Dienstag, 15. März 2022

Nach fast drei Wochen

X. sagt, er verstehe nicht, warum die Ukrainer sterben wollten. Ich sage, er meine wohl, er verstehe nicht, warum sie kämpfen wollten. Warum sie mit der Waffe in der Hand (und auch mit bloßen Händen, wie man zuweilen sah, als sie Panzer stoppten) ihr Land, ihre Landsleute, ihre Angehörigen, ihre Freiheit, ihre Würde, ihr Recht auf Eigenständigkeit, Unabhängigkeit, Selbstbestimmung verteidigen. Warum sie einem brutalen, mörderischen Aggressor ihren unbedingten Willen zum Widerstand entgegensetzen. X. wäre es wohl lieber, meine ich, die Ukrainer würden sich unterwerfen. Russland greift an, und sofort halten alle die Hände hoch und kreischen: Bitte herrsche über uns, mächtiger Zar! Vielleicht hat sich Putin das wirklich so vorgestellt. Aber da kannte er, wie X., die Ukrainer schlecht. Lieber sterben sie, als sich kampflos der Tyrannei zu überlassen. Und das ist bewundernswert. Ein Störfaktor der internationalen Politik, und schon darum bewundernswert.
 
Y. redet von Geopolitik, von Sichterheitsinteressen und aggressiver Osterweiterung. Ich werde ungehalten und sage, dass ich mit solchem Geschwätz nichts anfangen könne. Geopolitik sei doch nur ein pseudogelehrter Ausdruck für das Recht des Stärken. Als ob Imperien durch ihre bloße Existenz das Recht hätten, sich ihre Nachbarn zu unterwerfen, sie zu unterdrücken und auszubeuten. Als ob es solche Imperien überhaupt von Natur aus geben müsse. Und wessen Sicherheit sei denn je bedroht worden? Wie kommt man darauf, der NATO zu unterstellen, sie habe vor, Russland anzugreifen? War es nicht vielmehr immer wieder Russland, das seine Nachbarn angriff? Selbstverständlich wollten die jungen Demokratien des ehemaligen Ostblocks und der Sowjetunion unbedingt einem starken Verteidigungsbündnis angehören, sie hatten ja ihre historische Erfahrung, was es heißt, überfallen und unterdrückt zu werden. Immer war Russland (oder die Sowjetunion) der Aggressor, Polen hat es dreimal geteilt und weitere zweimal überfallen, Litauen, Lettland, Estland wurden ihrer nach Jahrhunderten der russischen Herrschaft endlich erlangten Unabhängigkeit zweimal beraubt und mussten 40 Jahre als Sowjetrepubliken dahinvegetieren. Dass die unabhängige Ukraine nicht schon 1991 NATO-Mitglied wurde, war ein schwerer Fehler und geschah schon aus falscher Rücksicht auf den bösartigen Nachbarn.

Z. sagt, der Krieg sei militärisch nicht zu gewinnen, es müsse zu einer diplomatischen Lösung kommen. Ich sage, ich wüsste nicht, worin eine solche bestehen solle, wenn nicht in einem Teilsieg Putins. Was gäbe es denn zu verhandeln? Soll man Putin sagen: Zieh deine Truppen zurück, und das macht er dann? Und verspricht, es nie wieder zu tun? Man müsse Putin zwingen, sagt Z. Womit denn? Putin agiert nicht rational und hält sich nicht an Vereinbarungen. Er versteht nur die Sprache der Gewalt. Ihm müssen Grenzen aufgezeigt werden: So nicht, du Verbrecher! Diplomatie sei gut und schön, sage ich, aber was es jetzt vor allem brauche, sei militärische Unterstützung der Ukraine, auch direkt, etwa durch eine Flugverbotszone, die von der NATO durchgesetzt würde, wohldosiert und riskant, aber notwendig, dazu strikte und umfassende ökonomische Sanktionen. Irgendwelche Zugeständnisse wie etwa „Neutralität“ und „Demilitarisierung“ der Ukraine, gar die Anerkennung der Annexion der Krim und der ostukrainischen Folterrepubliken, wären fatale Signale. Dann hätte Putin etwas erreicht mit seinen Kriegsverbrechen. Das kann doch vernünftigerweise niemand wollen. Das wäre eine Einladung an alle Diktatoren, es ähnlich zu machen. Ganz abgesehen davon, wie völlig widerwärtig es wäre, die Ukrainerinnen und Ukrainer im Stich zu lassen, ihren Wunsch, Teil des Westens zu sein zu ignorieren und sie einfach auf dem Altar einer ekelhaften „Geopolitik“ zu opfern. Die Ukraine hat dasselbe Recht, eine liberale Demokratie zu sein und über ihre Wirtschafts-, Außen- und Sicherheitspolitik eigenständig zu bestimmen wie irgendein westliches Land. Über die Köpfe der Ukrainerinnen und Ukrainer hinweg zu bestimmen: So, ihr gehört jetzt wieder zur russischen Einflusszone, wäre gigantisches Unrecht.

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