Donnerstag, 13. April 2017

Bemerkung zur Pflicht zur Anerkennung selbstgewählter Identität

Wenn einer verkündet, er sei jetzt ein Baum oder eine Telefonzelle, dann muss ich ihm nicht unbedingt widersprechen, aber glauben muss ich ihm auch nicht. Schon gar nicht muss ich „seine Entscheidung respektieren“. Dabei geht's gar nicht einmal so sehr um das Konstrukt „Natur“ oder eine Entscheidung darüber, was jemand „eigentlich“ ist oder nicht ist, sondern darum, dass die Vorstellung, jeder müsse die Kategorien, denen andere ihn zuordnen müssen, selbst bestimmen dürfen, bescheuert ist. So funktioniert Gesellschaft nicht. So funktioniert Realität nicht.
Wenn X sagt, er sei in Wirklichkeit Y, dann mag das für ihn gelten (im Sinne von: irgendwie wahr sein), aber das verpflichtet mich nicht dazu, seine Überzeugung, wie ausgeprägt auch immer sie sich geben mag, zu teilen. Das wäre ja auch ein merkwürdiges Missverhältnis: Wieso sollte er ein unbedingtes Recht (zur Kategorienauswahl) und ich nur eine unbedingte Pflicht (zur Anerkennung seiner Wahl) haben? Habe ich nicht selbst auch ein Recht auf Wahrnehmung von Wirklichem und Feststellung von Wahrem? Auch dann, wenn der zur Rede stehende Gegenstand etwas Subjektives ist? Und zumal, wenn dieses Subjektive als etwas Objektives behauptet wird?
Gewiss ist es höflich und rücksichtsvoll, anderer Leute Lebensführung irgendwie hinzunehmen, sofern sie einen nicht betrifft. Daraus folgt aber nun wirklich keine Verpflichtung, alles, was jemand haben oder sein will, als legitimen Anspruch unterstützen zu müssen. Weder praktisch noch theoretisch.
Selbst wenn es ein Recht gäbe, die eigene „Identität“ frei zu wählen (was man wohl als strittig bezeichen dürfen wird), so ergibt sich daraus nicht notwendig meine Verpflichtung, diese Wahl anzuerkennen in dem Sinne, dass ich, was als Behauptung einer Wahrheit auftritt, als war bestätigen müsste. Wie jemand die Welt und sich selbst darin sieht, verpflichtet mich nicht, seine ontologischen und epistemologischen Voraussetzungen zu teilen. Im Gegenteil, wenn Kritik nicht mehr möglich sein soll, weil jede Behauptung über „eigentliche“ Wahrheit einfach hinzunehmen ist und nicht in Frage gestellt oder gar bestritten werden darf, besteht, praktisch gesehen, keinen Unterschied mehr zwischen Wahrheit und Unwahrheit.
Wenn es einen Vorteil konstruktivistischer Analyse gibt, dann doch wohl den, dass durch sie gewisse Unbedingtheiten in Frage gestellt werden können. Diskursiv hervorgebrachte Wahrheit ergibt nachweislich nur im gesellschaftlichen Kontext Sinn. Gerade darum sollte man nicht denselben Fehler wie die Verächter des Sozialkonstruktivismus machen, und aus der faktischen Konstruiertheit holterdipolter zum beliebig ausgestaltbaren Konstruieren übergehen. Ausgerechnet aus der gesellschaftlichen Bestimmtheit des Seins den unzulässigen Schluss zu ziehen, man könne jederzeit sein, was man wolle, und jeder müsse einem das bestätigen, ist essenzialistischer Infantilismus. Den lasse ich mir nicht aufnötigen, von keinem Baum und von keiner Telefonzelle.

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