Freitag, 4. Dezember 2020

Luxusproblem „Rassismus“

Die bundesdeutsche Verfassung mit dem dauerprovisorischen Namen „Grundgesetz“ ist ein Text, auf den man sich von allen Seiten her gern beruft. Die „Werte des Grundgesetzes“ sind ein politpolemischer Dauerbrenner, den man jedem um die Ohren hauen kann, dessen Ansichten einem nicht gefallen. Der Wortlaut des Gesetztes freilich ist nie von Dauer gewesen, sondern wurde an zahlreichen Stellen zigmal umgeschrieben. Was das mit den „Werten“ macht, wird freilich nie erörtert.
Ein gutes Beispiel ist der Grundrechtsartikel 16, dessen zweiter Absatz bei Inkraftreten 1949 lautete: „Kein Deutscher darf an das Ausland ausgeliefert werden. Politisch verfolgte genießen Asylrecht.“ Den zweiten Satz tilgte man 1993 und fügte stattdessen den Artikel 16a ein, wo es im ersten Absatz zwar auch heißt: „Politisch verfolgte genießen Asylrecht“, aber dann folgen vier weitere Absätze, die festlegen, warum eigentlich doch nicht.
Wenn eine Verfassung die an sie Gebundenen darauf verpflichtet, politisch Verfolgten Asyl zu gewähren, dann ist das viel wert. Wenn man allerdings eine solche Bestimmung einfach aushöhlen kann und ihre Anwendung zum Gegenstand bürokratischen Geschachers macht, was ist dann noch der Wert von Grundrechten überhaupt?
Seit einiger Zeit möchten manche wieder am Grundgesetz herumschreiben. Es geht dabei um den dritten Ansatz von Artikel 3, der da lautet: „Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“
Einigen Schlaumeierinnen und Schlaumeiern ist daran vor einiger Zeit aufgefallen, dass es doch so etwas wie „Rasse“ gar nicht gibt ― also ist die Verwendung des Wortes „Rasse“ rassistisch! Das muss dringend geändert werden.
Komisch Logik. Wenn ich sage, niemand dürfe wegen seines Wolpertingerhaftigkeit benachteiligt oder bevorzugt werden, und es gibt gar keinen Wolpertinger, dann wird auch niemand deswegen benachteiligt oder bevorzugt, weil er oder sie oder es ein Wolpertinger ist, die von mir aufgestellte Norm ist somit eingehalten, wie sinnvoll oder unsinnig sie auch sein mag.
Wenn es kein Rassen gibt, wie man immer predigt, dann wird auch niemand wegen seiner Rasse benachteiligt oder bevorzugt, die Grundrechtsnorm ist somit eingehalten und hat niemandem geschadet.
Denn den Nachweis bleiben die Befürworterinnen und Befürworte der Streichung des Wortes „Rasse“ aus dem Grundgesetz erstaunlicherweise schuldig: Dass die bisherige Formulierung irgendwelchen Schaden angerichtet, etwa indem sie Rassismus gefördert hätte. Ach ja, man sieht es richtig vor sich, wie Neonazis johlend das Grundgesetz schwingen, wenn sie „fremdrassige“ Menschen durch deutsche Innenstädten hetzen …
Mit anderen Worten: Dass der Nachweis, dass das Wort „Rasse“ im Grundgesetz je Unheil angerichtet hätte, nicht erbracht wird, ist selbstverständlich ganz und gar nicht erstaunlich, denn das Gegenteil ist der Fall: Nach allem, was bekannt ist, kam niemand je durch das Wörtchen Rasse in Art. 3, Abs. 3 GG zu Schaden.
Die Rasse-Hasserinnen und Rasse-Hasser berufen sich aber auch gar nicht auf eine unrechte Wirksamkeit der Rechtsnorm, sondern bloß darauf, dass „Rasse“ ein falscher Begriff sei. Denn so etwas wie Rassen gebe es im biologischen Sinne gar nicht. Das mag sein, wie es wolle, aber im Grundgesetz steht von biologischer Rasse auch nichts, da steht nur Rasse. Warum muss man damit etwas Biologisches meinen?
Die Änderungswilligen verwenden ja, kommt mir vor, selbst gern die Ausdrücke „schwarz“ und „weiß“, auf Menschen angewandt. Das sind gewiss keine biologischen, sondern soziokulturelle Kategorien. Aber bezeichnen sie als solche nicht genau das, was das Grundgesetz meint, wenn es Benachteiligung und Bevorzugung verbietet: Dass alle Menschen gleich sind, egal, welche „rassischen“ Zuschreibung in soziale und kultureller Hinsicht gemacht werden?
Nein, heißt es von Seiten der Formulierungsgegnerinnen und Gegner kategorisch, „Rasse“ werde im Deutschen (anders als „race“ im Englischen) immer und ausschließlich biologisch verstanden. Da fragt man sich doch: Wer legt das fest? Wer bestimmt, wie etwas verstanden wird und verstanden werden muss? Die Nazis beispielsweise, doch nun wirklich fanatische Biologisten, hoben stets hervor, dass „Rasse“ auch ein geistiger Begriff sei. Und wenn es darum ging, wer Jude ist und wer nicht, verließen sie sich nicht etwa auf körperliche Merkmale, sondern auf Ausweispapiere, Gemeindelisten und Grabsteine.
Zurück zur Gegenwart. Selbst wenn es so wäre ― das könnte man übrigens statistisch untersuchen ―, dass „Rasse“ oft, überwiegend oder fast immer als Biologisches verstanden würde, wer sagt, dass es so sein und so bleiben muss? Man sehe sich die Reihe der anderen Begriffe an: Geschlecht, Abstammung, Sprache, Heimat und Herkunft, Glauben, religiöse und politische Überzeugung. Nichts darunter, was notwendigerweise biologisch interpretiert werden muss ― man dächte denn bei Geschlecht nur an sexus und nicht auch an genus ―, ganz im Gegenteil, es sind lauter Begriffe, die sozialer Konstruktion unterliegen: Wie grenzt man eine Sprache von einer anderen ab? Bestimmt das sex das gender oder umgekehrt? Wer kommt von wo und stammt von wem ab? Was, wenn man zum Beispiel Kind eines Portugiesen und einer Finnin ist, in Kapstadt geboren und in Yokohama aufgewachsen? Kommt sicher eher selten vor, aber das Grundgesetz sagt: Egal, die Person darf sowieso nicht deswegen benachteiligt werden; also können es durchaus weiche Begriffe sein, bei denen jede vernünftige Deutung der Intention des Diskriminierungsverbotes entspricht.
Aber nein, sagen die, die das unerträgliche Unwort endlich aus der Verfassungsbestimmung raushaben wollen, „Rasse“ kann man nur so verstehen, wie wir sagen, dass sie immer und überall verstanden wird: streng biologisch. Spätestens jetzt sollte man die Frage stellen dürfen, wer eigentlich gewisse Leute zu Expertinnen und Experten in Sachen Rassismus, Ideengeschichte und Linguistik gemacht hat. Ist ihr überlegenes Wissen etwa angeboren? Gar genetisch verankert? Nein, natürlich nicht, wird es vermutlich heißen, sondern es handelt sich um „von Rassismus Betroffene“ (und deren Mitläuferinnen und Mitläufer).
Vielleicht ist da die mit aller gebotenen Vorsicht zu stellende Folgefrage erlaubt: Heißt von einer Sache betroffen zu sein, immer auch, diese Sache zu verstehen? Und zwar umfassend, durchdringend und zweifelsfrei, sogar in wissenschaftlich überprüfbarer Weise? Wer Krebs hat, wird dadurch nicht zum Onkologen, wer einen Verkehrsunfall hatte, nicht zum Verkehrsexperten und Unfallchirurgen, und wer wegen seines Aussehens oder der Deutung seines Reisepasses diskriminiert wurde, weiß darum noch lange nicht alles, was es über Rassismus zu wissen gibt.
Von „Rassismus betroffen“ (gewesen) zu sein, ist gewiss eine je nachdem mehr oder minder üble Sache und verdient durchaus Anteilnahme und respektvollen Umgang (wie das Wohl und Wehe jedes Menschen), es begründet für sich allein allerdings noch kein anderes Spezialwissen als das über die eigene Erfahrung und vielleicht ähnliche Erfahrungen, von den man erzählt bekommen hat oder die man beobachtet zu haben meint. Persönliche Erfahrung kann den Anlass und Antrieb bilden, sich Sachwissen zu verschaffen, aber sie ersetzt es nicht. Wie nicht nur die Lebenserfahrung, sondern auch wissenschaftliche Studien lehren, kann persönliche Erfahrung sogar die Realitätswahrnehmung verzerren und falsche Deutungen begünstigen.
Das heißt im Umkehrschluss selbstverständlich nicht, wer sich als „von Rassismus betroffene“ Person versteht, könne kein soziologisches, psychologisches, historisches oder philosophisches Wissen haben. Es geht schlicht darum, dass die Untersuchung dessen, was Rassimus ist und was rassistische Praxis bewirkt, unabhängig davon stattfinden muss, ob der oder die Untersuchende nun „weiß“, „Schwarz“ oder sonstwie zugeschriebermaßen und selbstverständnismäßigerweise gefärbt ist.
Benachteiligung oder Bevorzugung auf Grund der Zuordnung zu einer „Rasse“ ist eine ernste und sehr hässliche Sache. Das Thema sollte nicht für Symbolpolitik und symbolische Kapitalakkumulation missbraucht werden, nach dem Motto: Ich habe ein antirassistische Anliegen, und wer es nicht unterstützt, ist ein Rassist. Das ist pseudomoralische Erpressung und keine Argument.
Warum aber will ich Argumente und fühle mich unwohl, wenn ich eine „antirassistische“ Agenda zu bemerken meine, die de facto an Rassismen nichts ändert? Ich bin kein Bürger der BRD, mir kann es herzlich egal sein, was in deren Verfassung steht. Nicht egal ist mir aber, welche politischen Debatten geführt werden und wie. Mich interessiert sehr wohl, ob in einer reichen und mächtigen Gesellschaft Scheindebatten über eine völlig belanglose Wortwahl stattfinden. Oder ob, möglich wäre es doch, der strukturelle Rassismus der herrschenden Weltwirtschaftsordnung thematisiert wird, der sich die allermeisten Bürger und Bürgerinnen der BRD in kollektiver Komplizenschaft verbunden fühlen.
Zweifellos kann man, wenn „der Gesetzgeber“ es denn will, in der Verfassung ein Wort streichen oder ersetzen. Ob damit irgendetwas gewonnen ist (außer eine symbolpolitische Mehrwertabschöpfung), ist eine andere Frage. Dass damit nichts daran geändert ist, dass man ein System forciert, das auch und gerade in globalem Maßstab einige wenige Reiche immer reicher werden lässt und viel zu viele Arme der Ausbeutung und den Folgen von Umweltzerstörung und Ressourcenkriegen unterwirft und sie in jeder Hinsicht unwürdigen Verhältnissen zu leben zwingt, scheint mir offensichtlich. Das Missverhältnis zwischen reichen und armen Teilgesellschaften und Gesellschaftsteilen der Weltgesellschaft ist aber immer auch „rassisch“ markiert („diesen Leuten dort unten darf es schlecht gehen, damit es unseren Leuten hier oben gut geht“). Ob es nicht recht und billig und ethisch geboten wäre, daran etwas zu ändern, ist allerdings eine Frage, die beim Herumformulieren an Art. 3 GG anscheinend niemand stellen will.

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