukzessivadoption zusteht wie Verheirateten. Weder das Geschlecht der Betroffenen noch deren sexuelle Orientierung noch gar ihre erotischen Vorlieben haben damit irgendetwas zu tun.
Und im Übrigen adoptieren auch nicht Paare, sondern Einzelpersonen. „Laut Gesetz ist zwar die Adoption des leiblichen Kindes des eingetragenen Lebenspartners möglich (‘Stiefkindadoption’), nicht aber die Adoption eines vom eingetragenen Lebenspartner adoptierten Kindes (‘Sukzessivadoption’ oder ‘Zweitadoption’). Ehepartnern dagegen werden beide Adoptionsmöglichkeiten eingeräumt. Die klagenden homosexuellen Paare machen deshalb Verstöße gegen das Gleichbehandlungsgebot des Grundgesetzes und den Schutz der Familie geltend.“ So steht es in der Süddeutschen Zeitung. Das finde ich verständlich.
Unverständlich aber finde ich es, wenn es im ersten Absatz desselben Artikels heißt: „Vor dem Bundesverfassungsgericht deutet sich eine Korrektur beim Adoptionsrecht für homosexuelle Paare an. In der mündlichen Verhandlung am Dienstag sprachen sich fast alle Experten dafür aus, Homosexuellen eine Adoption auch dann zu ermöglichen, wenn ihr Lebenspartner das Kind zuvor selbst adoptiert hatte.“ Nun mag man zwar den Ausdruck „homosexuelle Paare“ als Synonym für gleichgeschlechtliche Paare durchgehen lassen, aber nicht jedes Paar aus zwei Schwulen oder zwei Lesben ist registriert verpartnert — im Gegenteil, die allerwenigsten sind das! Es geht also nicht im Mindesten um die Ermöglichung der Sukzessivadoption für Homosexuelle allgemein und auch nicht für „homosexuelle Paare“, sondern ausschließlich um das Sukzessivadoptionsrecht von Verpartnerten.
Spitzfindigkeiten? Keineswegs, eher Lebenswirklichkeiten. Obwohl Berufslesbenundschwule und die ihnen darin folgende veröffentlichte Meinung Homosexualität mit dem Homosexuellsein von Schwulen und Lesben gleichsetzen und diese nur noch paarweise in den Blick zu nehmen bereit sind, sieht die Realität anders aus. Männer haben Sex mit Männern, ohne sich deshalb als ausschließlich oder überhaupt homosexuell betrachte zu wollen. Schwule leben allein oder in einer Lebensgemeinschaft, meist ohne dafür staatliche Anerkennung zu wollen. Manche Schwule waren oder sind mit einer Frau verheiratet, haben, dacon unabhängig, unter Umständen sogar leibliche Kinder. (Für Lesben mag für all das etwas Entsprechendes gelten.) Das Leben ist schlicht und einfach komplexer, als die Berichterstattung der Mainstream-Medien, der Politikersatz der Berufslesbenundschwulen und die selbstgestrickte Weltanschauung gewisser Blogger es vorsieht.
Homosexuelle, wer auch immer das sein mag, dürfen also heiraten. Das durften sie immer schon. Die meisten wollen es nicht. Diejenigen von ihnen, die paarweise registriert sind, haben zuweilen Kinder, mitunter solche, für die sie noch keine Unterhaltspflichten und Sorgerechte haben, aber haben wollen. Ob und wie das rechtlich möglich ist (auch im Vergleich zur Situation bei Verheirateten), wird 2013 vom Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe beurteilt werden. Ist das so schwer zu verstehe, wenn ich es so einfach erkläre? Man rede also von Lebenspartnerschaften und Kindern, nicht von Homosexuellen. Die hätten eigentlich andere Probleme.

Sonntag, 16. Dezember 2012

Obszöne Trauer

Tote Kinder, tote Erwachsene: eine sehr traurige Sache. Aber. Denn ja, es gibt ein Aber. Das Entsetzen, die Trauer, die Erschütterung über den Massenmord in Newtown sind selbstverständlich. Überall wird darüber berichtet und völlig fremden Menschen überall auf der Welt Gelegenheit zur Anteilnahme (oder bloß zur Sensationslust) gegeben. Und jetzt das Aber: Während Tote in den USA Eilmeldungen und Sondersendungen wert sind, sind Tote in Bagdad oder Gaza oder Kabul oder irgendwo in Afrika, Asien oder Südamerika eher Fälle für die Statistik. Tod ist anscheinend nicht gleich Tod. Werden Amerikaner getötet, nimmt man das überall im Westen sehr persönlich. Töten Amerikaner und ihre Verbündeten, gilt das als Krieg, nationale Sicherheit oder Weltfrieden. Von den täglichen Toten, die — für die Medien stets namen-, gesichts- und geschichtslos — an Hunger und vermeidbaren Krankheiten, anders gesagt: an der Weltwirtschaftsordnung sterben, gar nicht zu reden. Nichts ist dagegen einzuwenden, dass die Opfer von Newtown betrauert werden, aber es ist unanständig, ja geradezu obszön, dass andere ausgelöschte oder beschädigte Leben als offensichtlich weniger betrauernswert gelten.

Warum und wozu Religion?

Die Frage, warum und wozu Religion, stellt sich dem nicht, der je das gemacht hat, was man eine religiöse Erfahrung nennt. Und wer nie eine solche Erfahrung gemacht hat, kann die Frage nicht beantworten. Er müsste wie ein Blinder von der Farbe reden. Wobei ich noch nie davon gehört habe, dass ein blinder Mensch die Berechtigung der Malerei leugnet, bloß weil er sie nicht sieht, während es sehr oft vorkommt, dass fanatisch irreligiöse Menschen alle Religion am liebsten wegerklären möchten. Darin ähneln einander ja atheistische und andere Fundamentalisten: Sie empfinden nicht, wie Gläubige, Freude und Ehrfurcht, sondern Hass und Angst. Sie hassen aus Angst, sie ängstigen sich davor, den Grund unter den Füßen zu verlieren. Gewiss, auch Kleingläubige klammern sich oft an scheinbar Sicheres, an Buchstabe und Zahl, an Vorschrift und Gewohnheit. Echte religiöse Erfahrung hingegen ist immer transgressiv. Sie lässt die Beschränkungen des Alltäglichen hinter sich und konfrontiert mit dem Außerordentlichen. Letztlich ist das Göttliche immer ein Abgrund und der Glaube daran ein Sprung hinein. Die Formen religiöser Praxis mögen verschieden sein, das, dem sie sich zu nähern versuchen ist, sofern man das sagen kann, dasselbe. Das Ungeheure zieht an und soll doch in Schach gehalten werden. Religion ist immer beides: Entgrenzung und Zähmung, Öffnung für das Unfassbare und Einfassung zum Schutz vor ihm. Mitunter verliert sich das eine durch das andere. Doch noch die entleerten Formen verweisen auf die Inhalte, mit denen sie zu füllen wären, wenn man nur wollte. Wer aber grundsätzlich nicht will, dass es, wie man so sagt, „einen Gott gibt“, dem ist in diesem Punkt nicht zu helfen. Sein Wille müsste denn gebrochen oder immerhin umgelenkt werden, und das bewirken nur Ereignisse. Es ist ihm zu wünschen, dass es freudige wären, aber oft erfordert es tragische. Hier ist der religiöse Mensch klar im Vorteil. Er braucht nicht erst Not und Tod, Angst und Zittern, um nach dem zu suchen, was ihm Halt gibt. Er lebt bereits in der Gegenwart des Göttlichen, und die selbstverständliche Reaktion darauf ist, wie gesagt, Ehrfurcht und Freude.

Samstag, 15. Dezember 2012

Schießbudenfiguren mit Friedensnobelpreis

Eben noch haben Van Rompuy, Barroso und Schulz stellvertretend für die Europäische Union in Oslo den Friedensnobelpreis entgegengenommen, da stellt sich der erstgenannte der drei Clowns (assistiert vom zweitgenannten) auch schon hin und verkündet: „Wir wünschen uns eine stärkere Verteidigungsindustrie in Europa, die mehr zu Innovation und Wettbewerbsfähigkeit beiträgt und zu mehr Wachstum und Beschäftigung überall in der Union.“ Bitte was? Noch mehr Rüstungproduktion? Bereits jetzt ist die EU die größte Waffenexporteurin der Welt, noch vor den USA und Russland. Mit anderen Worten: Wo auch immer in der Welt Kriege oder andere bewaffnete Konflikte geführt werden, stehen die Chancen gut, dass europäische Firmen an Tod und Zerstörung verdienen. Und nun, so der Ratspräsident namens der europäischen Regierungschefs, soll noch mehr verdient, also noch mehr getötet, verletzt, zerstört werden? Es gibt also noch nicht genug Leid in der Welt, es sind noch höhere Gewinne möglich. — Was für ein großartiger Einfall 2012 ausgerechnet die EU mit dem Friedensnobelpreis zu bedenken. Ist das norwegischer Humor?

Mittwoch, 12. Dezember 2012

Schnipp, schnapp, Grundrecht ab

Ein paar Hundert Leute werfen Kärtchen in eine Urne, und schwuppdiwupp: aus Unrecht wird Recht. Mit anderen Worten, der Deutsche Bundestag hat ins Bürgerliche Gesetzbuch einen „§ 1631d Beschneidung des männlichen Kindes“ eingefügt, der da lautet: „(1) Die Personensorge umfasst auch das Recht, in eine medizinisch nicht erforderliche Beschneidung des nicht einsichts- und urteilsfähigen männlichen Kindes einzuwilligen, wenn diese nach den Regeln der ärztlichen Kunst durchgeführt werden soll. Dies gilt nicht, wenn durch die Beschneidung auch unter Berücksichtigung ihres Zwecks das Kindeswohl gefährdet wird. (2) In den ersten sechs Monaten nach der Geburt des Kindes dürfen auch von einer Religionsgesellschaft dazu vorgesehene Personen Beschneidungen gemäß Absatz 1 durchführen, wenn sie dafür besonders ausgebildet und, ohne Arzt zu sein, für die Durchführung der Beschneidung vergleichbar befähigt sind.“
Hört damit Beschneidung auf, eine Körperverletzung zu sein? Nein. Wird damit das Grundgesetz verletzt (das in Art. 2 Abs. 2 das Recht auf körperliche Unversehrtheit erwähnt)? Meiner Meinung nach: Ja.
Durch den neuen Paragraphen wird keineswegs, wie in der vorausgegangenen Debatte immer wieder behauptet wurde, „jüdisches und muslimisches Leben“ in Deutschland weiterhin ermöglicht, denn erstens wäre die Existenz jüdischer und muslimischer Religionsgemeinschaften durch Aufrechterhaltung des Verbotes von Körperverletzungen an Unmündigen keineswegs gefährdet; zweitens nimmt der Gesetzestext in keiner Weise auf bestimmte Religionsgemeinschaften und deren Traditionen Bezug (was ja wohl ebenfalls dem Grundgesetz widerspräche, insofern dieses verbietet, jemanden wegen seines Glaubens oder seiner religiösen Anschauungen zu benachteiligen oder zu bevorzugen); und drittens erteilt der neue Paragraph „Personensorgeberechtigten“ (also Eltern und ähnlichem Gesindel) eine Blankovollmacht, aus jedem beliebigen Grund oder auch ohne einen solchen —  also, ausdrücklich sei’s vermerkt, nicht bloß aus religiösen Gründen! —  einen ihrer „Personensorge“ unterstehen Knaben beschneiden zu lassen. Je jünger das Kind, desto besser, denn es muss einsichts- und urteilsunfähig sein, mit anderen Worten: wehrlos.
Beim Thema Beschneidung geht es, anders als es von interessierter Seite dargestellt wurde und wird, nicht um Religion. Wer Texte von mir kennt, weiß, dass bei mir von Religionsfeindlichkeit keine Rede sein kann. Trotzdem bin ich — persönlich übrigens nicht betroffen —  ein entschiedener Gegner der Beschneidung Unmündiger. Warum? Weil sich in solchen Körperverletzungen das alte „Recht“ von Eltern, über ihre Kinder zu verfügen, verwirklicht. Ich bin kein großer Freund der Moderne. Aber zu den modernen Errungenschaften, die ich vorbehaltlos anerkenne, gehört das Verbot, Kinder zu schlagen, zu quälen, zu benützen, für sich arbeiten zu lassen, sie gar zu töten, wie es einem gefällt.
Gegenüber weit grausameren Verbrechen mag eine Beschneidung als eine geringe Verletzung des Kindeswohles erscheinen. Ihrer kulturgeschichtlichen Herkunft nach war sie allerdings ohnehin von vor allem symbolischen Wert: eine Abgrenzung von Nichtbeschnittenen und eine stellvertretende Kastration. Viel jünger ist die Sexualfeindschaft, die unter dem Vorwand der Hygiene (und vermutlich ebenfalls einem maternalen Kastrationswunsch) in den USA zum exzessiven Zirkumzisieren geführt hat (geschätzte 80% der Männer in den USA sind beschnitten). Für meine Argumentation spielen freilich die Motive der Eltern, mögen sie gut oder schlecht sein, keine Rolle: Es gilt, Schwache gegen Starke in Schutz zu nehmen und darum auch die freie Verfügungsgewalt der Eltern über ihre Kinder zu bekämpfen.
Nochmals: Von einem Körperverletzungsverbot (das ein Beschneidungsverbot umfasst, aber auch andere, zum Teil uralte Traditionen, die zufällig in Deutschland nicht vorkommen, wie Tellerlippen oder Halsverlängerungen usw.) ist die Religionsfreiheit in keiner Weise betroffen. Die Eltern bleiben ja Muslime oder Juden, egal, ob ihr Sohn symbolisch kastriert wird oder nicht. Von einer Verletzung der Religionsfreiheit des unmündigen Knaben aber kann ja wohl nicht im Ernst die Rede sein.
Der Deutsche Bundestag hat sich nun also gegen das Kindeswohl entschieden. Wäre es nur um die Muslime gegangen, hätte man mit Sicherheit keinen neuen Paragraphen beschlossen. Der rhetorische Terror von bestimmten jüdischen Funktionären freilich setzte die Politik unter Zugzwang. Aus lauter Angst, es sich mit „den Juden“ zu verderben (und dann von Israel und den USA scheel angesehen zu werden), hat man nun Sonderrecht geschaffen. Dass es  in den jüdischen Gemeinden auch andere, leisere, weniger gewaltorientierte  Stimmen gibt, interessierte nicht.
Vielleicht ist juristisch nichts mehr dagegen zu machen. Aber wenn die Erfahrungen, die so viele Opfer in der Zeit der NS-Herrschaft machen mussten, etwas lehren, dann nicht zuletzt dies: Gesetze machen aus Unrecht nicht Recht. Darum bleibt Beschneidung Körperverletzung und als solche Unrecht, möge der § 1631d BGB lauten, wie er will.

Sonntag, 9. Dezember 2012

Kurze Bemerkung zum Atheismus

Es gibt verschiedene Formen von Atheismus. Wirklich glaubwürdig wäre aber wohl nur ein Atheist, der aufrichtig bedauert, dass seiner Überzeugung nach Gott nicht existiert. Denn wer das Dasein Gottes nicht für unbedingt wünschenswert hält, hat entweder nicht verstanden, was gemeint ist, wenn von Göttlichem die Rede ist, oder aber, er versteht es und ist trotzdem dagegen, dann wäre er bewusst böswillig. Die meisten Atheismen bewegen sich nun allerdings irgendwo dazwischen, zwischen Unverstand und Groll, zwischen Gleichgültigkeit und Ressentiment. Bei vielen Atheisten hat man den Eindruck, sie suhlen sich in ihrem Unglauben und sind nicht zufrieden, wenn sie nicht mit Dreck spritzen können. Dazu kommt oft der triumphalistische Aberglaube, die „wahren“ Gründe des Gottesglauibens durchschaut zu haben. Seltsamerweise werden die Gründe für den eigenen Atheismus nie so genau betrachtet. Dass es nur Vernunftgründe seien, die den Ausschlag geben, könnte nur glauben, wer sich noch nie mit einem Atheisten unterhalten hat. Meist geht es um Unvermögen und Unwillen. Wer durch Gläubige in irgendeiner Weise verletzt wurde, ist noch am ehesten entschuldigt, auch wenn der Schluss, vom Fehlverhalten von Gläubigen auf die Irrigkeit des Glaubens zu schlissen, offensichtlich falsch ist. Ansonsten sollten Atheisten sich der Redlichkeit halber klar machen, dass sie etwas negieren, was sie nicht begreifen. Unglaube ist, wie das Wort schon sagt, ein Mangel. Wer ihn für eine Errungenschaft hält, findet sich unversehens in Gesellschaft von Hitler, Stalin, Mao und Pol Pot wieder. Gewiss, auch Gläubige haben im Namen des Glaubens Verbrechen begangen, aber dass Verbrechen und Gottesglaube einander widersprechen, spricht ja gerade für diesen — nicht für jenes und nicht für Glaubensschwund, Glaubensverlust oder Glaubensgegnerschaft.

Freitag, 7. Dezember 2012

Joachim der Peinliche

Gäbe es den Joachim-von-Ribbentrop-Preis für Fehlleistungen auf dem diplomatischem Parkett, er müsste 2012 in der noch rasch zu schaffenden Sonderkategorie „Peinlichstes Staatsoberhaupt des Jahres“ verliehen werden an — Joachim Gauck. Der Mann trifft den Mann, der geistliches Oberhaupt einer Milliarde Katholikinnen und Katholiken ist, nach der Lehre seiner Kirche als Stellvertreter Christi auf Erden gilt und gerade den dritten Band eines Buches über Jesus von Nazareth veröffentlicht hat. Und was geruht der preußische Protestant, Häuptling einer der reichsten und einflussreichsten Nationen der Welt, dem Heiligen Vater als Geschenk mitzubringen? Einen Wanderstock, eine Dose Lebkuchen und seine, also Gaucks, Autobiographie. Hoffentlich hat er in diese auch eine passende Widmung hineingeschrieben: „Meinem lieben Papst in freundlicher Herablassung sein Herr Bundespräsident.“

Donnerstag, 6. Dezember 2012

Zur Zukunft des „Qualitätsjournalismus“

Wie wird derzeit nicht wieder über die „Gratismentalität“ der Mediennutzer gejammert! Die treibe die guten, alten Printmedien in den Ruin. Professionelle Qualität aber koste, also müsse, auch im Internet, „im Prinzip“ dafür bezahlt werden. Nun hat ja eigentlich niemand die Verlage je daran gehindert, sich für die Internetauftritte ihrer Zeitungen und Zeitschriften Bezahlmodelle auszudenken. Wenn anscheinend bisher nichts davon zu ihrer Zufriedenheit funktioniert hat, ist das ihr Problem, nicht das der Leser. Als ob es deren Pflicht wäre, den Verlagen Umsätze zu verschaffen, damit ihrerseits das Publikum mit wunderbaren Erzeugnissen beglücken können!
Vernünftigerweise bezahlt man auch im Internet wie sonst im Leben nur, wenn man unbedingt muss. Alles andere ist Trinkgeld, Spende, Almosen, Geschenk. Ob man zahlen muss, ist aber nicht eine moralische Frage der Dankbarkeit für angebotenen Qualität, denn die kann es auch umsonst geben, sondern eine rein technische Frage des Zugangs. Wird dieser durch eine Bezahlschranke eingeschränkt, erhöht das sogar noch die Attraktivität kostenfreier Angebote. Lediglich eine Art von ökonomischer Totalzensur -- „Für alles muss bezahlt werden oder es wird abgeschaltet!“ -- könnte das verhindern.
Die Annahme, nur was etwas koste, sei etwas wert (und umgekehrt: was einem etwas wert sei, dafür wolle man auch bezahlen), ist schlicht falsch. Sagen wir mal so: Mit journalistischen Produkten ist es wie mit Sex: Wenn man dafür bezahlt, ist er deshalb nicht notwendig besser. Und „Professionalität“ bedeutet zuweilen das Gegenteil von dem, was der Kunde eigentlich wünscht.
Viele meinen ja, weil sie einer Redaktion angehören und ein regelmäßiges Einkommen beziehen, sei das, was sie machen, immer „Qualitätsjournalismus“. Die Wirklichkeit sieht freilich anders aus. Die redaktionellen Beiträge der allermeisten Zeitungen sind schlicht Müll. Schlecht geschrieben, schlecht gedacht, schlecht recherchiert. Das stört die allermeisten Leser aber gar nicht. Sie wollen nicht gute Texte lesen, sondern Texte, die gut ihre Bedürfnisse befriedigen. Gewiss, so manche Verblödungszeitung ist hochprofessionell gemacht, aber will man das wirklich Qualitätsjournalismus nennen?
Auch von den bösen, bösen, die Printmedien in den Ruin treibenden Gratisangeboten im Internet ist das meiste Müll. Auch von den Blogs kann man mindestens 999 Promille getrost vergessen, wenn man nach guter schreiberischer Qualität, nach fundierter Informationsbeschaffung sucht. Trotzdem funktioniert’s. Jeder holt sich ungefähr das heraus, was er möchte. Wie das finanziert wird, ist nicht notwendig von Interesse.
Das finanzielle Interesse der Verlage und der Verlagsmitarbeiter hingegen ist manifest. Verlagen ist „Qualitätsjournalismus“ herzlich egal, die Kasse muss stimmen. Das wird durch Auflagen und Reichweiten erreicht, die für Werbekunden interessant sind. Wenn Dreck sich besser verkauft als Hochwertiges, hat Hochwertiges keine Chance. Die Verlage, von denen hier die Rede sind (es gibt ja idealistische Projekte, die formell auch Verlage sind), sind nun einmal Wirtschaftsunternehmen und verhalten sich auch so.
Selbstverständlich wäre es Journalisten zu gönnen, dass sie für gute Arbeit gut bezahlt werden. (Dass sie offenkundig oft auch für schlechte durchaus bezahlt werden, sei hier einmal nicht problematisiert.) Aber Bezahlung ist eine Bedingung der wirtschaftlichen Existenz, nicht des journalistischen Könnens und Verwirklichens.
Nach der Logik „Nur bezahlte Leistung ist gute Leistung“ müsste man eigentlich auch über ein Honorar für Leser nachdenken. Es gibt ja unter diesen auch gute und schlechte, gründliche und oberflächliche, interessierte und beiläufige, Vielleser und Halbanalphabeten, Mitdenker und Dazwischenquatscher — wie eben bei den Journalisten auch. Und Leser sind für das Bestehenkönnen eines Lesemediums mindestens genauso wichtig wie Macher. Warum also nicht auch das Lesen bezahlen? Ich wäre dafür.
Verlage und ihre Angestellten sehen das naturgemäß anders. Das ist ihr Problem. Und dafür sollen sie, wenn sie können, Lösungen finden. Wenn sie’s nicht können, dann auf Wiedersehen. Viele Menschen verlieren durch Veränderungen von Marktlagen ihre Jobs, und es sind auch schon ganz andere Berufe unwiderruflich verschwunden. Warum nicht auch die bezahlten Zeitungsmacher? Geschrieben und gelesen wird trotzdem werden. Vielleicht, wenn ich mal ein bisschen visionär sein darf, ist gutes journalistisches Arbeiten in Zukunft eine der Tätigkeiten, die nicht oder nicht immer bezahlt, aber durch ein bedingungsloses Grundeinkommen ermöglicht werden. Eines steht jedenfalls fest: Je freier von wirtschaftlichen Vorgaben und Abhängigkeiten sie ist, desto freier gedacht und gemacht kann Medienarbeit sein. Über „Qualität“ entscheiden sowieso ganz andere Faktoren.

Mittwoch, 5. Dezember 2012

Konservativ? Zwecklos!

Es hat ihnen nichts genützt. Obwohl sie mit allem Nachdruck beteuerten, sie und die gleichgeschlechtlich Verpartnerten draußen im Lande seien mindestens so konservativ wie die Mehrheit der CDU-Parteitagsdelegierten, die ihr Anliegen schließlich überstimmte: Sie bekamen trotzdem die Zustimmung zur steuerrechtlichen Gleichbehandlung der Homo-Registrationspartnerschaft mit der Hetero-Ehe nicht geschenkt. All die leider völlig ungeheuchelten Beschwörungen von Familienwerten waren völlig zwecklos. Nicht einmal, dass Jens Spahn David Cameron zitierte, der bekanntlich sagte, „I don’t support gay marriage despite being a Conservative. I support gay marriage, because I am a Conservative“, konnte die innerparteilichen Gegner der Gleichbehandlung umstimmen. (Oder bewirkte möglicherweise gar das Gegenteil. Denn wer in Deutschland mag schon Cameron? Mutti und ihre Fans bestimmt nicht.)
Doch die, die sich jetzt über die bösen, bösen Schwarzen grämen, die so schrecklich rückschrittlich sind, mögen sich trösten: Es ging ja bloß ums Ehegattensplitting, nicht etwa um die Abschaffung der Homo-Ehe. Zur Debatte stand also lediglich eine steuerrechtliche Begünstigung, die es in ganz Europa ohnedies nur in Deutschland (und Luxemburg) gibt und von der wohlgemerkt einkommensstarke Paare in höherem Maße profitieren als Paare mit mittleren und kleinen Einkommen. Ohne das so zu wollen (oder zu bemerken) hat die CDU am Dienstag in Hannover im Grunde also lediglich gegen die Ausweitung einer ungerechten (und unterm Gesichtspunkt des EU-Rechts ziemlich problematischen) Regelung gestimmt … Kein Grund zum Heulen also.
Und dann: Die Sozialdemokraten, die ja 2013 voraussichtlich wieder Juniorpartner in einer Großen Koalition werden, haben in ihrem Programm sogar die Abschaffung des Ehegattensplittings stehen! (Wäre doch eine schöne Ironie der Geschichte: Die CDU hätte jetzt für die Ausweitung des Splittings votiert, dann aber im Koalitionsabkommen womöglich der Abschaffung zugestimmt …) Regt das irgendjemanden auf? Nein, weil keiner die Sozen ernst nimmt.
Das wirklich Traurige und Ärgerliche an der ganzen Debatte aber, ob nun in der CDU oder sonstwo in Deutschland, ist in Wahrheit, dass die Frage „Ehegattensplitting auch für Homos, ja oder nein“ als das einzige homopolitische Thema gelten darf, das überhaupt noch in der Öffentlichkeit vorkommt. Darüber aber könnte man sich jetzt einmal ausnahmsweise zurecht grämen!

Sonntag, 2. Dezember 2012

Müssen Vegetarier Fleischessen für vegetarisch halten?

Über die römisch-katholische Kirche kann man immer alles behaupten, es wird immer gern geglaubt oder zumindest weitererzählt, es mag noch so unglaubwürdig sein, Hauptsache, es ist boshaft. „Homo-Ehe unterstützt: Katholische Kirche verstößt 17-Jährigen“, titelte beispielsweise im November queer.de. Ach, du heilige Inquisition!, das klingt wirklich übel. Man sieht vorm geistigen Auge geradezu eine Prozession von Männern in Kapuzenkutten, die unterwegs sind, einen Scheiterhaufen zu entzünden, auf den ein unschuldiger junger Mensch gefesselt ist, dessen einziges Verbrechen darin bestanden hat, eine vom überholten Dogma der Amtskirche abweichende Auffassung zu vertreten. Darf derlei in unserem schönen 21. Jahrhundert denn noch sein?
Leider stellt sich der Fall dann im Text unterhalb des reißerischen Titels sehr undramatisch dar. Der 17-jährige Lennon Cihak aus Minnesota habe im Vorfeld der US-amerikanischen Präsidentenwahl, bei der in seinem Bundesstaat auch eine gegen die „Homo-Ehe“ gerichtete Volksabstimmung stattfinden sollte, sich selbst neben einem verbotsbefürwortenden Plakat, das er mit einem verbotsgegnerischen Text überschriebenen habe, photographiert und das Bild auf Facebook gepostet. „Mehrere seiner Schulfreunde haben den ‘Gefällt-mir’-Button geklickt, aber nicht sein Pfarrer. Hochwürden ließ den Bub[en] wissen, dass er mit dieser politischen Einstellung kein guter Katholik sei[,] und verweigerte ihm das Sakrament der Firmung.“
Was denn, wegen dieses einen harmlosen Fotos kein guter Katholik? Das ist mal wieder typisch für diesen reaktionären Verein. Und queer.de zitiert die Mutter des Ungefirmten (nach dem „Grand Forks Herald“): „Wir kennen ja die katholischen Ansichten, aber ich hätte nie gedacht, dass jemandem die Firmung verweigert wird, wenn er kein Hunder[t]prozentiger ist. Das hat mich wirklich schockiert.“
Ach,. die Arme. Ja, wirklich, das kommt überraschend, dass diese bornierten Pfaffen erwarten, dass man das Bekenntnis zu den Lehren der Kirche, das man bei der Firmung ablegt, auch ernst nehmen müsse. Wer rechnet denn mit sowas!
Ein Schönheitsfehler des Berichtes auf queer.de ist allerdings, dass im Text von der im Titel behaupteten Verstoßung keine Rede mehr ist. Ein Firmkandidat wurde für ungeeignet befunden, gefirmt zu werden, mehr hat eigentlich nicht stattgefunden. Unter journalistischem Gesichtspunkt kommt es allerdings noch schlimmer. Denn da queer.de sich nicht die Mühe machte, bei der Recherche auch die Sichtweise der anderen, in diesem Falle: beschuldigten Seite wahrzunehmen, entpuppt sich, wenn man das nachholt, der ganze Artikel als Falschmeldung. Man könnte auch sagen: als kirchenfeindliche Hetze.
Der angebliche Bösewicht in der Geschichte stellt die Sache jedenfalls in einem entscheidenden Punkt anders dar. Pfarrer Gary LaMoine berichtete von der Angelegenheit in einem offenen Brief an seine Gemeinde. Darin heißt es, einige Firmkandidaten hätten sich entschieden, nicht in die volle Gemeinschaft mit der katholischen Kirche einzutreten, weil sie nicht mit den Lehren der Kirche hinsichtlich der Ehe übereinstimmten. Der Pfarrer hebt hervor, dass es die Entscheidung dieser Kandidaten war, nicht gefirmt zu werden, die sie ausdrücklich gegenüber einer oder mehreren Personen, die den Firmunterrichts abhielten, geäußert hatten.
Einer dieser Kandidaten habe seinen Wunsch, gefirmt zu werden, nach dem Überschmieren eines Pro-Marriage-Plakates und dem Posten einer Aufnahme davon bei Facebook zurückgezogen. Er, LaMoine, habe den jungen Mann zur Rede gestellt, warum er derlei mache, wenn doch wisse, dass er damit zentrale Lehren der Kirche über die Ehe ablehne, worauf der Junge auf persönliche Gründe für seine Ablehnung verwiesen und gesagt habe, er wolle nicht mehr gefirmt werden. Das stehe, so der Geistliche, im Widerspruch zu späteren Äußerungen des Kandidaten und seiner Familie. Es stimme aber nicht, dass, wie behauptet, das Sakrament der Firmung verweigert worden sei, vielmehr habe der Kandidat selbst Abstand davon genommen. Diese Aussage LaMoines ist insofern glaubwürdig, als er zugleich erklärt: Wenn der Firmkandidat nicht selbst auf den Wunsch, gefirmt zu werden, verzichtet hätte, hätte er, der Gemeindepfarrer, ihn von Gewährung des Firmsakramentes ausgeschlossen.
Warum sollte Hochwürden LaMoine in der Frage, ob er ausgeschlossen habe oder der Firmkandidat zurückgezogen, lügen, wenn er doch zugibt, er hätte ausgeschlossen, wenn nicht zurückgezogen worden wäre? Andererseits scheint die Familien Cihak das mediale Interesse zu genießen und der Kirche gern ans Bein zu pinkeln. Warum sie überhaupt noch weiter der katholischen Kirche angehören wollen, obwohl sie von ihr so offensichtlich nichts halten, bleibt rätselhaft. Eine Verstoßung fand jedenfalls nicht statt. Ein Firmkandidat wollte aus gutem Grund nicht mehr gefirmt werden. That’s it.
Uns selbst wenn es anders gewesen wäre, als es offensichtlich war, wenn also einem Kandidaten der Empfang des Firmsakramentes verweigert worden wäre, wieso ist das ein Problem? Und für wen?
Gehen wir die Sache grundsätzlich an: In einer pluralistischen Gesellschaft steht es jedem in fast jeder Hinsicht frei, für dieses oder gegen jenes zu sein. Wenn beispielsweise Lennon Cihak für die Homo-Ehe ist, dann ist das, zivilgesellschaftlich gesehen, sein gutes Recht. Viele, nicht alle, werden ihm zustimmen. Und wenn andererseits die katholische Kirche gegen die Homo-Ehe ist, dann ist das deren gutes Recht. Viele, nicht alle, werden ihr widersprechen.
Weder die Zustimmung der einen noch der Widerspruch der anderen macht eine Überzeugung zu einer richtigen oder falschen. Ob eine Überzeugung richtig oder falsch ist, spielt in einem die Freiheit der Meinungsäußerung schützenden Rechtsstaat auch keine Rolle hinsichtlich des Rechtes, sie zu vertreten. Und es betrifft auch nicht — und das ist der in unserem Fall entscheidende Punkt — das Recht eines Vereines, von seinen Mitgliedern zu erwarten und zu verlangen, dass sie die Überzeugungen, auf denen nach Meinung der zuständigen Vereinsinstanzen der Verein gegründet ist, teilen und ihnen nicht öffentlich widersprechen.
Um ein Beispiel zu bringen: Sollte ein Vegetarier-Verein es nicht überaus problematisch finden dürfen, wenn manche seiner Mitglieder darauf bestehen, das Essen von Fleisch müsse endlich als genauso vegetarisch gelten wie das Essen von Gemüse? Man mag die Haltung der katholischen Kirche zur Ehe für falsch halten. Das darf man auch durchaus sagen. Aber ist es berechtigt, sie zu diffamieren, weil sie von ihren Mitgliedern Konsequenz verlangt?
Ich persönlich, falls das jemanden interessiert, bin nicht Mitglied der römisch-katholischen Kirche. Aber ich achte deren Recht darauf, homosexuelle Betätigung für Sünde zu halten, wie ich auch das Recht von Vegetariern achte, Fleischverzehr für falsch zu halten, obwohl ich in beiden Angelegenheiten, Sexualität und Ernährung, ganz anderen Überzeugungen vertrete. Homosexualität nicht für Sünde zu halten hindert mich im Übrigen nicht, ein Gegner der Homo-Ehe zu sein, wie ich auch ein Gegner der Hetero-Ehe bin. Es ist eben alles nicht so einfach, wie man es sich bei queer.de denkt: Auf der einen Seite die Lesbenundschwulen, die alle für die Homo-Ehe sind, auf der anderen Seite die religiösen Reaktionäre, deren Homophobie zum Himmel schreit.
Vielmehr bedeuten Pluralismus, Meinungsfreiheit, Glaubensfreiheit eben auch: Vegetarierer müssen Fleischesser nicht als Vegetarier akzeptieren. Die katholische Kirche muss Befürworter der Ehe-Öffnung nicht firmen. Und ich darf Fleisch und Gemüse essen, Männer lieben, ohne auch nur einen von ihnen heiraten zu wollen, die Rechte eines Vereins verteidigen, dem ich nicht angehöre und dessen Überzeugungen ich nicht teile — und ich darf den Ton von queer.de unnötig schrill und geradezu hetzerisch finden, wenn es um die katholische Kirche geht.

Freitag, 30. November 2012

Montag, 26. November 2012

Schwarze, Schwule, Schweinereien

Vermutlich kann nichts einen Schwulen so sehr aufregen wie ein anderer Schwuler, der auf andere Weise „sein Schwulsein“ lebt als er selbst. Der BloggerSteven Milvertonjedenfalls hat sich sehr aufgeregt über den Bundestagsabgeordneten Jens Spahn von der CDU, der dem „Spiegel“ sein, so Spahn selbst, „erstes und letztes Interview“ zum Thema seiner sexuellen Orientierung gab. Mit nichts, was Spahn dort sagt, kann er es Milverton recht machen. „Steven Milverton ist Spahns Schwulsein viel zu anständig und sauber, und darum bringt er die Position des konservativen Politikers in die polemische Schlagzeile: „Spahn will kein Ferkel sein.“ Schweinerei!
Im Grunde sagt Jens Spahn in dem Interview allerdings auch nichts anderes als das, was schon vor langer Zeit von Klaus Wowereit und anderen zu hören war, dass man nämlich ein schwuler Politiker sei, aber kein Schwulenpolitiker. Spahn erklärt, sein Schwulsein habe nichts damit zu tun, wie er sich als Politiker definiere. Er mache keine schwule Klientelpolitik, sondern wolle als Gesundheitsexperte die Probleme unserer Zeit lösen. Seine Art zu leben und zu lieben solle keine größere Rolle spielt als seine inhaltliche Arbeit.
Ist daran, für sich genommen, etwas auszusetzen? Muss bei einem homosexuellen Politiker seine sexuelle Orientierung mehr Beachtung finden als bei einem heterosexuellen Politiker? Meiner Meinung nach nicht; ich finde es richtig, Politiker nach ihrer Politik zu beurteilen und nicht nach ihre erotischen Vorlieben. Mir ist das zu amerikanisch. Dieses Herumschnüffeln im Schlafzimmer ist mir zuwider. Mich interessiert ja nicht einmal die Frisur oder das Kostüm der jeweiligen Charge (so kritikwürdig derlei abseits des Politischen sein mag), mich interessiert an den Politikmachern nur, was von ihnen geplant und bewirkt wird.
Ich möchte also gar nicht wissen — schrecklicher Gedanke! —, ob die Merkel lieber oben oder unten liegt beim Sex oder ob der Steinbrück gern Rollenspiele macht. Doch selbst wenn mir diese Menschen sympathischer wären, als sie es sind: Ob langweilig oder versaut, das Liebesleben heterosexueller Politiker geht niemanden etwas an außer den Beteiligten. Darf also nicht auch ein schwuler Politiker, egal von welcher Partei, sein Schwulsein als Privatsache betrachten und bloß nach seinem politischen Agieren beurteilt werden wollen?
„Steven Milverton findet das nicht. Er befindet vielmehr: Spahn habe seine Schwulsein „wegdefiniert“. Um überhaupt in der CDU sein und bleiben zu können, der „Steven Milverton, dazu komme ich noch, massive Schwulenfeindlichkeit unterstellt, und um für die CDU um Wähler, auch schwule, werben zu können, müsse Spahn einen Unterschied zwischen guten und schlechten Homosexuellen machen, also zwischen solchen wie Spahn mit wegdefiniertem Schwulsein und solchen wie „Steven Milverton selbst (mit einem, wie man annehmen darf, wohldefinierten Schwulsein):
„Mit den dreckigen schwulen Männern, die Schwänze lutschen, die tief und innig küssen, die vielleicht auf Pisse stehen und den Duft von Achseln, Füßen und ungewaschenen Schwänzen geil finden, die Analverkehr haben, aktiv wie passiv, und vielleicht sogar darüber reden, mit denen will Spahn nichts zu tun haben. Mit jemandem wie mir würde Spahn nicht einmal gesehen werden wollen — auch nicht im Darkroom. Spahn träumt davon Kanzler zu werden, ich träume von langen, dicken, spritzenden Männerschwänzen. Das eine verträgt sich nicht mit dem anderen.“
Wirklich nicht? Mir scheint es nicht so gewiss, wie anscheinend
„Steven Milverton, dass sich seine Träume und der Traum, den er Spahn unterstellt, ausschließen. Ich könnte mir, auch wenn ich es nicht möchte, ganz gut vorstellen, dass, zumindest in der Phantasie, sexuelle Aktivität jeglicher Art mit Politik jeglicher Art vereinbar ist. Ich weiß ja aber in Wahrheit gar nicht, wovon Jens Spahn träumt. Ich weiß nicht, ob er darkrooms aufsucht und ob man ihn dort mit jemandem sehen kann. Und ich glaube auch nicht, dass das „Steven Milverton oder mich etwas angeht.
Jens Spahn ist, wenn ich es richtig verstehe, ein Vertreter des Gleichstellung von Heterosexuellen und Homosexuellen. (Aufschrei von
„Steven Milverton — aber dazu, wie gesagt, später.) Er sieht nicht ein, warum er als Schwuler sein Sexualleben öffentlich zelebrieren muss, wenn es doch heterosexuelle Politiker auch nicht tun. Und darin gebe ich ihm Recht. Ich kann der Vorstellung nichts abgewinnen, gute Schwule seien nur solche, die dauernd über Achsel- und Fußschweiß, Schwänze und Ärsche, Küsse und Pisse schwadronieren, während böse Schwule solche sind, die ihre Mitteilungsfreudigkeit den Gegebenheiten anpassen. Ich spreche und schreibe gern über Lüste, aber nicht immer und überall ist das mein vordringlichstes Thema. Zugegeben, zuweilen muss man sich über manches gerade dort äußern, wo es stört. Aber als Schwuler immer nur über Schwules reden zu sollen, ist doch bloß die Forderung nach Erfüllung einer Erwartung. Es mag also sein, dass Spahn kein Ferkel, „Steven Milverton hingegen eine, sit venia verbo, Sau sein will. Aber kommt es darauf an, wenn von Politik die Rede ist? Ist Sexualverhalten und das Reden über Intimes das entscheidende Kriterium des Politischen?
Nein, denn worauf auch
„Steven Milverton mit seiner Attacke auf den CDU-Politiker Spahn ja eigentlich hinaus will, so scheint mir, und damit kommen wir zu einem anderen, wichtigeren Aspekt der Thematik von Anständigkeit und Unanständigkeit, ist das Missverhältnis zwischen Schwulsein des Parteimitgliedes und Parteifunktionärs Spahn einerseits und der Politik der „Schwarzen“ gegenüber Schwulen (und Lesben) andererseits.
Hier fährt Milverton schweres Geschütz auf. Spahn habe beim „erbärmliche[n] Schachern um grundlegende Rechte für schwule und lesbische Menschen“ seine Stimme „konsequent gegen Maßnahmen zur rechtlichen Gleichstellung“ abgegeben. Ich gestehe, ich staune. Hab ich was verpasst? Grundlegende Rechte? Haben die CDU/CSU/FDP etwa den Paragraphen 175 wieder eingeführt (und auf Frauen ausgedehnt)? Oder hat Schwarzgelb zumindest die von Rotgrün geschaffene Registrierungspartnerschaft wieder abgeschafft? Nun, gemach, gemach, nichts dergleichen ist geschehen. Die „grundlegenden Rechte“, über die im Bundestag abgestimmt wurde, betrafen meines Wissens lediglich Details des Steuerrechts, nämlich das sogenannte Ehegatten-Splitting und die Frage seiner Anwendung auch auf Verpartnerte. Das haben CDU, CSU und FDP abgelehnt. Die existenzielle Dramatik, die Milverton anscheinend in dieser Nebensache sieht, kann ich beim besten Willen nicht erkennen.
Sehr wohl aber, wer könnte es leugnen, gibt es in der CDU und der CSU einige Politiker und Politikerinnen, denen die „Homo-Ehe“ ein Dorn im Auge ist.
„Steven Milverton nennt die Namen Geis, Reiche und Steinbach. Dass diese drei Dunkelschwarzen höchst unerfreuliche Erscheinungen in der politischen Landschaft sind, darüber wird man sich, wenn man nicht ziemlich weit rechts steht, rasch einigen können. Dennoch sollte man bei aller berechtigten Gegnerschaft zu diesen Gestalten vielleicht erst einmal ihre Aussagen genauer ansehen, bevor man sie verwirft. Wenn man freilich, wie „Steven Milverton, in den Unionsparteien nichts weiter als einen Wahlverein von „alten und neuen Nazis, Katholiken, Ewiggestrigen und dergleichen“ sieht, erübrigt sich das. Der Preis für solche Realitätsverweigerung ist eine Hysterisierung des Diskurses.
Die „Schwulenfeindlichkeit in der CDU/CSU“ äußert sich,
„Steven Milverton zufolge, darin, dass auf schwule Menschen eingeschlagen wird. „Zunächst soll dieses [E]inschlagen natürlich nur verbal stattfinden, allerdings wissen wir von Reiche, dass das nicht das Endziel der CDU ist. Die von der Partei gewünschte Zukunft, frei von schwulen Menschen, lässt sich nicht allein durch fiese Bemerkungen und handfeste Verleumdungen erreichen. Erika Steinbach springt dieser Tage Reiche & Co bei und macht deutlich, dass schwule Menschen ein Problem für das Überleben des Deutschen Volks seien.“
Ach du liebe Zeit, da hört wohl jemand schon die Deportationszüge rollen und den Baulärm der Kazetts dröhnen! Aber keine Angst, liebe Leserinnen und Leser, man lasse sich nicht bange machen. Vorläufig droht keine Gefahr. Die Bahn bekommt derzeit nicht einmal genügend ICE auf die Reihe, geschweige denn Viehwaggons für Lesben- und Schwulentransporte; und angesichts der Umweltauflagen gibt’s für Vernichtungslager auch so rasch keine Baugenehmigung.
Um nicht missverstanden zu werden: Ja, es stimmt, die CDU und die CSU propagieren einen Vorrang heterosexueller Lebensweisen vor homosexuellen und tendieren mehrheitlich dazu, die Homo-Ehe und die Homo-Familie gegenüber Hetero-Ehe und die Hetero-Familie abzuwerten und rechtliche Gleichstellungen zu unterlassen. Das mag für manche unangenehm sein, aber für niemanden lebensbedrohlich. Man mag eine solche von der eigenen forschrittlichen Weltsicht abweichende Werthaltung als Schweinerei betrachten, sie stellt aber weder eine unmittelbare Schwulenverfolgung dar, noch muss umgekehrt die Integration homosexueller Lebensweisen in Hetero-Modelle der Verrechtlichung unbedingt als emanzipatorisches Projekt gedeutet werden.
Ohne Zweifel: Wenn die grässliche Erika Steinbach in einem Interview, auf das
„Steven Milverton verlinkt, sagt: „Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutz des Grundgesetzes, weil nur die Familie die Gesellschaft stabilisiert und das Überleben eines Volkes sichert“, dann klingt das widerlich. Das Problem besteht nun allerdings darin, dass die lautstarken Berufshomosexuellen und ihre Kampfgenossen ja genau dasselbe wollen: Ehe und Familie, nur halt nicht bloß als Papa-Mama-Kind, sondern auch als Papa-Papa-Kind und Mama-Mama-Kind. Und nicht aus Gründen des Überlebens irgendeines Volkes, sondern weil sie sich damit bürgerliche Anständigkeit und konsumistische Wunscherfüllung versprechen: Normalität und heile Welt. Dass die Homo-Ehe samt Zubehör (Steuervorteile, mietrechtliche Begünstigung, Adoptionsrecht usw. usf.) die von Steinbach gewünschte Stabilisierung der Gesellschaft befördert und die herrschenden Verhältnisse gerade nicht in Frage stellt, daran zweifle ich jedenfalls nicht im geringsten.
In wessen Interesse derlei ist, kann sich jeder selbst ausrechnen. Außerdem ist es noch sehr die Frage, ob die Heteronormativierung der Schwulen (und Lesben) durch staatlich regulierte Institutionalisierung überhaupt deren Wünschen entspricht. Und so hat Frau Steinbach, auch wenn man über Zahlen streiten könnte, wohl nicht völlig Unrecht, wenn sie sagt: „Nur ein kleiner Teil, nämlich ein Prozent aller Homosexuellen, lebt in einer eingetragenen Partnerschaft. Das heißt: 99 Prozent wollen das offenkundig nicht.“ Dass sie ausnahmsweise mal ein richtiges Argument vorbringt, macht Erika Steinbach nicht weniger unerträglich, aber dass es von ihr angeführt wird, macht das Argument auch nicht falsch.
Zu Katherina Reiche gibt
„Steven Milverton keinen Link an, täte ich auch nicht, denn eine ihrer bekanntesten Aussagen wurde bekanntlich in einem ausgewiesenen Drecksblatt veröffentlicht: „Unsere Zukunft liegt in der Hand der Familien, nicht in gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften.“ Auch hier wieder: Die konservative Politikerin konstruiert einen Gegensatz, der nicht besteht. Die Befürworter und Befürworterinnen der rechtlichen Gleichstellung von heterosexuellen und homosexuellen Lebensgemeinschaften wollen ja gerade „Familie“ um jeden Preis. Und sie wollen auch Kinder. Sei es adoptierte oder mehr oder minder selbstgemachte. Will man also Frau Reiche widersprechen, darf man nicht auf die angebliche Gegensätzlichkeit von gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften und Familien hereinfallen. Man müsste vielmehr das Ideal, die Norm des Paares und der Kleinfamilie in Frage stellen.
Aber auch
„Steven Milverton tut das, zumindest an dieser Stelle nicht. Er ist so fasziniert vom Ausschluss der Homos aus dem Hetero-Idyll, dass er aus diesem Ausschluss einen Vernichtungswillen extrapoliert, statt das Idyll zu kritisieren. Ich finde das ein merkwürdiges Argument: Wenn die Heteros uns, die Homos, nicht so sein lassen wollen, wie sie, die Heteros, sind, dann wollen sie die Homos auslöschen. Als ob die letzte Bestimmung der Schwulen (und Lesben) darin läge, eines Tages endlich so zu werden, wie die Nichtschwulen (und Nichtlesben) jetzt schon sind.
Nun ist freilich Logik ohnehin nicht jedermanns Sache. So etwa meint bekanntlich Norbert „Ich würde niemals einen homosexuellen Menschen verunglimpfen!“ Geis, man müsse zwar sagen dürfen, dass Homosexualität eine Perversion ist — weil „der Sexualität eine natürliche Funktion innewohnt, die Homosexualität nicht erfüllen kann“ —, will damit aber nicht gesagt haben, was man ihm bloß unterstellt habe, dass nämlich Homosexuelle pervers seien. Zieh den Schwulen den Pelz ab, aber mach sie nicht nackt … Dass nun selbst ein Hardcore-Heterokrat wie Geis öffentlich eine solch absurde Unterscheidung wie die zwischen perverser Homosexualität und nichtperversen Homosexuellen machen muss, zeigt, dass Schwulenfeindlichkeit, anders als
„Steven Milverton es suggeriert, von den Schwarzen keineswegs zur offiziellen Politik erhoben wurde. Und wohl auch nicht mehr werden wird.
Geis, Reiche, Steinbach sind nicht repräsentativer für ihre Partei und deren Wähler als Merkel, Schröder oder Spahn. Die Verschiedenheit der Positionen, auch die der verschiedenen Parteien, verweist zudem lediglich auf den gesamtgesellschaftlichen Widerspruch. Eine mehrheitlich heterosexuell geprägte Bevölkerung sucht nach einem Umgang mit einer von ihr hinsichtlich der sexuellen Orientierung abweichenden Minderheit, für deren Verfolgung sie keine glaubwürdigen Argumente mehr vorzubringen weiß, gegen deren bis zum völligen Verschwinden jeder Differenz gehende Gleichheit jedoch spricht, dass Heterosexualität, individuell wie strukturell, eben auf der Unterdrückung vom Homosexualität beruht. Zumindest, wenn — wovon ich überzeugt bin — nicht die Biologisten, die sich auf Gene und Hormone berufen, Recht haben, sondern jene Psychologen, die sagen, jeder Mensch beginne als polymorph-perverses Wesen, weshalb sich die Frage stellt: Wieso zum Teufel sind so schrecklich viele Menschen exklusiv heterosexuell? (Die biologistische Phantasie halte ich, beiläufig sei’s vermerkt, nicht für eine Erklärung, sondern für eine selbst erklärungsbedürftige Folge der Heteronormativität.)
Die mehrheitlich heterosexuelle Bevölkerung jedenfalls verwickelt sich im Umgang mit der homosexuellen Minderheit für gewöhnlich in Widersprüche. Umfragen zufolge ist beispielsweise zwar einerseits eine Mehrheit für die Öffnung der Ehe, aber andererseits gegen ein Adoptionsrecht gleichgeschlechtlicher Paare. Man ist zwar einerseits in höchstem Maße gegen Benachteiligung von Lesben oder Schwulen am Arbeitsplatz, aber anderseits wünscht eine gewaltige Mehrheit auf keinen Fall, dass das eigene Kind schwul oder lesbisch wäre.
Die Schwarzseher des Politspektrums sind in noch weiteren Widersprüchen gefangen. Man will Ehe und Familie „schützen“, das heißt: als eine Norm bewahren, der die Lebenswirklichkeit vieler, aber längst nicht mehr aller entspricht. Man unternimmt nichts, um Schwule oder Lesben zu verfolgen, auch nicht, wenn sie zusammenleben (auch ohne Trauschein kommt sowas vor!) und sogar Kinder großziehen. Aber man will die Abweichungen vom Papa-Mama-Kind-Idyll, obwohl sie nichts anderes sind als Familie und nochmals Familie, und obwohl sie auf ihre Weise das Kinderkriegen und Kindererziehen verwirklichen, von dem angeblich alles abhängt, man will also mit homosexuellen Lebensweisen vereinbare Familienformen ohne guten Grund nicht (oder zumindest vorläufig nicht) in eine dadurch realitätstüchtigere erweiterte Form des Idylls einbeziehen.
Ich halte das für ideologische Scheuklappen, die freilich durchaus dem verkorksten Selbstbild vieler in einer von nichtehelichem Sex, Ehebruch, Scheidung, körperlicher, seelischer und geistiger Gewalt nicht nur gegen Kinder, von Kinder- und Familienarmut im Inland und (durch die wichtige Stellung Deutschlands in der Weltwirtschaftsordnung) auch im Ausland geprägten Gesellschaft der Heuchler und Selbstgerechten entsprechen. Das ist eine einzige große Sauerei. Ich halte es aber nicht für Schwulenverfolgung.
Zugespitzt könnte man sogar sagen: Nicht CDU und CSU, die an gewissen Diskriminierungen festhalten wollen, drohen die Homosexuellen zum Verschwinden zu bringen, sondern die, die ihn ihrem Gleichstellungswahn Homosexualität zu einer Art Para-Heterosexualität ummodeln möchten. Wer trotzdem nicht heiraten und Kinder haben möchte, und viele Schwule und Lesben wollen das tatsächlich nicht, wird nicht von der CDU diskriminiert, sondern von den selbsternannten Homo-Vertretern, die längst jedes andere schwulenpolitische Thema als die Heiraterei verdrängt und unterdrückt haben.
Zurück zu Jens Spahn.
„Steven Milverton sieht ihn als „tragische Figur“, weil für ihn, „Steven Milverton, Schwulsein und Schwarzsein nicht zusammenpassen, es sei denn um den Preis einer Verkürzung, ja Beschneidung des Schwulseins selbst. Ich sage: Schön wär’s, wenn’s so wäre. In Wahrheit unterscheidet sich das, was die CDU als Ideal propagiert, also Monogamie und Kleinfamilie, nicht von den Forderungen derjenigen Schwulen und Lesben, die von „grundlegenden Rechten“ reden und Steuervorteile meinen (darunter auch der Blogger „Steven Milverton“). Spahn verkörpert die Widersprüche, die auch sonst in der Gesellschaft bestehen, mehr nicht. Tragisch wäre es, wenn einem an ihm nur zu kritisieren einfiele, dass er nicht ferkelhaft genug ist und sich nicht fürs Ehegatten-Splitting bei Verpartnerten einsetzt. Mich stören an den Schwarzen (und Gelben und Roten und Grünen und ...) andere Schweinereien weit mehr.
Was mich betrifft, ich bin gegen Parteien wie die CDU, weil sie für Kapitalismus sind, also für eine ungerechte Gesellschaft. Und wenn, viel fehlt ja nicht daran, die Unionspolitiker und Unionspolitikerinnen eines Tages ihre Liebe zu den Schwulen entdeckten und täten, was sich
„Steven Milverton anscheinend von ihnen wünscht, nämlich einzutreten für die diskriminierungsfreie Integration auch der Nichtheterosexuellen in die ansonsten unverändert weiterbestehenden herrschenden Verhältnisse? Auch dann wäre ich immer noch dagegen.

Donnerstag, 22. November 2012

Mehr als ein Regime

Wer diese Unsitte aufgebracht hat, weiß ich nicht, und wie sie sich so weit verbreiten konnte, auch nicht. Dass sie es bis zur Ehre des Duden-Eintrages gebracht hat, weiß ich, halte das aber in keiner Hinsicht für ein Argument. Es ist und bleibt unschöner Unsinn. Doch leider würden auf die Frage, wie die Mehrzahl von „Regime“ lautet, die meisten angeblich des Deutschen Mächtigen antworten: „Regime“.
Hier liegt der eigentümliche und (da mir kein weiteres Beispiel einfällt, behaupte ich:) in der deutschen Sprache und Schreibe einzigartige Fall vor, dass ein und derselbe Buchstabe an ein und derselben Stelle in ein und demselben Wort und ohne jede sonstige Veränderung des Schriftbildes einmal stumm ist und einmal einen Laut repräsentiert: Man schreibt beide Male „Regime“ und sagt erstaunlicherweise einmal „Reschiem“ und ein andermal „Reschieme“.
Diese absurde Doppelfunktion des E ist das eine, was mich stört, die Willkür, ausgerechnet hier, wo im Schriftbild am Ende schon ein E steht, eine Mehrzahlbildung mit E durchzusetzen, das andere. Und das hört ja beim Nominativ nicht auf, hemmungslos wird dekliniert: „die Regime, der Regime, den Regimen, die Regime“. Schrecklich.
Niemandem fiele wohl ein, es mit dem aus dem Englischen entnommen Wort „Team“ ebenso zu halte: „das Team, die Teame“. Hier sagt man stets „die Teams, der Teams, den Teams, die Teams“. Nur bei dem aus dem französischen stammenden „régime“ — dem man ohnehin schon seinen accent aigu geraubt hat — bildet man sich ein, anders verfahren zu können, zu sollen, vielleicht gar zu müssen. Warum bloß?
Der Grund ist vermutlich der bedauerliche Vorrang des Schriftdeutschen vor der gesprochenen Sprache. Man sieht das End-E und meint, es könne auch ein Plural-E sein. Und dann „spricht man es aus“. (In Wahrheit werden nicht Buchstaben gesprochen, sondern Sprache wird aufgeschrieben, aber das auszuführen führte hier zu weit.)
Nein, nein und nochmals nein, ich mache diesen Quatsch nicht mit. Für mich heißt es „das Regime“ und „die Regimes“ (sowie „der Regimes, den Regimes, die Regimes“). Das ist für mich die einzig korrekte Sprech- und Schreibweise. Nur sie ist sprachbewusst, geschichtsbewusst, gebildet und formschön. Spricht aus Ihrer Sicht irgendetwas dagegen? Haben Sie irgendein Argument für die falsche Form (außer dem Nicht-Argument „Alle machen es so“)? Nein? Dann übernehmen Sie doch bitte ausnahmsweise einmal meine Sicht der Dinge. Danke.

Dienstag, 20. November 2012

„Frankreich braucht Kinder, keine Homosexuellen“

Zu Tausenden, Zehntausenden, Hunderttausenden haben sie am letzten Wochenende in Frankreich gegen den mariage pour tous demonstriert, gegen die von der Regierung vorgesehene Ausdehnung ehelicher Rechte, einschließlich des Rechtes auf Adoption, auf verschiedene Formen paarweisen Zusammenlebens, darunter auch gleichgeschlechtliche. Ich finde solche Demonstrationen gut, denn damit bekommt der Widerstand gegen die gesellschaftliche Integration homosexueller Lebensweisen wenigstens ein Gesicht. (Und es waren viele nette Gesichter darunter. nämlich die von mitgebrachten Kindern, die allerdings wohl nur schwerlich hätten beurteilen können, wogegen oder wofür ihre Erziehungsberechtigten sie da demonstrieren ließen.) Immerhin sind zwar Umfragen zu Folge 52 Prozent der Französinnen und Franzosen für den mariage pour tous, aber das heißt ja, dass 48 Prozent es nicht sind, und das ist ja auch fast die Hälfte.
Es waren, wie man hört, keine Demonstrationen ausschließlich von Katholikinnen und Katholiken, aber diese dürften die treibende Kraft hinter der Kampagne sein. Und auch das ist völlig in Ordnung. Immerhin sind Katholiken bekanntlich Menschen mit in sexualmoralischer Hinsicht vorbildlicher Lebensführung. Katholiken befriedigen sich nicht selbst, sie haben keinen Geschlechtsverkehr vor oder außerhalb der Ehe, aber auch in der Ehe verüben sie den Beischlaf nur, wenn dabei ein Kind gezeugt werden kann, sie verwenden keine Verhütungsmittel und treiben selbstverständlich nicht ab. Katholische Familien, das weiß man doch, sind Horte des Friedens und der Harmonie. In ihnen wird niemals psychische oder physische Gewalt gegen Kinder ausgeübt, auch die Erwachsenen gehen immer respektvoll und fürsorglich miteinander um, es gibt weder Streit noch Unterdrückung. Niemand geht aus solchen Familien mit Traumata und Störungen hervor. Darum sind Katholikinnen und Katholiken — die im Übrigen ja auch weder lügen noch stehlen noch morden — wie niemand sonst berufen, über anderer Leute Lebensweise zu urteilen.
Und das Urteil steht fest, es lautet: Kinder brauchen zwei gegengeschlechtliche Elternteile, also einen Vater und eine Mutter. Sonst, ja sonst, man weiß es nicht, irgendwas läuft dann schief, die Kinder werden drogensüchtig oder Massenmörder oder sowas, irgendetwas Schreckliches passiert dann jedenfalls, das weiß man doch, und man sieht es ja auch überall. Die Gesellschaft zerfällt, die Kleinfamilie, Ideal aller Ideale, zerbröckelt, und schuld ist nicht etwa der Kapitalismus, der die Lebensweisen, die er hervorgebracht hat, auch wieder auflöst, sondern schuld sind die, die nicht als Mama-Papa-Kind zusammenleben wollen oder können. Das kann nicht gut gehen.
Folgerichtig wären (auch wenn dies nicht Thema der jüngsten Demonstrationen war) den aus welchen Gründen auch immer alleinerziehenden Müttern oder Vätern entweder die Kinder wegzunehmen oder zwangsweise ein Ehemann bzw. eine Ehefrau beizugesellen. Dasselbe gilt für lesbische und schwule Paare, die jetzt schon, auch ohne Trauschein und rechtliche Absicherung, gemeinsam Kinder großziehen. Oder auch für Paare von Mütter und Großmütter, Väter und Großväter, denn auch wenn die keinen Sex miteinander haben, fehlt ihnen doch ein Geschlecht. Wie mit Heimkindern und Kindern in SOS-Kinderdörfern zu verfahren ist, ist noch unklar, das aber aus denen nichts werden kann, steht fest.
Denn das sind nun einmal die Tatsachen: Wer mit Vater und Mutter aufwächst, wird ein guter Mensch, wem ein Geschlechtsteil fehlt, nein, äh, so rum: wem ein Elternteil eines bestimmten Geschlechtes fehlt (etwa weil er oder sie ein Elternteil mit schon vorhandenem Geschlecht zu viel hat), wird zwangsläufig ein Taugenichts.
Und Taugenichtse will man nicht. Darum steht auf den bei dem Demonstrationen mitgeführten Transparenten auch eine deutliche Botschaft: „La France a besoin des enfant, pas des homosexuels.“ (Frankreich braucht Kinder, keine Homosexuellen.) Das stellt klar: Kinder sind nicht homosexuell und sie werden es auch nicht, wenn sie in einer Kleinfamilie nach katholischem Zuschnitt aufwachsen. Wo diese ganze Homosexualität herkommt, man weiß es nicht. Wahrscheinlich kommt’s vom Fernsehen und den Computerspielen. Oder, klassisch, von Pornographie und Verführung. Und vor allem natürlich daher, dass es in Kindheit und Jugend an der starken Hand des Vaters oder der zarten, aber nicht zu zarten Hand der Mutter gefehlt hat. Dem muss Einhalt geboten werden. Von Natur aus ist jeder Mensch heterosexuell, wer es nicht ist, bei dem läuft was falsch.
Noch gibt es meines Wissens, keine Vorschläge, was mit den Homosexuellen, die Frankreich so ganz und gar nicht braucht, zu tun ist. Arbeitslager? Umsiedlung nach Madagaskar? Vergasung? Irgendwas wird sich schon finden. Vielleicht sogar Toleranz. Sollen die doch untereinander machen, was sie wollen, aber unsere Kinder kriegen die nicht. Und auch nicht ihre eigenen. Die Kinder gehören Frankreich, und das macht mit ihnen, was es will. Anständige Heterosexuelle sollen sie sein, brav arbeiten und konsumieren und weitere brav arbeitende und konsumierende Heterosexuelle zeugen, Generation um Generation.
Ja, es ist gut und richtig, dass die Gegnerschaft gegen den mariage pour tous ein Gesicht, also viele Gesichter bekommt. Es sind die von aufgesetzter Fröhlichkeit und ehrlicher Sorge gezeichneten Gesichter verzweifelter Heterosexueller, die Angst haben, ihre auf verdrängten und unterdrückten Möglichkeiten, also auf unbewusster psychischer Kastration beruhende Normalität sei plötzlich nichts mehr wert. Wozu all die lebenslange Selbstgerechtigkeit und all die aufwändige Heuchelei, wenn dann irgendwelche Taugenichtse daherkommen und mir nichts, dir nichts dieselben Ideale haben und dieselben Rechte fordern, wie man selbst!
Denn das ist ja die große Pointe an dem Gerangel um Eheöffnung und Homo-Ehe und mariage à tous und wie das alles heißt: Die Lesbenundschwulen, die unbedingt heiraten und über Kinder verfügen wollen, repräsentieren dieselben bürgerlichen Wunschvorstellungen wie ihre Gegner. Der Unterschied ist ein ganz kleines bisschen Traditionalismus, mehr nicht. Aber auch derlei soll sich zeigen dürfen. Je mehr Bilder es davon gibt, desto besser sogar. Denn die Kinder, die heute von ihren Eltern gegen die Homosexuellen ausgespielt und zu Demonstrationen mitgeschleppt werden, werden, wenn sie erwachsen sind, darüber lachen, so oder so, sei es, weil sie sich gern an das Spielen mit den rosafarben und himmelblauen Luftballons erinnern, sei es, weil sie die Borniertheit ihrer Eltern nur noch lächerlich finden können. Und dann werden sie sich anderen Problemen zuwenden.

Donnerstag, 15. November 2012

Deutsch's

Heißt es richtig „des Deutschen“ oder „des Deutschs“? Je nachdem, was gemeint ist. Wie aus dem unten angeführten Zitat* — kein „deutscher“ Text ohne Fußnote! — hervorgeht, handelt es sich um diesen Bedeutungsunterschied: Ist die deutsche Sprache als solche gemeint, ist die erste Form zu bilden, meint man eine bestimmte Weise, die deutsche Sprache zu gebrauchen oder zu beherrschen, gilt die zweite Form als korrekt. Es heißt also „Im Deutschen gibt es verschiedene Deklinationen“, aber „Die mangelhafte Beherrschung der Deklinationen blieb eine Schwäche seines Deutsch“.
Im Unterschied zu dem von mir — den Einwänden Karl Krausens zum Trotz — sonst als Autorität verehrten Gustav Wustmann neige ich bei der endungslosen Form zur Undeklinierbarkeit. Mir scheint „die mangelhafte Flüssigkeit meines Französisch“ angenehmer als die Form „meines Französischs“. Aber ich sagte und schriebe, wenn es dazu käme, auch ohne Zögern „des Rutsches“ und des „Klatsches“, um das tschs zu vermeiden. Da sind die Geschmäcker eben verschieden. (Völlig unmöglich ist selbstverständlich „des Deutsches“!)
Falsch wäre es jedenfalls, von „Varietäten des Deutschs“ zu sprechen, während „Varietäten des heutigen Deutschs“ durchaus richtig wäre.
Das alles wollte ich hier noch rasch gesagt haben, bevor sich demnächst womöglich die Schreibweise „Deutsch’s“ durchsetzt und in den Duden Eingang findet …

* Die Sprach- und Farbenbezeichnungen bilden ein substantiviertes Neutrum in zwei Formen nebeneinander, in einer Form mit Deklinationsendung und einer Form ohne Endung: das Deutsche und das Deutsch, das Englische und das Englisch, das Blaue (ins Blaue hinein reden) und das Blau (das Himmelblau), das Weiße (im Auge) und das Weiß (das Eiweiß). Zwischen beiden Formen ist aber ein fühlbarer Bedeutungsunterschied. Das Deutsche bezeichnet die Sprache überhaupt, und dem schließt sich auch das Hochdeutsche, das Plattdeutsche usw. an. Sobald aber irgendein beschränkender Zusatz hinzutritt, der eine besondre Art oder Form der deutschen Sprache bezeichnet, wird die kürzere Form gebraucht: das heutige Deutsch, ein fehlerhaftes Deutsch, das beste Deutsch, Goethes Deutsch, mein Deutsch, dieses Deutsch, das Juristendeutsch, das Tintendeutsch (Goethe im Faust: in mein geliebtes Deutsch zu übertragen; der Deutsche ist gelehrt, wenn er sein Deutsch versteht).
Die längere Form: das Deutsche, das Blaue muß natürlich schwach dekliniert werden: der Lehrer des Deutschen, die beste Zensur im Deutschen, ein Kirchlein steht im Blauen, Willkommen im Grünen! Die kürzere Form halten manche für ganz undeklinierbar und schreiben: des Juristendeutsch, eines feurigen Rot. Sie steht aber durchaus auf einer Stufe mit andern endungslosen substantivierten Neutren, wie: das Gut, das Übel, das Recht, das Dunkel, das Klein (für Kleinod, Kleinet, z.B. Gänseklein), das Wild, und es ist nicht einzusehen, weshalb man nicht sagen soll: des Eigelbs, des Tintendeutschs. An das tschs braucht sich niemand zu stoßen, sonst dürfte man nicht sagen: des Erdrutschs, des Stadtklatschs. (Gustav Wustmann, Allerhand Sprachdummheiten, 4. Aufl., Leipzig 1908, S. 35)

Mittwoch, 14. November 2012

Sieben kleine Wörter

Und jetzt zur Abwechslung mal was Lobenswertes. Das sich, wer hätte das gedacht, in Schleswig-Holstein ereignet hat. Dort hat nämlich der Landtag eine Verfassungsänderung beschlossen. Fortan soll der zweite Satz des zweiten Absatzes des fünften Artikels lauten: „Die nationale dänische Minderheit, die Minderheit der deutschen Sinti und Roma und die friesische Volksgruppe haben Anspruch auf Schutz und Förderung.“ Die Veränderung ist hier durch Kursivsetzung hervorgehoben.
Zu Recht spricht man von einem historischen Akt. Zum ersten Mal bekennt sich eine deutsche Verfassung ausdrücklich zur Schutz- und Förderwürdigkeit der Roma und Sinti. Das sollte Schule machen.
Gewiss,  „sieben kleine Worte“ (so Ministerpräsident Torsten Albig, Worte und Wörter verwechselnd) sind noch keine andere Politik, sind noch lange kein ander gesellschaftlicher Umgang mit einer jahrhundertelang verachteten und verfolgten Minderheit. Aber sie sind ein Symbol. Wofür genau, wird freilich erst die Zukunft zeigen.

Heterosexualität als Sicherheitsrisiko

Nicht, dass mir nicht herzlich egal ist, welcher ranghohe US-General an welche Tussi welche „unangemessenen“ E-Mails geschickt oder welcher welche gevögelt hat. Mir genügt zu wissen, dass sich da gerade ein bisschen supermächtige Wehrkraft zersetzt. Darüber hinaus aber amüsiert es mich, mir vorzustellen, Herr Petreaus hätte seine Ehefrau nicht mit einer Frau, sondern mit einem Mann betrogen, oder Herr Allen hätte seine Ergüsse — und womöglich vertrauliche bis geheime Informationen — nicht an eine Gespielin, sondern einen Liebhaber versendet. Holla, da wäre aber das Geschrei groß! Traditionell gelten ja Schwule in Streitkräften als Sicherheitsrisiko. Weil sie erpressbar seien. Dass sie nur erpressbar sind, solange sie diskriminiert (etwa als Sicherheitsrisiko behandelt) werden, wird dabei meist ignoriert. Außerdem sind Schwule bekanntlich so triebgesteuert, dass sie sich nicht im Griff haben. Nun, wie sehr sich heterosexuelle Oberbefehlshaber und Geheimdienstchefs im Griff haben, kommt ja jetzt ans Licht. Trotzdem gilt: Wären homosexuelle Avancen und Akte Gegenstand des Skandals, stünde die homosexuelle Neigung als solche am patriotischen Pranger. Da es aber nur um Heterosexuelle geht, ist von Heterosexualität folgerichtig gar nicht erst die Rede. Einmal mehr wird die berüchtigte Maxime Don’t ask, dont tell befolgt, nur hier in ihrer re-invertierten, also heterosexuellen Variante. Über Heterosexualität als solche spricht man nicht. Nicht einmal dann, wenn die nationale Sicherheit betroffen ist. Oder gerade dann nicht. Das Risiko wäre zu hoch.

Samstag, 10. November 2012

Ein Zettel

Diesen Zettel habe ich gestern auf dem Gehsteig gefunden. Ob ihn der Wind dorthin geweht oder ihn jemand weggeworfen hat, weiß ich nicht. Wer ihn für wen geschrieben hat, auch nicht. (An mich war er selbstverständlich nicht gerichtet: Ich habe gar kein Auto.) Aber man kann sich die Umstände gut vorstellen: Irgendjemand hat sein Kraftfahrzeug so abgestellt, das es anderen im weg steht, jemand anderes ärgert sich darüber, und um dem Ärger Luft zu machen, wird ein Blatt aus dem Kalender gerissen, beschrieben und hinter den Scheibenwischer geklemmt.
Was mich an dem Text anspricht, ist, dass er in seiner Schlichtheit, ja Banalität doch auf sehr grundsätzliche Weise allen ernsthaften Texten ähnelt, die je verfasst wurden. Alles, was nicht bloß in technischer Absicht oder für den raschen und folgenlosen Konsum geschrieben wird, entsteht nämlich wohl nach demselben Muster. Es gibt einen auslösenden Impuls — hier Wut; auch sonst nicht der schlechteste aller Gründe, um zu schreiben; es gibt eine Adressierung — die Texte immer haben, mag sie noch so diffus sein; und es gibt ein Moment der Reflexion auf Form und Inhalt — hier die Gänsefüßchen bei „normal“, was wohl anzeigen soll, dass die Formulierung bewusst gewählt wurde, um sich kurz und knapp verständlich zu machen, zugleich aber auch, dass die Wortwahl problematisch ist.
Mir gefällt der Text, weil er nicht einfach eine Feststellung trifft und sich auf eine nicht befolgte Regel beruft: „So können Sie hier nicht parken!“ Oder: „So wie Sie hier parken, das ist verboten!“ Vielmehr wird eine Frage formuliert, die implizit an die Selbstkritik des oder der Angesprochen appelliert. Allerdings ist wohl keine sinnvolle Antwort zu erwarten. Und auch darin gleicht der Zettel dem, was ich oben „ernsthafte Texte“ nannte: Der Verfasser wollte ihn unbedingt schreiben, war sich aber dabei der Vergeblichkeit seines Tuns bewusst. Mit nichttechnischen, nichtkommerziellen Texten erreicht man nichts. Der Zweck des Geschriebenen ist aber auch gar nicht eine Verhaltensänderung bei den Lesenden (denn die ist realistischerweise nicht zu erwarten), sondern das Geschriebensein selbst. Der Text soll existieren, weil das, was er besagt, gesagt sein soll. Weil es besser ist, dass es gesagt wird, als dass es ungesagt bleibt. Was dann daraus wird, liegt nicht mehr in der Verantwortung des Autors.
Im Fall des von mir gefundenen Zettels ist aus dem Text ein Anlass für einen weiteren Text geworden. Und das ist ja oft das beste, was einem Text passieren kann.

Donnerstag, 8. November 2012

Positive Wörter

Es gibt Texte, deren Lektüre lässt mich einmal mehr ahnen, dass ich die Welt nicht verstehe. Oder zumindest nicht verstehe, wie andere sie zu verstehen scheinen. „Kaffee verbessert positive Wahrnehmung“ lautet eine Überschrift in der FAZ. Und während ich noch rätsle, was denn wohl „negative Wahrnehmung“ sein könnte (Wegschauen?), lese ich weiter, und es kommt noch übler: „Einer Studie zufolge fallen positive Wörter schneller auf, wenn der Leser Kaffee getrunken hat. Die Forscher spekulieren nun über eine Verbindung von positiven Informationen und der linken Hirnhälfte.“ Was um Himmels willen sind „positive Wörter“?
Eigentlich pflege ich ja Artikel, in deren Einleitung Vokabeln wie „Information“ und „Hirnhälfte“ vorkommen, ab genau solchen Stellen nicht weiterzulesen, weil erfahrungsgemäß sowieso nur Quatsch drinstehen kann. Aber ich bin so fasziniert von dem für mich völlig nichtssagenden Ausdruck „positive Wörter“, dass ich zu gerne wissen möchte, was wohl damit gemeint ist. Ich kann es mir schlechterdings nicht vorstellen und könnte wohl selbst bei angestrengtestem Nachdenken nicht herausbekommen, was das denn sein soll.
Sind nicht alle Wörter, einfach weil es sie gibt, positiv, nämlich Gegebenheiten der Sprache? Und was wäre das Gegenteil eines positiven Worts? Etwas Ungesagtes? Wörter, mit denen man Negationen formuliert? Mit denen man Begriffe des Mangels bezeichnet? Rätselhaft.
Ich lese: „Forscher der Universität Bochum haben jetzt herausgefunden, dass Koffein die Wahrnehmung von positiven Begriffen in Texten verbessert. 66 Probanden sollten am Computerbildschirm echte Wörter von sinnlosen Begriffen unterscheiden. Dies klappte bei positiven Begriffen wie Flirt, Humor und Reichtum unter Koffeineinfluss deutlich besser als bei negativen oder neutralen Wörtern.“
Ach du liebe Zeit. Mal ganz abgesehen davon, dass hier offensichtlich „Begriff“ und „Wort“ fälschlich als verschiedene Ausdrücke desselben Begriffs gelten sollen: immerhin werden hier drei Beispiele gegeben — Flirt, Humor, Reichtum. Das also sind positive Wörter? Na, ich weiß nicht. Gibt es denn, diesseits abstrakter Analysen, derlei überhaupt: einzelne Wörter? Oder haben Wörter Bedeutungen nicht immer nur in (möglichen) Sätzen? Und Sätze in Situationen? „Das ist ein Flirt der CDU mit dem rechten Rand.“ „Sein ätzender Humor pflegt seine Freunde zu vergraulen.“ „Ihr Reichtum gründet auf der Ausbeutung ihrer Mitarbeiterinnen.“ Positive Wörter? Hm.
Ich verlasse die Seiten der FAZ und google. Da muss doch mehr herauszubekommen sein. Ich finde aber bloß noch irgendwo „Szene“ als neutrales Wort angegeben und „Schleim“ als negatives. Auch nicht sehr aussagekräftig. Es hilft nichts, ich muss „Plos One“ aufrufen, die Online-Fachzeitschrift in der der Herr Kuchinke und Frau Lux ihre Studie publiziert haben sollen. (Übrigens: Ist Bochum ein positives, neutrales oder negatives Wort?)
Oh weh. So wichtig ist mir die Angelegenheit auch wieder nicht, dass ich jetzt das ganze Gebrabbel durchlese. Ich überfliege ein paar Absätze und entdecke einen Verweis auf eine „Berlin Affective Word List“. Das klingt doch informativ, das sehe ich mir an. Aber wie zu erwarten: Es handelt sich wieder um einen Text, dessen gründliche Lektüre ich mir sicher nicht antun will. Schon gar nicht, wenn ich im ersten Absatz lesen darf: „Picture yourself lying on a pristine beach listening to the waves rolling in. You probably have positive emotions.“ Nein. Ich hasse Strände und das Meer geht mir auf die Nerven. (Ein Minderheitsvotum, ich weiß.)
Immerhin meine ich aber doch noch herauszubekommen, dass es um eine „valence“ geht, die von „pleasant“ bis „unpleasant“ reicht. Na, Psychologie ist aber einfach. Warum hab ich nicht sowas studiert, sondern Philosophie? Hätte mir Jahrzehnte des Nachdenkens erspart. Eine echt Liste mit Wörtern entdecke ich allerdings nicht. Egal, mir schwant schon, wie der Hase laufen soll.
Mit „positiv“ ist wohl gemeint: mit angenehmen Assoziationen verbunden. Aha. Und was einem gefällt, erkennt man eher und merkt es sich besser. Soso. Was Sie nicht sagen. Weil ich persönlich aber nicht daran glaube, dass Assoziationen und affektive Besetzungen immer bei allen gleich sind (und es gar nicht sein können) — meine von den Bildern der Werbeindustrie und den Urlaubssehnsüchten meiner Mitmenschen deutlich abweichende Einstellung zu Sonne, Strand und Palmen ist mir dafür ein Beleg unter vielen —, scheint mir der Aufwand, auf der Grundlage ungenauer Begriffe, aber mit viel „wissenschaftlichem“ Getue, in einer vorweg zurechtgelegten Empirie herumzustochern, in keinem Verhältnis zum Erkenntnisgewinn zu stehen, sondern bloß aufgemotzte Kaffeesatzleserei zu sein. Und die lehne ich als passionierter Teetrinker ab.

Aufgeschnappt (bei einem Multimilliardär)

We should have a revolution in this country!


Donald Trump (Wähler)

Sonntag, 4. November 2012

Huch, wo sind die Schwuchteln hin (3): Zahlen und Antworten

Identifizieren Sie persönlich sich selbst als lesbisch, schwul, bisexuell oder transgender? Was für eine merkwürdige Frage. Was soll man drauf antworten? Was sind das überhaupt für Kategorien? Niemand ist doch lesbisch und schwul und bisexuell. Und wer „transgender“ oder — der Begriff fehlt hier, wird aber sonst oft der Aufreihung angefügt — „intersexuell“ ist oder zu sein meint, kann ebenso gut heterosexuell wie homosexuell oder bisexuell oder asexuell sein (oder auf Sex mit Tier stehen oder mit leblosen Gegenständen oder …). Warum wird hier Identität mit Orientierung durcheinandergebracht? Und was ist mit der möglicherweise recht diversifizierten Praxis? Was mit den Offenheiten und Widersprüchen, den Veränderungen und Zielen?
Die die merkwürdige Frage haben stellen lassen, haben zugegeben, dass deshalb so und nicht anders gefragt wurde, weil die Vierfaltigkeit von LGBT „commonly used in current American discourse“, also gängig im gegenwärtigen amerikanischen Diskurs sei. Oben habe ich denselben Ausdruck mit „üblicherweise in der aktuellen amerikanischen Diskussion verwendet“ übersetzt, hier kommt es mir darauf an, das Augenmerk auf die Diskurs genannte Verbindung von Macht und Wissen, aus das den wahrheitsproduzierenden Effekt diskursiver Praktiken zu richten.
Man erhält nämlich eine ganz andere „Wahrheit“ je nach dem, ob man fragt, was jemand tut oder tun will, um daraus (wie zuverlässig oder unzuverlässig auch immer) auf sein Sein zu schließen, oder ob man eine Selbstidentifizierung in engem Begriffsrahmen abfragt. Ostentativ hat die Gallup-Umfrage auf die Erhebung von Präferenzen und Praktiken verzichtet und (von einer Frage nach der Selbsteinschätzung der wirtschaftlichen Zukunft abgesehen) lediglich Seinskategorien ermittelt: Alter, Geschlecht, „Rasse“, Einkommensklasse, Bildungsschicht — und eben auch „sexuelle Identität“. Damit fällt ihr Erkenntniswert weit hinter alle sexualwissenschaftlichen Studien seit Kinsey zurück.
Wer nämlich auf die Frage, ob er sich selbst als LBGT identifiziere, mit Ja antwortet, sagt im Grunde nichts über sein Sexualleben aus, geschweige denn über seine Wünsche und Möglichkeiten, sondern akzeptiert schlicht die Zugehörigkeit zu einer imaginären „community“. Statt aber selbstgewähltes Kürzel eines „strategischen Essenzialismus“ zu sein — man nennt sich „schwul“, um zu markieren, dass man auf eine noch näher zu bestimmende Weise von der Heteronorm abweicht —, wird das Etikett LBGT so zu einer identitätspolitischen Selbstverpflichtung auf ein bestimmtes Bild, das andere (und durch diese das sich so identifizierende Subjekt selbst) davon haben, was es heißt, ausdrücklich nicht oder nicht richtig heterosexuell zu sein.
Niemand aber „ist“ LBGT und niemand kann es sein. Wer diese Identität zu haben meint, verwechselt sein ureigenstes Selbstsein mit einer sozial verordneten „Individualität“. Es gibt gute Gründe für diese Verwechslung. Um sich selbst zu verstehen und anderen verständlich zu machen, muss jedes Subjekt auf ihm eigentlich unangemessene, weil zu allgemeine Kategorien zurückgreifen. Das ist nicht weiter schlimm, sofern der Prozess der Verständigung nicht stehen bleibt, sondern fortschreitet. Diskursive Praktiken aber, denen es bloß um handhabbare Etikettierungen zu tun ist, stellen das Verstehen still. Sie simulieren ein Verständnis, das freilich ein Verstehen von nahezu nichts, da in Wahrheit kein lebender Mensch mit seiner „Identität“ identisch ist.
Die Schwulenfeinde* reiben sich also etwas zu früh die Hände. Es stimmt, der von Gallup erfragte Wert von 3,4 % der US-amerikanischen Bevölkerung, die sich als lesbisch, schwul, bisexuell oder transgender ist erstaunlich gering, geringer jedenfalls als die meisten früher erhobenen oder geschätzten Zahlen von homosexuell betätigenden Menschen. Das bedeutet aber nicht, dass es weniger „Lesben“, „Schwule“, „Bisexuelle“ (und „Transgender-Personen“) gibt, als bisher angenommen, sondern nur, dass zwischen der Zwangsidentität „LBGT“ — und der auf ihr angeblich beruhenden „community“ samt ihren selbsternannten Repräsentanten — und dem wirklichen Leben nur ein ziemlich loser Zusammenhang besteht.
Es bedeutet aber auch, dass die vorherrschende Identitätspolitik ins Leere läuft. So zu tun, als seien LBGT (oder LBGTI*Q) eine Gruppe, ein Stamm, eine Ethnie oder wenigsten ein Bevölkerungsteil wie Mormonen oder Juden, Irischstämmige oder „Schwarze“, Linkshänder oder Legastheniker, war von Anfang an verfehlt. Indem man sich an Feminismus und Bürgerrechtsbewegung orientierte, konstruiert man ein Subjekt, das den „Frauen“ oder den „Afro-Amerikanern“ zu korrespondieren hatte und dessen Befreiung oder Emanzipation man anstrebte, auch wenn man am Ende nicht mehr wusste, in was anderem diese bestehen sollte als in der Integration in die ansonsten unverändert weiterbestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse.
Der für europäische Aufbrüche so wichtige (wenn auch letztlich wirkungslose) Gedanke einer Veränderung der Gesellschaft als ganzer ging im amerikanischen Modell der konsumistisch-hedonistischen Nischenexistenz völlig verloren. Man kümmerte sich darum, die Homosexuellen zu „befreien“, das heißt: sie zu gleichberechtigten Marktteilnehmern zu machen, statt die Homosexualitäten zu befreien, das heißt: die außerhalb (und in Wahrheit letztlich auch innerhalb) des Homosexuellseins der Homosexuellen unangetastet bleibende hegemoniale Heterosexualität in Frage zu stellen und, wo möglich, zu bekämpfen.
Man tat, dem amerikanischen Modell folgend, was andere Sondergruppen auch tun, man wählte Parade und Flagge, um sich „sichtbar“ zu machen, also einschätzbar, zuordenbar, ungefährlich. Was den Irischstämmigen ihr St Patrick’s Day, ist den LGBTI*Q ihr Christopher Street Day, und zeigen jene Grün, so diese den Regenbogen. Schwul oder lesbisch zu sein hörte, nach einem kurzen Moment revolutionärer Gestimmtheit, auf, ein Anspruch zu sein — nämlich einer nicht bloß auf individuelles oder paarweises Glück, sondern auf Gerechtigkeit und Freiheit für alle und jeden —, und wurde zur Identität. Darin nicht prinzipiell unterschieden von Veganertum oder der Vorliebe für country music.
Damit wurde aber, ein scheinbar paradoxer Effekt, diese Marke für alle diejenigen uninteressant oder gar abstoßend, die zwar gleichgeschlechtliche Erfahrungen haben oder haben wollen, aber nicht willens sind, sich deswegen mit der Vorgabe, wie man als LGBT-Person gefälligst zu sein hat, zu identifizieren, die sich also nicht wiederkennen in den lesbischundschwulenundsoweiter Repräsentationen der Regenbogengemeinschaft und die deshalb den Schritt nicht machen, der als obligatorisch gilt, um etwas anderes als heterosexuell sein zu dürfen: Raus aus dem Schrank und rein in die Homonormativität.
Am Rande sei vermerkt, dass sexualwissenschaftliche Studien darauf hinweisen, dass unter Jugendlichen, die früher doch als besonders wenig festgelegt und offen für Selbsterfahrung galten, homosexuelle Aktivitäten (wie übrigens auch Masturbation) auf dem Rückzug sind. und das in einer sich als immer liberaler, immer toleranter, immer permissiver verstehenden Gesellschaft! Doch die Erklärung liegt nahe: In demselben Maße, in dem Homosexualität erlaubt, aber an die Selbstbestimmung als Homosexueller gebunden wird, wird sie für die meisten zur Unmöglichkeit. Der eine oder andere Jugendliche würde wohl ganz gern mit seinem Kumpel rummachen, aber schwul, nein, schwul ist er selbstverständlich nicht. Es ist okay, wenn du schwul bist, lautet die Drohbotschaft, aber dann sei es auch gefälligst. Homosexualität auf das Homosexuellsein der Homosexuellen zu reduzieren, hat also den gewünschten Effekt der Beschränkung durch Ab- und Ausgrenzung.
Die 3,4 % der erwachsenen US-amerikanischen Bevölkerung jedenfalls, die bei der Gallup-Umfrage angaben, sich als lesbisch, schwul, bisexuell oder transgender zu identifizieren, sind nicht oder nur zum Teil die, die jemand wie ich meint, wenn er von Schwulen (oder Schwulen und Lesben) spricht. Die sind nämlich noch viel weniger. Und so soll es auch sein. Die sind nämlich gar nicht abzählbar. Schwulsein ist nicht messbar. Und umgekehrt gilt: Was abzählbar und messbar ist, hat mit Homosexualität, wie ich alte Emanzipationsschwuchtel sie verstehe, nichts zu tun.

Den ersten und den zweiten Teil dieses Blog-Eintrages kann man hier und hier nachlesen.
 

* Etwa der Family Research Council, der auf seiner Website mitteilt: When Gallup asked people to estimate how many Americans were homosexual in 2011, most guessed 25%. Turns out, they were about 22% off. The actual number, Gallup reports today, is about 3.4%—a startling statistic for most people who just naturally assumed the media saturation was driven by a big population. (…) For years, these 3.4% have seemed to enjoy 100% accommodation. As a community, they’ve gone out of their way to demand special treatment—even trampling the freedom and values of the other 97% to secure it.