Heute wäre sein Geburtstag. Sein siebenundfünfzigster, wenn ich mich richtig erinnere. Aber er ist ja schon zweiunddreißig Jahre tot. Schwerer, selbstverschuldeter Autounfall, ein paar Tage im Koma, dann Exitus. Wir alle, seine Freunde und Studienkollegen, waren damals schwer getroffen. Nach dem Begräbnis saßen wir im Kaffeehaus und redeten. Noch wochenlang redeten wir, um das Unfassbare zu fassen. Immer wieder fielen dabei Sätze wie: „Er ist nicht tot, solange wir an ihn denken. In unseren Erinnerungen lebt er weiter.“ Und ich weiß noch, ich dachte mir: „Scheiße, das ist nicht genug.“
Nein, das war überhaupt nicht genug. Bei weitem nicht. Ich war in ihn verliebt gewesen. Sehr sogar. Selbstverständlich hatte ich ihm nichts davon gesagt. Das hätte ich nicht über mich gebracht. Und niemand hätte etwas davon gehabt, er hatte ja eine Freundin, stand nicht auf Männer. Ich hatte mich also damit begnügt, ihn heimlich anzuhimmeln und mich zu freuen, wenn wir miteinander Zeit verbrachten, etwa nebeneinander im Hörsaal saßen oder im Kaffeehaus diskutierten oder mit anderen aufs Land fuhren.
Sein Tod traf mich bis ins Mark. Zum ersten Mal starb ein Mensch, den ich geliebt hatte. Nicht wie man als Kind seine Oma liebt, die dann stirbt und die man sehr vermisst. Sondern er starb, und durch die Welt ging ein Riss, durch mich ging ein Riss. Es war fast unerträglich. Wie sollte ich danach weiterleben?
Und dann eben dieser falsche Trost, den die anderen sich und einander zusprachen. „In unseren Erinnerungen lebt er weiter. Er ist nicht tot, solange wir an ihn denken.“ Auch das war unerträglich. Soll das heißen, wenn wir uns nicht mehr erinnern, wenn keiner mehr an ihn denkt, gibt es ihn nicht mehr? Was ist das für ein ausgedachtes Weiterleben, das von so etwas unsicherem und vergänglichen wie Erinnerung abhängt?
Mir war das nicht genug. Nicht einmal ansatzweise. Ich begriff, dass ich mehr brauchte, viel mehr. Ich begriff, dass ich, wie schwach mein Glaube auch ansonsten sein mochte, an ein Leben nach dem Tode glauben musste, dass es also Gott geben musste, damit es ein solches wirkliches Weiterleben geben konnte. Selber weiterzuexistieren, und zu glauben, er existiert nicht mehr, das war inakzeptabel. Es war etwas, das ich, ich in jeder Hinsicht meiner Existenz, ablehnte: physisch, psychisch und intellektuell. Ich begriff, dass ich nicht anders konnte, als an Gott und die Unsterblichkeit der Seele zu glauben,
Ich konnte nicht anders, das heißt nicht: Ich musste mir etwas einreden, um das Unerträgliche auszuhalten. Ich studierte ja Philosophie und Theologie, und war mir selbst und allen „Wahrheiten“ gegenüber kritisch genug, denke ich, um es zu durchschauen, wenn ich mir bloß irgendwas zurechtgelegt hätte, irgendeinen billigen Realitätsersatz.
Nein, die Notwendigkeit des Daseins Gottes und des Lebens nach dem Tode war keine Idee, sondern eine existenzielle Erfahrung. Keine, die jemand anderer auch machen muss, aber eine, die jeder machen könnte, der liebt. Jemande zu lieben heißt doch, das Dasein des anderen ganz und gar zu bejahen, unbedingt zu wollen, dass es ihn gibt. Dass es ihn angeblich nicht mehr gäbe, ist nicht hinnehmbar. Wahre Liebe will Ewigkeit. Der Tod kann nicht das letzte Wort sein. Billiger Trost kann nicht das letzte Wort sein. Irgendwelche komischen Ideen von Weiterleben in der erinnerung oder Rückkehr in eine Weltseele und Wiedergeburt als Wasweißich können nicht das letzte Wort sein.
Das letzte Wort muss sein: Er lebt. Das glaube ich. Ich weiß nicht genau, was das heißt. Es gibt dazu Lehren, und ich habe keine Einwände gegen sie. Himmel, Fegefeuer, Hölle, das klingt doch recht plausibel. Jedenfalls für mich. Jeder bekommt, was er sich mit seinem Tun und Lassen aussucht: das Gute, das Ungute und dazwischen die Möglichkeit der Läuterung. Wie auch immer. Entscheidend ist: Es gibt ihn, es gibt ihn immer noch, er lebt, auch wenn er gestorben ist. Das ist wichtiger, als dass es mich gibt. Ich liebe ihn immer noch. Ohne ihn wäre alles völlig sinnlos. Er lebt. Und darum schreibe ich das hier an seinem Geburtstag und nicht an seinem Todestag. Um sein Leben zu feiern, das ich ein paar Monate lang ein bisschen begleiten durfte, was ich mein Leben lang nicht vergessen werde, weil es mich glücklich machte. Ihm begegnet zu sein, ihn gekannt, ihn geliebt zu haben, war ein Geschenk. Wie also sollte ich nicht auf jenes andere Geschenk hoffen: ihn wiederzusehen.
Sein Tod traf mich bis ins Mark. Zum ersten Mal starb ein Mensch, den ich geliebt hatte. Nicht wie man als Kind seine Oma liebt, die dann stirbt und die man sehr vermisst. Sondern er starb, und durch die Welt ging ein Riss, durch mich ging ein Riss. Es war fast unerträglich. Wie sollte ich danach weiterleben?
Und dann eben dieser falsche Trost, den die anderen sich und einander zusprachen. „In unseren Erinnerungen lebt er weiter. Er ist nicht tot, solange wir an ihn denken.“ Auch das war unerträglich. Soll das heißen, wenn wir uns nicht mehr erinnern, wenn keiner mehr an ihn denkt, gibt es ihn nicht mehr? Was ist das für ein ausgedachtes Weiterleben, das von so etwas unsicherem und vergänglichen wie Erinnerung abhängt?
Mir war das nicht genug. Nicht einmal ansatzweise. Ich begriff, dass ich mehr brauchte, viel mehr. Ich begriff, dass ich, wie schwach mein Glaube auch ansonsten sein mochte, an ein Leben nach dem Tode glauben musste, dass es also Gott geben musste, damit es ein solches wirkliches Weiterleben geben konnte. Selber weiterzuexistieren, und zu glauben, er existiert nicht mehr, das war inakzeptabel. Es war etwas, das ich, ich in jeder Hinsicht meiner Existenz, ablehnte: physisch, psychisch und intellektuell. Ich begriff, dass ich nicht anders konnte, als an Gott und die Unsterblichkeit der Seele zu glauben,
Ich konnte nicht anders, das heißt nicht: Ich musste mir etwas einreden, um das Unerträgliche auszuhalten. Ich studierte ja Philosophie und Theologie, und war mir selbst und allen „Wahrheiten“ gegenüber kritisch genug, denke ich, um es zu durchschauen, wenn ich mir bloß irgendwas zurechtgelegt hätte, irgendeinen billigen Realitätsersatz.
Nein, die Notwendigkeit des Daseins Gottes und des Lebens nach dem Tode war keine Idee, sondern eine existenzielle Erfahrung. Keine, die jemand anderer auch machen muss, aber eine, die jeder machen könnte, der liebt. Jemande zu lieben heißt doch, das Dasein des anderen ganz und gar zu bejahen, unbedingt zu wollen, dass es ihn gibt. Dass es ihn angeblich nicht mehr gäbe, ist nicht hinnehmbar. Wahre Liebe will Ewigkeit. Der Tod kann nicht das letzte Wort sein. Billiger Trost kann nicht das letzte Wort sein. Irgendwelche komischen Ideen von Weiterleben in der erinnerung oder Rückkehr in eine Weltseele und Wiedergeburt als Wasweißich können nicht das letzte Wort sein.
Das letzte Wort muss sein: Er lebt. Das glaube ich. Ich weiß nicht genau, was das heißt. Es gibt dazu Lehren, und ich habe keine Einwände gegen sie. Himmel, Fegefeuer, Hölle, das klingt doch recht plausibel. Jedenfalls für mich. Jeder bekommt, was er sich mit seinem Tun und Lassen aussucht: das Gute, das Ungute und dazwischen die Möglichkeit der Läuterung. Wie auch immer. Entscheidend ist: Es gibt ihn, es gibt ihn immer noch, er lebt, auch wenn er gestorben ist. Das ist wichtiger, als dass es mich gibt. Ich liebe ihn immer noch. Ohne ihn wäre alles völlig sinnlos. Er lebt. Und darum schreibe ich das hier an seinem Geburtstag und nicht an seinem Todestag. Um sein Leben zu feiern, das ich ein paar Monate lang ein bisschen begleiten durfte, was ich mein Leben lang nicht vergessen werde, weil es mich glücklich machte. Ihm begegnet zu sein, ihn gekannt, ihn geliebt zu haben, war ein Geschenk. Wie also sollte ich nicht auf jenes andere Geschenk hoffen: ihn wiederzusehen.
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