Montag, 29. November 2010

Diplomatenpost, na und?

Darf das wahr sein? Ist die Überraschung deutscher Medien angesichts des jüngsten Wikileaks-Coups, der Veröffentlichung von US-amerikanischer Diplomatenpost, echt oder gespielt? Hat man in Deutschland wirklich geglaubt, bei Figuren wie Merkel, Seehofer, Westerwelle & Co. handle es sich um international respektierte Persönlichkeiten? Man kann doch nicht eine solche Gurkentruppe als Regierung installieren und dann so tun, als fielen deren Unzulänglichkeiten und Lächerlichkeiten nur deutsche Kabarettisten auf.
Selbstverständlich hält der US-Botschafter in Deutschland Kanzlerin Merkel für unkreativ, risikoscheu. Das tut doch jeder, der nüchtern ihre Politik betrachtet. Selbstverständlich gilt Guido „Es ist Deutschland hier“ Westerwelle als aggressiv und außenpolitisch inkompetent. Als was denn sonst?
Wenn die mediale Überraschung über die Enthüllungen nicht einfach gespielt ist,. um die Sensationslust zu befeuern, ist sie der perfekte Ausdruck dessen, was seit jeher ein nationales deutsches Problem ist: Man kommt mit Fremdwahrnehmungen nicht zurecht. Man glaubt stets, eigentlich müsse alle Welt „die Deutschen“ liebhaben, befürchtet dabei jedoch zugleich immer, sie täte es nicht. Irgendwo zwischen Überheblichkeit und Minderwertigkeitskomlex siedelt das deutsche Nationalgefühl und geht allen auf die Nerven.
Jedenfalls kann es im ernst niemanden überraschen, dass Diplomaten sich nicht diplomatisch verhalten, wenn sie mit ihrer eigenen Regierung korrespondieren, noch dazu, wie sie glauben durfte, hinter vorgehaltener Hand. Warum hätten sie dabei lügen sollen? Was sie sagten, konnte sich ohnehin jeder denken. Auch ohne sie im Detail zu kennen, war klar, wie die Einschätzungen aussehen, die der amerikanischen Außenpolitik zu Grunde liegen.
Die Enthüllungen von Amtsgeheimnissen durch Wikileaks sind darum eher sensationell als weltbewegend. Manche Einzelheiten mögen für Historiker relevant sein, die großen Züge bieten nichts Neues. (Diese Einschätzung beruht freilich, ich geb’s zu, wie bei den meisten, die darüber reden, auf weitgehender Unkenntnis der Dokumente und also Inforamtionen aus zweiter und dritter Hand. Wer liest schon 250.000 Berichte … Und noch ist ja auch erst ein Teil davo im Netz.) Dass die Saudis das iranische Regime hassen hat eigentlich ebenso wenig Nachrichtenwert wie die Labilität und Paranoia Karsais.
Das jetzt präsentierte Material unterscheidet sich also prinzipiell von den „Afghan war Diaries“ und den „Iraq War Logs“, mit denen Wikileaks früher Aufsehen erregt hatte. Während in den beiden anderen Fällen unter Verschluss gehaltene Dokumente ans Licht gebracht wurden, die in die Öffentlichkeit gehören, damit Regierungshandeln beurteilt werden kann, werden jetzt Selbstverständlichkeiten preisgegeben, die in der Öffentlichkeit nichts zu suchen haben, weil es Diplomaten erlaubt sein muss, ohne diplomatische Rücksichten und also unöffentlich ihre Regierungen zu informieren.
Vielleicht wollte Wikileaks aber einfach zeigen, dass es die US-Regierung gehörig in Schwierigkeiten bringen kann, nachdem diese ihrerseits Wikileaks wegen früherer Veröffentlichungen unter Druck zu setzen versuchte, wozu auch die Kampagne gegen Wikileaks-Sprecher Julian Assange (einschließlich des schwedischen Haftbefehls wegen „Vergewaltigung“) gehört.

Sonntag, 28. November 2010

Die Abschaffung des Advents

Es gibt keine Adventszeit mehr. Alles, was es noch gibt, ist die Vorweihnachtszeit, und die beginnt bekanntlich spätestens irgendwann im September, wenn in den Supermarktregalen die ersten Schokoladennikoläuse auftauchen. Mit Advent hat das aber nichts zu tun. An die Stelle einer besinnlichen, an das erste Kommen Christi erinnernden, sein zweites Kommen erwartenden und darum zu Reue und Buße mahnenden Zeit im Kirchennjahr ist eine Phase im kommerziellen Zyklus geworden. Kitsch und Konsum bestimmen den Stil. Fernab mehr oder minder alter religiöser Überlieferung hat sich ein eigene Mythologie herausgebildet, mit Elchen und Elfen, Weihnachtsmann und Sternenglanz, Schnee und Tannengrün. Eigentlich war die Adventszeit einmal eine Fastenzeit, ihre Farbe darum Violett (und Rosa am vorletzten Sonntag). Heute dominieren Rot und Grün, dazu Gold. So wird der Austausch auch farblich markiert.
Es geht allerdings immer noch darum, sich auf etwas vorzubereiten. Der 1839 erfundene Adventkranz mit seinen Kerzen (ursprünglich vier für die Sonntage und 19 für die Wochentage) und der noch jüngere Adventkalender mit seinen 24 Türchen (oder Säckchen oder dergleichen) haben nur den Sinn, die Zeit bis Weihnachten abzählbar zu machen. Eine Zeit, die heute für die meisten Menschen geistlich ebenso leer wie konsumistisch erfüllt ist. Mit dem ausstehenden Weihnachten assoziiert man wohl meist Sentimentales — und verdrängt dabei Feierstagsstreit und Stress —, mit der Vorweihnachtszeit aber Hektik und Rummel. Nicht nur, dass Geschenke gekauft werden müssen, auch anderes, wie etwa die Weihnachtsmärkte, die eben nur noch selten Adventmärkte heißen, fordert zum Geldausgeben auf.
Nach dem 24. Dezember ist es mit dem ganzen Zauber schlagartig vorbei. Jetzt, wo das Fest eigentlich erst beginnt und die Weihnachtszeit zu feiern wäre, will verständlicherweise niemand mehr Christbaumschmuck sehen und Weihnachtslieder hören. Zum Glück gibt’s Silvester, ein rein säkulares, durch nichts Geistliches belastetes Fest, das mit seiner Ausgelassenheit, mit Papierschlangen, Konfetti, Sekt und Tanzmusik wohl einen Vorgriff auf den Karneval darstellt. Das darauffolgende Fest der Erscheinung des Herrn am 6. Januar — in den östlichen Kirchen das eigentliche „Weihnachten“ — fällt nun allenfalls noch dadurch auf, dass mancherorts Sternsinger (und Sternsingerinnen!) durch die Gegend ziehen. Weihnachten aber, Feier der Geburt Christi, ist längst abgetan. Das ist nur konsequent. Wenn es keinen Weg mehr gibt, braucht es auch kein Ziel mehr zu geben, ohne Advent also auch kein Weihnachten.
Ach du liebe Zeit, was wird da die Wiederkunft Christi für eine Überraschung sein! Maranatha.

Samstag, 27. November 2010

Faszination des Schlechten

Dass es das wirklich gibt! Ich bin überwältigt und fasziniert. Seit einiger Zeit stoße ich beim zapping nachts auf irgendeinem Kommerzsender immer wieder auf die Reklame für CDs des Akkordeon-Duos „Die Kirmesmusikanten“. Ein erstaunliches Erlebnis. Schon mehrmals habe ich den Ton weggedreht und mit fassungslosem Blick auf den Bildschirm gestarrt. Das kann nicht wahr sein! Das ist irgendeine Parodie! Kalkofe oder Kerkeling oder sowas. Das gibt’s nicht wirklich! Und, wenn dann ist es unmöglich, dass das jemand gerne hören und sehen möchte.
Brrr! Es ist so grauslich, dass ich’s kaum beschreiben kann. Ein Mann und eine Frau. Beide völlig unnatürlich, aufgesetzt fröhlich, durchgeknallt. Hampeln und zappeln herum und halten sich Quetschkommoden vor den Leib, die sie bearbeiten, als wäre es zu knetender Teig. Sie hat etwas Pudelartiges auf dem Kopf, das hoffentlich eine Perücke ist, gern auch mit Blümchen darin. Dazu starres Lächeln in einfältig-totgeschminktem Gesicht. Er — ach, das geht nicht. Worte können das nicht fassen. Das muss man gesehen haben (etwa bei YouTube). Krauses Haar und Schnauzbart, irres Lächeln und unentwegtes Zucken: Solche Beschreibung gibt die schreckliche Wirklichkeit nicht annähernd wieder.
Ich habe selbstverständlich inzwischen recherchiert. „Die Kirmesmusikanten“ waren Henny van Voskuylen und Coby van Voskuylen-Mol. Niederländische Stars der „volkstümlichen Musik“. Waren überall dabei, wo den Leuten akustischer Dreck serviert wird, treten aber seit 2000 nicht mehr auf. Sie ist bereits verstorben.
Ich gebe zu, mir waren diese Gruselgestalten bisher völlig unbekannt. Erst einem Tiefpunkt des Werbefernsehens verdanke ich dieses unvergessliche visuelle Erlebnis. Und es gab und gibt Menschen, denen das gefällt? Un-vor-stell-bar. Passt nicht in mein Weltbild. So schlecht mag ich von niemandem denken. Und weil ich’s ja doch muss, weil ich die unerträgliche Realität doch irgendwie in meinen Verständnishorizont zu integrieren habe, kann ich nur meinem Pessimismus freien Lauf lassen und sagen: Eine Zivilisation, die derlei hervorbringt, zulässt und kultiviert, ist durch und durch verkommen und zu Recht dem Untergang geweiht.

Donnerstag, 25. November 2010

Kleiner Großer Bruder

Kauder? Welcher? Ach, der jüngere. Dass ausgerechnet der Vorsitzende des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages, Siegfried Kauder, sich jüngst dafür aussprach, bei Bedarf — nämlich bei „Terrorgefahr“ — die Pressefreiheit einzuschränken, ist schon ein starkes Stück. Selbst seinem älteren Bruder Volker ging solches verfassungsfeindliches Gebrabbel zu weit. Es handle sich da um eine Privatmeinung, nicht um die Aufassung der CDU/CSU-Fraktion, ließ er verlauten. Und: Die Pressefreiheit sei ein hohes Gut.
Sein kleiner Bruder hat da eine andere Messlatte: Sei die Gefährdungslage hoch, müssten die Medien dazu verpflichtet werden können, sich „zurückzuhalten“. „Wenn die Presse darüber berichtet, welche Orte besonders gefährdet sind, dann kann das unter Umständen ein Anreiz für Terroristen sein.“ Selbstverpflichtung der Medien oder gesetzliche Regelungen seien denkbar.
Die Logik, die da zum Maulkörble führen soll, erschließt sich allerdings nicht so recht. X plant einen Anschlag. Und weil Y darüber berichtet, führt X ihn durch? Sonst nicht? Bizarr.
In Wahrheit geht es selbstredend um anderes. Der Große Bruder Staat soll aufgerüstet werden. Vorratsdatenspeicherung, Bundeswehreinsatz im Inneren, Einschränkung der Pressefreiheit: Die Gelegenheit ist günstig, es hagelt Vorschläge. Je unsinniger, desto besser, denn indem man einiges für undurchführbar erklärt, kann man anderes umso eher durchsetzen. Der Bruderzwist im Hause Kauder, mag das geplant sein oder instinktiv in Szene gesetzt, ist also vor allem eines: ein Ablenkungsmanöver.

Schulmedizin vs. Homöopathie: Wissen durch Glauben

Je dürftiger die Argumentation, desto schriller die Rhetorik: „Rückfall ins Mittelalter“, „skurrile Heilslehre“, „unsinnige Reform“, „Humbug“, „Aberglaube“. Was aber ist es, das Markus Grill und Veronika Hackenbroch (Spiegel online, 25. November 2010) so aufregt, dass sie zu kreischen anfangen? „Die Homöopathie breitet sich unaufhaltsam an deutschen Hochschulen aus. An etlichen Universitätskliniken ist die Homöopathie inzwischen in der Krankenversorgung etabliert. Mehrere Stiftungsprofessuren verankern die skurrile Heilslehre im akademischen Forschungsbetrieb. Für Medizinstudenten sieht die neue Approbationsordnung die Homöopathie als Wahlpflichtfach vor.“ Welch ein Graus!
Die Homöopathie hat bekanntermaßen Befürworter und Gegner. Grill und Hackenbroch sind bekennendermaßen letzteres. Darum treibt es ihnen verbale Tränen der Wut in die Augen, dass nun sogar der Präsident der deutschen Bundesärztekammer, Jörg-Dietrich Hoppe, öffentlich eine stärkere Kombination von Schulmedizin und Alternativmedizin gefordert hat, weil er meint, dass zwar die Wirkung von homöopathischen Mitteln nicht naturwissenschaftlich belegbar, trotzdem aber die Homöopathie ein wichtiger Zweig in der Ausbildung von Ärzten geworden sei. Das scharfe Urteil der Spiegel-Experten: „So hat Deutschland einen Ärztepräsidenten, der sich immer weiter von den internationalen Standards der Medizin entfernt.“ Denn Hoppe vertritt angeblich Ungeheuerliches: „Wer hilft, hat recht. Selbst Voodoo-Medizin lehnt er nicht völlig ab.“ Untragbar, der Mann! Das geht doch nicht, einfach bloß den Menschen helfen wollen, statt sich an die Regeln korrekter Denkschemata zu halten.
Denn Hilfe hin oder her, Homöopathie ist nun einmal Mumpitz. „(Die) von Samuel Hahnemann vor 200 Jahren erfundene Heilslehre (gilt) wissenschaftlich längst als widerlegt. Hunderte Studien haben gezeigt: Ihre Grundprinzipien, nach denen Ähnliches mit Ähnlichem geheilt werden solle und sich die Wirkung eines Mittels durch Verdünnen steigere, sind Humbug. Alle berichteten Heilerfolge der Kügelchen liegen allein am Placeboeffekt.“ Mal abgesehen davon, dass die Etikettierung als Palceboeffekt nichts erklärt, weil dieser ja selbst etwas zu Erklärendes ist, werden Grill und Hackenbroch sich schon entscheiden müssen: Haben „hunderte“ Studien nun die Homöopathie „wissenschaftlich widerlegt“, oder gilt, wie sie auch schreiben: „Die meisten wissenschaftlichen Untersuchungen zur Homöopathie sind von beklagenswerter Qualität. Es geht dabei oft nicht darum, die Methode zu erforschen, sondern ihre Wirksamkeit mit allen Mitteln zu belegen.“
Was denn nun? Alles widerlegt oder alles belegt? Oder gibt es einfach solche Studien und solche? Dann kann man sich selbstverständlich damit behelfen, dass man Untersuchungen, deren Resultate nicht mag, für schlecht gemacht erklärt, denn nur wenn herauskommt, was man schon vorher gewusst hat, kann gut gearbeitet worden sein … — Im Übrigen: Was vor zweihundert Jahren erfunden wurde, kann schwerlich ein „Rückfall ins Mittelalter sein“, wie es schon die Artikelüberschrift behauptet. Da hätte irgendjemand in der Redaktion noch einmal nachrechnen sollen.
Was geifernde Schwätzer wie Grill und Hackenbroch nicht durchschauen, ist das eigentliche Problem: Nicht wahre Wissenschaft und dummer Aberglaube stehen einander gegenüber, sondern zwei verschiedene Glaubenssysteme.
Am Beispel der Homöopathie lässt sich das gut zeigen. Sie ist, wie andere „alternative“ Behandlungsmethoden auch, die offene Wunde der naturwissenschaftlich orientierten Schulmedizin. In diesem Zusammenhang gilt es zwei Tatsachen zu bedenken. Die eine ist, dass schulmedizinische Methoden keineswegs immer erfolgreich sind bzw. dass bestimmte Teilerfolge mit Risiken oder manifesten Schädigungen erkauft werden. Und die andere Tatsache ist, dass unzählige Menschen davon überzeugt sind, mit Homöpathie gut behandelt oder sogar geheilt worden zu sein.
Weil aber die homöopathischen Grundsätze nicht mit einem bestimmten doktrinären Verständnis moderne Naturwissenschaftlichkeit übereinstimmen, ist es ein wichtiges Anliegen der Schulmedizin, jede Wirksamkeit der Homöopathie zu leugnen oder wegzuerklären. Also entweder zu behaupten: Das kann nicht wirken. Oder: wenn es wirkt, liegt es an etwas anderem.
Ein Erklärungsmodell ist der schon erwähnte „Placeboeffekt“. Durch den aber, wie gesagt, eigentlich nichts erklärt wird. Dass unter bestimmten Bedingungen ein Medikament, das gar keines ist, dieselben oder doch sehr ähnliche Wirkungen hat wie ein anerkanntes Medikament, ist ein Phänomen, bei dessen Erklärung naturwissenschaftliches Denken an seine Grenzen stößt. Entweder man schiebt das Phänomen ab zur Psychosomatik, weil der Heilerfolg auf die besonders Zuwendung des Arztes zurückzuführen sei. Oder man sagt, das Scheinmittel wirke, weil die Leute daran glaubten, dass es wirke. Aber was erklärt das? Innerhalb des Modells von unaufhebbarer Naturgesetzlichkeit nichts. Wenn Krankheit und Gesundheit objektiv feststellbare Realitäten sind, kann ein subjektiver Glaubensakt doch eigentlich nichts an ihnen ändern. Kann er es doch, und vieles spricht dafür, müsste der naturwissenschaftliche Ansatz zumindest erweitert werden um eine Berücksichtigung des subjektiven Wohlbefinden des Patienten. Davon ist die real existierende Medizin jedoch größtenteils noch weit entfernt.
Im gewöhnlichen Medizinbetrieb ist der Patient als Person (ebenso wie seine Fragen stellenden Angehörigen) eine Störung. Seine Auskünfte sind ungenügend, sein Verhalten irrational, sein Erleben der Behandlung irrelevant. Er ist ein Organismus, der so und so funktioniert oder eben nicht funktioniert. Er ist ein Fall von dem und dem und als solcher beliebig und austauschbar. Allenfalls aus Konvention und in juristischer Hinsicht wird berücksichtigt, dass er ein Jemand und nicht bloß ein Etwas ist.
In solchem Klima kann die Homöpathie nur als schlechter Witz erscheinen. Es ist nämlich nicht nur die institutionelle Ökonomie, die für Alternatives keinen Raum lässt, sondern dessen vom herkömmlichen Weltbild abweichende Sicht der Dinge. Für Naturwissenschaftsgäubige kann es nur eine absurde Vorstellung sein, dass ein Wirkstoff, der in einer Lösung immer weniger und zuletzt gar nicht enthalten ist, dadurch „potenziert“ würde. Wenn in einem Präparat kein einziges Molekül des anfänglich vorhandenen Stoffes mehr vorkommt, dann kann dieser Stoff gar nicht wirken, ganz abgesehen davon, ob er in anderer Konzentration wirksam wäre oder nicht. Dass es Menschen gibt, die fest von der Wirksamkeit homöopathischer Dosen überzeugt sind, vermag von Anhängern des klassischen naturwissenschaftlichen Weltbildes nur mit Täuschung und Selbsttäuschung erklärt werden.
Hier stößt die Kommunizierbarkeit an eine Grenze. Es hat schlechterdings keinen Sinn, der Wirkung der Homöpathie mit naturwissenschaftlichen Mitteln auf die Spur kommen zu wollen, den insofern diese Mittel und die ihnen zu Grunde liegenden Denkweisen nun einmal sind, wie sie sind, kann dabei immer nur herauskommen, was man bereits wusste, dass es nämlich eine solche Wirkung materiell nicht geben kann. Scheint es sie doch zu geben, ist irgendwas Psychisches im Spiel.
Dem kontern Anhänger der Homoöpathie gern mit dem Heilerflog bei Tieren. Die wissen ja nicht, was ein Heilmittel ist, hegen darum keine Erwartungen und können sich nichts einreden. Allenfalls die Zuwendung durch den Behandelnden könnte in ihrer positiven Wirkung mit der bei Menschen vergleichbar sein; aber wenn Zuwendung genügte, könnte man Tiere stets mit Streicheln heilen …
Homöopathische Behandlung von Tieren ist darum den schulmedizinisch Orientierten ein besonderes Hassobjekt. Wieder und wieder leugnen sie jeden Heilerfolg (oder „erklären“ ihn durch Nichthomöopathisches). Es darf nicht sein, was nicht sein kann. Desungeachtet sind viele Menschen davon überzeugt, ihrem Haustier etwas Gutes zu tun, wenn sie es alternativmedizinisch behandeln oder behandeln lassen.
Letztlich hat es also wenig Sinn, pro-homöopathische und anti-homöopathische Studien miteinander verrechnen zu wollen. Selbstverständlich kann man Machart und Qualität vergleichen. Aber etwa Untersuchungen, die die Wirksamkeit von Homöopathie bei Mensch und Tier belegen, gerade deshalb als „unwissenschaftlich“ abzulehnen, ist zirkulär: X kann nicht sein, wer behauptet, dass X ist, lügt daher, also gibt es X nicht.
Schulmedizin und Homöopathie funktionieren somit wie Glaubenssysteme. Glaube ist stets die Voraussetzung von Wissen. Was auf Grund unhintergehbarer Voraussetzungen nicht möglich ist, kann nicht existieren. Woran nicht geglaubt werden kann, kann auch nicht gewusst werden. Bemerkenswerterweise ist in diesem Fall die Schulmedizin doktrinär und sektiererisch verschlossen, während die Homöopathie eine gewisse Offenheit für neue Erfahrungen besitzt …
Dass es um Angelegenheiten des Glaubens geht, macht auch die Wut der Homöopathiegegner verständlich. Ihr Weltbild ist bedroht, sie möchten am liebsten jede Ketzerei unterbinden. Sie glauben zu wissen, was wahr sein kann; und was andere zu wissen meinen, kann ihnen nur als Irrglaube erscheinen. Dass homöopathische Behandlungen bei aller Regelgeleitetheit auf Erfahrungswissen beruhen wollen, muss ignoriert werden. Nur solche Erfahrungen sind ja zulässig, die mit den im voraus gehegten Überzeuguingen vereinbar sind.
Den meisten Menschen allerdings, die es mit der Alternative von Schulmedizin und Homöpathie zu tun haben, sind solche Glaubensfragen schnurzpiepegal. Wie die gewöhnlichen Gläubigen aller Zeit mischen sie Orthodoxie und Aberglauben je nach momentanem Bedarf und willkürlichem Wohldünken. Hauptsache, es hilft. Lieber lax und gesund als allzu fromm und krank. Solange darum Menschen an die Wirksamkeit von Homöopathie nicht viel anders als an die der Schulmedizin glauben, wird der Siegeszug alternativmedizinischer Methoden nicht aufzuhalten sein. Da mögen die Verteidiger der Rechtgläubigkeit noch so toben. Wer hilft, hat Recht, und dem glaubt man auch.

Samstag, 20. November 2010

Frau über Bord

Hoppla! Schon wieder ist auf dem Segelschulschiff Gorch Fock eine Kadettin aus der Takelage in den Tod gestürzt. Daraufhin wurde die Ausbildung der übrigen 70 Kadetten abgebrochen und diese von Brasilien nach Flensburg geflogen. Ein ähnlicher Unfall einer Kadettin hatte sich bereits 2008 ereignet.
Jahrhundertelang war man in der christlichen Seefahrt  davon überzeugt, dass Frauen an Bord Unglück bringen. Zur See zu fahren war, wie manch anderes, ein reines Männerhandwerk. Heute sind wir da natürlich weiter. Heute müssen Frauen überall mitmachen dürfen. Ob sie dafür geeignet sind oder nicht. Fette kleine Polizistinnen zwängen sich in Uniformen, drücken sich Schirmmützen aufs Haupthaar und watscheln bewaffnet durch die Fußgängerzonen. Das ist ein Ausdruck von Emanzipation. Ebenso bei der Bundeswehr. Und darum, warum nicht?, auch bei der Marine. Dass Frauen für gewöhnlich nicht dieselben Leistungen erbringen wie statistisch vergleichbare Männer, ist bekannt, darf aber als Argument nicht vorgebracht werden. Das wäre ja frauenfeindlich.
Auf der Gorch Fock sind auch schon Männer umgekommen. Noch nie aber wurde daraufhin der praktische Teil der Ausbildung abgebrochen. Ein kleiner Unterschied muss also doch sein. Gibt es da vielleicht doch ein Problem mit der vielbeschworenen Gleichheit von Mann und Frau, über das man nicht reden will?

Donnerstag, 18. November 2010

Schaut mal alle kurz her

Ich habe diesen Werbespot vom ersten Moment an verabscheut.* Da wundert es mich nicht, dass ich im Internet feststelle, dass viele ihn mögen und manche ihn bejubeln.
Was genau beworben wird, ist mir übrigens nicht recht klar. Es hat wohl irgendwas mit mobilem Telephonieren, aber das interessiert mich nicht, ich habe kein „Handy“. Vielleicht geht es  auch gar nicht um ein bestimmtes Produkt, sondern die Firma Vodafone will einfach nur auf sich als Marke aufmerksam machen.
Der Spot scheint in etwa Geschichte zu erzählen: Ein junger Mann photographiert mit seinem Handy das Polaroidbild einer jungen Frau, auf dessen Rand er „Where are you?“ geschrieben hat. Dieses Bild eines Bildes verschickt er mit dem Mobiltelephon. Die nächste halbe Minute wird nun in rasantem Tempo vorgeführt, wie das Bild in zahlreichen Varianten um die ganze Welt geht. Es wird auf t-shirts gedruckt, auf skateboards, es erscheint als graffiti, als mural, als Museumsexponat und als gigantische Leuchtreklame. Wow. Schließlich bekommt der Mann die Nachricht: „I’m here“, und dann taucht zu guter Letzt auch wirklich die Frau auf. Slogan („power to you“) und Markenname. Schluss.
Im Hintergrund plärrt „Empire of the sun“ das Lied „We are the people“. Die Stimme des Sängers finde ich einfach widerlich, aber die sehr schlichte Melodie ist zugegebenermaßen einprägsam. Akustische Hundescheiße sozusagen: unangenehm, aber schwer loszuwerden.
Aus dem Internet erfahre ich, dass der nicht mehr ganz neue song bald nach Erstausstrahlung des Werbefilmchens vor drei Wochen in Deutschland den ersten Platz der Verkaufscharts des Download-Portals iTunes erreichte. Und in den deutschen Single Charts erklommen er immerhin Platz 3. Ich kann mich auf meinen Geschmack verlassen. Was mich nervt, finden die Massen ganz toll. We are the people who rule the world. Ja, stimmt. Leider.
Zurück zum Werbespot. Dass dessen Botschaft auch anders gelesen werden kann denn als rührend-eindrucksvolle Variante von boy meets girl, boy loses girl, boy finds girl again, wird wohl nur wenigen bewusst werden. Man könnte sie aber sehr wohl auch so formulieren. Es gibt kein Entkommen. Die modernen Massenkommunikationsmittel, fest eingefügt in den popkulturellen Lebensstil, erlauben es in kürzester Zeit, alles, auch das Privateste, zum allgemeinen Thema zu machen. Es gibt nichts, das nicht verfügbar wäre, sofern es nach den geltenden Regeln kommunizierbar ist. Für mich eine Schreckensvision. Und nahe der Realität. Dass der ganze kommunikative Apparat nun lediglich eingesetzt wird, um eine banale Liebesgeschichte abzuspulen, macht es nicht besser, im Gegenteil. Die Lektion lautet: Die technischen Möglichkeiten sind da, aber die Leute nutze sie nur für Ablenkungen. Die ganze Welt wird bewegt, aber nur, damit sich nichts ändert.
Wie gesagt, ich fand den Spot vom ersten Ansehen und Anhören an abscheulich.

* http://www.youtube.com/watch?v=ZFqo4WUuRUw

Montag, 15. November 2010

Muttiwahlverein

Geredet hat sie lang und breit, gesagt hat sie nichts. Außer Blabla. (Und Lügen, aber das ist selbstverständlich.*) Mit der rhetorischen Kompetenz einer bildungsfernen Grundschülerin leierte sie eine Rede herunter, die außer Seitenhieben gegen parlamentarische Opposition und sonstige Kritiker nur heiße Luft als Herzerwärmendes für die Wähler, und das waren heute mal bloß die CDU-Delegierten, zu bieten hatte. Zukunftsvisionen oder auch nur klare Programmatik erwartet man von der Frau ja sowieso nicht. Aber immerhin hätte sie wenigstens versuchen können, zur Sache zu sprechen. Stattdessen nur leere Floskeln.
„Dagegen zu sein, das ist das Gegenteil von bürgerlicher Politik. Bürgerliche Politik steht für die Tugenden und Werte, mit denen wir unser Land vorangebracht haben. Bürgerliche Politik steht vor allem für etwas. Für ein gutes, ein besseres Ganzes, für Maß und Mitte. Das ist die Haltung der Bürgerinnen und Bürger in unserem Land. Eben gemeinsam für ein starkes Deutschland.“
Dass sie für solch peinlich-beliebiges Nichts auch noch Applaus erhielt, demonstriert das moralische und intellektuelle Niveau der ganzen Veranstaltung. Maß und Mitte eben, oder, knapper, Mittelmaß. Sich bloß auf nichts festlegen, immer bloß Stimmung machen, gegen die und für uns. Wer wer ist, ist sowieso klar. Was wer will auch. Alles soll bleiben, wie es ist, auch wenn dafür manchmal was verändert werden muss. Der Staat schütze die Wohlhabenden und sorge dafür, dass sie unter sich bleiben, indem er den Rest mit kargem Zuckerbrot und demokratisch legitimierter Peitsche in Schach hält. Dafür steht die CDU.
Alles andere ist Quatsch. So auch das Gerede vom Christentum, mit dem neuerdings rechts gepunktet werden soll. „Wir haben ein Zuwenig an Christentum, wir haben ein Zuwenig an Gespräch über das christliche Menschenbild, über die Werte, die uns leiten, über unsere jüdisch-christliche Tradition — das müssen wir wieder selbstbewusst nach vorne bringen, dann werden wir blablaba.“
Wie bitte? Christentum? Zu wenig? Nein: überhaupt nichts. Kein Wort darüber, welche Werte das denn wären, die da beschworen werden, kein Wort, dazu wie dieses Menschenbild denn aussieht, worin denn die angebliche jüdisch-christliche Tradtion besteht. Wie denn auch. Sie sagt nichts dazu, weil es nichts dazu zu sagen gibt. Ihre Politik hat mit Christentum nichts zu tun. Wenn es diese „Werte“ gäbe, man fände sie in ihrem Reden und Handeln nicht wieder. Mutti ist allenfalls so christlich wie Palin, Putin oder Kim Jong Il. Also gar nicht. Oder aber, wenn diese Mischung aus Überheblichkeit, Bösartigkeit, Dummheit und Verlogenheit, die sich da ausdrückt, wirklich „christlich“ wäre, dann wäre ich lieber kein Christ.
Dass ihr dümmlich-lahmes Gereschafel ihr bei diesem Parteitag nicht schadet, sondern nützt, ist leider selbstverständlich. Das ist es, was diese Leute hören wollen. Nichts. Und darum machen sie die Nullnummer erneut zur Chefin. Gratulation! Deutlicher kann man nicht machen wofür man steht: bloße Machtpolitik. Noch erschreckender ist eigentlich nur noch, dass diese Partei Wähler gehabt hat (bei der letzten Bundestagswahl immerhin fast zwölf Millionen) und mit Sicherheit wieder welche haben wird. Ist also das C im Parteinahmen ein Witz, so ist das D geradezu eine Drohung.

* Dafür nur ein Beispiel: In Deutschland haben „wir“ keineswegs „unter drei Millionen Arbeitslose“. Sich die Statistik schönzurechnen, indem man die Definition von Arbeitslosigkeit manipuliert, ist keine echte Arbeitsmarktpolitik.

Mittwoch, 10. November 2010

Muttis Büttel spricht

„Eine Opposition und Demonstranten haben politisch nicht das Recht, gegen eine demokratische Entscheidung zum zivilen Ungehorsam aufzurufen“, verkündete der deutsche Bundesinnenminister Thomas de Maizière vollmundig vor dem deutschen Bundestag. Damit formulierte er das übliche rechte Verständnis von Politik: Wer die Macht hat, hat das Sagen, die anderen sollen das Maul halten, sonst kriegen sie eine auf dasselbe. Die Konzession an die „Demokratie“ besteht darin, dass man hin und wieder wählen lässt. Sobald man aber einmal in Amt und würden ist, macht man automatisch alles richtig oder es muss zumindest so getan werden als ob — denn man ist ja jetzt „demokratisch“ legitimiert.
Man stelle sich vergleichsweise vor, bei jedem Restaurantbesuch müsse man sich, um Essen und Trinken zu können, einen Kellner wählen. Der bestimme dann, in enger Abstimmung mit dem Koch und den Großmarkthändlern, die ihre Waren loswerden wollen, welche Speisen auf den Tisch kommen und konsumiert werden müssen. Und wenn man sich Ungenießbares oder Giftiges zu essen und zu trinken weigere, ja Aufgedrängtes gar wieder ausspucke, werde man als kriminell hingestellt, weil man doch den Kellner gewählt habe.
Typen wie Maizière verwechseln gern Verantwortung und Macht und Macht mit Recht. Weil sie gewählt sind oder durch gewählte Institutionen eingesetzt, denken sie, sie hätten über Recht und Unrecht zu entscheiden. Das ist nicht der Fall. Sie haben, wenn schon, dann einen Auftrag. Erfüllen sie den nicht oder nicht im Sinne der Beauftragenden, haben diese das Recht, sich zu beschweren und dagegen vorzugehen.
Deutsche Bundesminister leisten meines Wissens folgenden Amtseid: „Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde.“ Was haben Laufzeitverlängerung und das Durchdrücken eines ungeeigneten Endlagerstandortes mit dem Wohl des Volkes zu tun? Welchen Nutzen mehr das Verprügeln von Demonstranten? Gehören die Polizisten, die bei solchen Einsätzen verstrahlt werden, nicht zum Volk, darf man ihnen per Dienstanweisung schaden? Gehört es zur Gerechtigkeit gegen jedermann, die Legitimität von zivilem Ungehorsam willkürlich in Frage zu stellen?
Innenminister sind üblicherweise bloß Kettehunde der Mächtigen, sie machen die brutale Drecksarbeit im politischen Tagesgeschäft. Herr de Maizière ist sozusagen Muttis Büttel. So muss man auch seinen Ausspruch verstehen. Er ist kein Beitrag zur politischen Theorie, sondern bloß die ganz alltägliche Kampfansage eines Machtpolitikers an den „Feind“, nämlich den Bürger. Dessen Ungehorsam muss kriminalisiert, sein Widerstand unter Umständen auch mit Gewalt gebrochen werden. Das „Recht“ dazu hat man ja, man ist ja aus Wahlen als der Stärkere hervorgegangen. Na dann.

Undiplomatisch, aber wahr

Wo der Mann Recht hat, hat er Recht. „Außer im Urlaub interessieren sich die Österreicher nicht für andere Kulturen.“ Der Botschafter der Türkischen Republik bei der Republik Österreich, Kadri Ecvet Tezcan, hat der Wiener Tageszeitung „Die Presse“ ein Interview gegeben. Darin spricht er Probleme der Integrationspolitik an und kritisiert sowohl Österreicher als auch Türken. Seine ehrlichen und klugen Äußerungen wurden in der österreichischen Öffentlichkeit jedoch sofort als „Angriffe“ wahrgenommen und von manchen mit scharfen Worten bedacht. Es wird sogar berichtet, der Außenminister habe den Diplomaten, den er, wie dieser selbst angibt, vor einem Jahr zum Antrittsbesuch nicht empfing, zu sich zitiert.
Was nun hat Tezcan eigentlich so Schlimmes gesagt? Eigentlich nichts, was nicht jeder, der in diesem Lande lebt, selbst beobachten kann. Tezcan sagt etwa, es gehe um Toleranz und nennt ein Beispiel. „Jedes Jahr bekommen die Türken einen öffentlichen Ort, einen Park etwa, zugeteilt, um ihr Kermes-Fest zu feiern. Sie kochen, spielen, tanzen, zeigen ihre eigene Kultur. Die einzigen Österreicher, die Kermes besuchen, sind Politiker auf der Jagd nach Wählerstimmen. Wählen geht trotzdem nur die Hälfte der Türken. Die Wiener schauen bei solchen Festen nicht einmal aus dem Fenster. Außer im Urlaub interessieren sich die Österreicher nicht für andere Kulturen. Österreich war ein Imperium mit verschiedenen ethnischen Gruppen. Es sollte gewohnt sein, mit Ausländern zu leben. Was geht hier vor?“
Darauf reagiert der Christian Ultsch, der Interviewer, mit dieser Behauptung: „Viele Wiener haben offenbar Angst davor, dass sie in manchen Stadtteilen zur Minderheit werden und die türkische Kultur dominiert.“ Und der türkische Botschaftert kontert: „Die Welt ändert sich. Es geht nicht mehr darum, wer dominiert und wer nicht. Es gibt keine Grenzen. Je mehr Kulturen es gibt, desto reicher werden wir.“
Nun lässt der Interviewer die Maske des Journalisten fallen und zeigt sich vollends als Ideologe: „Das Problem ist, dass die Gesellschaft in Deutschland oder Österreich nicht mehr an Multikulturalismus glaubt. Das Konzept hat nicht funktioniert.“ Darauf Tezcan: „Warum hat es nicht funktioniert? Integration ist ein kulturelles und soziales Problem. Aber in Österreich ist das Innenministerium für Integration verantwortlich. Das ist unglaublich. Das Innenministerium kann für Asyl oder Visa und viele Sicherheitsprobleme zuständig sein. Aber die Innenministerin sollte aufhören, in den Integrationsprozess zu intervenieren. Wenn man dem Innenministerium ein Problem gibt, wird dabei eine Polizeilösung rauskommen.“
Indem Botschafter Tezscan inhaltlich gar nicht auf Ultschs dummes Gerede eingeht, sondern ein strukturell-institutionelles Problem aufzeigt, erweist er sich als souveräner als der herumzickende „Presse“-Mann, der es gerade noch schafft, den Gesprächsverlauf auf dem Nebengleis zu halten: „Welche Zuständigkeit empfehlen Sie?“ Als hätte das Tezcan nicht bereits implizit beantwortet: „Das Sozialministerium, das Familienministerium, aber nicht das Innenministerium.“
Der ungewöhnlich offenherzige Diplomat geht nun dazu über, Innenministerin Fekter und die deutsche Bundeskanzlerin Merkel für ihre illiberale Geisteshaltung zu kritisieren. Zu Merkel sagt er: „Ich war so überrascht, als sie vor zwei Wochen sagte, Multikulturalismus habe versagt und Deutschland sei eine christliche Gesellschaft. Was für eine Mentalität ist das? Ich kann nicht glauben, dass ich das im Jahr 2010 in Europa hören muss, das angeblich das Zentrum der Toleranz und Menschenrechte ist. Diese Werte haben andere von euch gelernt, und jetzt kehrt ihr diesen Werten den Rücken. Trotzdem will ich nicht sagen, dass die Migranten keine Fehler gemacht haben.“ Letzteres betont der türkische Botschafter immer wieder.
Im Übrigen sagt Tezcan — nachdem der Interviewer ihm ein Wort über Strache abverlangt hat: „Strache hat keine Idee, wie sich die Welt entwickelt“ — auch seine Meinung über die SPÖ: „Ich habe auch noch nie eine sozialdemokratische Partei wie in diesem Land gesehen. Normalerweise verteidigen Sozialdemokraten die Rechte von Menschen, wo immer sie auch herkommen. Wissen Sie, was mir Sozialdemokraten hier gesagt haben? ‘Wenn wir etwas dazu sagen, bekommt Strache mehr Stimmen.’ Das ist unglaublich.“
Wohl wahr. So viel Richtiges aber will Herr Ultsch nicht ohne dummen Kommentar in seinem Blatt stehen lassen. „Viele Österreicher sehen das anders. Sie empfinden Unbehagen bei einzelnen Aspekte der Kultur, die Türken mitgebracht haben. Sie mögen nicht, wie Frauen behandelt werden, sie wollen keine Frauen in Kopftüchern herumlaufen sehen. Sie wollen auch nicht, dass junge Macho-Türken Mitschüler terrorisieren.“
Nein, das wollen sie wohl wirklich nicht. Wenn schon, dann sollen aufrechte Österreicher ihre Mitschüler terrorisieren. Auch das mit den Kopftüchern gilt nur für solche auf Migrantinnenköpfen, oder hat man erlebt, dass einer österreichischen Bäuerin wegen ihres Kopftuches der Vorwurf der Integrationsverweigerung gemacht worden wäre?
Der Interviewte geht auf den offenen Rassismus des Interviewers freilich nicht ein, sondern beharrt auf vernünftigem Diskurs: „Erlauben Sie mir noch eine Frage. Wenn etwas nicht zu Ihrer Kultur gehört, haben Sie dann das Recht zu sagen, Sie wollen diese Menschen nicht? Das ist eine andere Kultur, ein anderes Parfum, eine andere Folklore. Ihr müsst damit leben. Warum habt ihr 110.000 Türken eingebürgert? Wie konntet ihr sie als Bürger akzeptieren, wenn es so ein großes Integrationsproblem mit ihnen gibt? Ihr müsst mit ihnen reden. Die Türken sind glücklich, sie wollen nichts von euch. Sie wollen nur nicht wie ein Virus behandelt werden. Die Gesellschaft sollte sie integrieren und von ihnen profitieren. Ihr müsst keine Migranten mehr holen. Ihr habt sie hier. Aber ihr müsst an sie glauben, und sie müssen an euch glauben.“
Doch Ultsch, der Antimultikulturalist, gibt nicht auf: „Aber Politiker müssen doch zum Beispiel das Recht …“ Ach, jetzt kommt das wieder, dieses „Man muss man doch mal sagen dürfen“! Und was sollen Poliiker Wichtiges zu sagen haben? „… dass sie keine Zwangsheiraten wollen.“ Darauf Tezcan kühl: „Natürlich. Wir wollen auch nicht, dass unsere Töchter zwangsverheiratet werden.“ Es ist schon peinlich, dass der ranghöchste Türke in Österreich es sich gefallen lassen muss, von einem Pseudojournalisten permanent durch Griffe in die Mottenkiste der Klischees, Vorurteile und Ressentiments beleidigt zu werden. So als ob die Türkei, bei allen nach wie vor bestehenden und zum Teil eklatanten Unvollkommenheiten, sich nicht als Rechtsstaat verstünde und es Ankaras offizielle Politik wäre, Frauen wie Ziegen zu tauschen.
Tezcans Souveränität lässt Ultsch nun bockig werden: „Und man kann von Türken auch verlangen, dass sie Deutsch lernen.“ Was soll der Botschafter darauf sagen? Selbstverständlich erwidert er: „Definitiv, ich sage meinen Leuten immer: Lernt Deutsch und haltet euch an die Regeln dieses Landes!“
Nun ist der Interviewer mit seinem Latein am Ende: „Warum also klappt es nicht?“ Der Diplomat klärt ihn auf: „Sie haben es selbst sehr offen gesagt: Die Leute wollen hier keine Frauen mit Kopftüchern sehen. Ist das denn gegen das Gesetz? Nein, ihr habt da nichts zu sagen. Es steht jedem frei, was er auf dem Kopf trägt. Wenn es hier die Freiheit gibt, nackt zu baden, sollte es auch die Freiheit geben, Kopftücher zu tragen. Wenn jemand die Leute zwingt, Kopftücher zu tragen, dann sollte der Rechtsstaat intervenieren.“
Ultsch gibt noch immer nicht klein bei und beginnt ein ziemlich sinnloses Geplänkel über die Erwerbsquote türkischer Frauen, um vom Wesentlichen abzulenken. Schließlich aber muss er kapitulieren: „Sie meinen also, dass die Österreicher den Türken nicht das Gefühl geben, dass sie hier willkommen sind?“ Er hat’s erfasst! Der Botschafter sagt dazu diplomatisch: „Ich werde nicht nur den Österreichern Vorwürfe machen.“ Und er sieht nicht nur schwarz: „Ich sehe viel Erfolg. Es gibt mehr als 3500 türkische Unternehmer hier, 110 Ärzte, Künstler, Ballerinas. Warum bringen Ihre Medien nicht mehr Erfolgsgeschichten?“
Das kann Ultsch nicht so stehen lassen, es muss was Negatives her: „Wer den derzeitigen Ausbildungsstand analysiert, blickt in eine düstere Zukunft. Die meisten jungen Türken gehen in die Hauptschule, viele sogar in die Sonderschule. Haben Sie eine Idee, wie sich das ändern ließe?“ Zumindest hat Botschafter Tezcan etwas Intelligentes dazu zu sagen: „Viele türkische Eltern glauben, dass ihre Kinder perfekt Deutsch und Türkisch sprechen. Ich erkläre ihnen dann, dass man mit 500 Wörtern noch keine Sprache beherrscht und ihre Kinder weder Deutsch noch Türkisch gut sprechen. Hier liegt das Problem: In den letzten 20 Jahren haben uns österreichische Regierungen nicht erlaubt, Lehrer aus der Türkei zu holen, um die Kinder in Türkisch zu unterrichten. Wenn Kinder ihre Muttersprache nicht korrekt lernen, werden sie auch eine andere Sprache nicht gut erfassen. Es gibt in Wien ein Institut für Orientalistik, wo Studenten Türkisch lernen, die auch perfekt Deutsch sprechen. Das Einzige, was fehlt, ist ein Lehrstuhl für Pädagogik. Dann kann Österreich seine eigenen Türkischlehrer haben.
Hurrah, der Interviewer erkennt ein wieder Nebengleis und hält, um von Tezcans eben geäußerter richtiger Analyse abzulenken, mutig darauf zu: „Wie viele Lehrer wollen Sie holen? Sollten die Türken Türkisch als Fremdsprache in der Schule lernen?
Haben Sie je daran gedacht, eine türkische Schule in Wien zu gründen? Sollten türkische Eltern Deutsch oder Türkisch mit ihren Kindern sprechen?“ Auf all das antwortet ihm der Diplomat höflich. Auch auf die zuletzt gestellte dumme Frage nach der häusliche Umgangssprache: „Das werde ich ihnen nicht vorschreiben. Aber ob Eltern, Kinder oder Jugendliche, sie sollten alle Deutsch können.“ Was kann irgendjemand, der seine fünf Sinne beisammen hat, sonst antworten?
So geht es noch eine Weile weiter. Man spricht über Kroaten und Perser im Vergleich zu den Türken und über den unterschiedlichen Aufstiegswillen, Man spricht über dieses und jenes. Dann sagt Tezcan: „Die Türken in Wien helfen einander. Sie wissen, sie sind nicht willkommen.“ Ultsch ist ratlos: „Warum glauben Sie das?“ Der Botschafter klärt ihn auf: „In dieser Stadt, die behauptet, ein kulturelles Zentrum Europas zu sein, stimmten fast 30 Prozent für eine extrem rechte Partei. Wenn ich der Generalsekretär der UNO, der OSZE oder der Opec wäre, würde ich nicht hier bleiben. Wenn ihr keine Ausländer hier wollt, dann jagt sie doch fort. Es gibt viele Länder auf der Welt, in denen Ausländer willkommen sind. Ihr müsst lernen, mit anderen Leuten zusammenzuleben. Was für ein Problem hat Österreich?“
Gut gesagt. Die Antworten liegen auf der Hand. Österreich hat unter anderem folgende Probleme: zu viele schlechte Journalisten, zu viele unanständige Politiker und vor allem eine Mehrheitsbevölkerung. die entweder ihre eigene familiäre Migrationsgeschichte verdrängt oder aberwitzigerweise gar keine hat und so oder so zu Bösartigkeit im Umgang mit allem Fremden neigt. Das ist nichts Neues. Wann immer aber derlei bisher etwa von Bernhard und Turrini, Jelinek oder Handke geäußert wurde — um nur die literarisch bekanntesten Namen zu nennen —, war die Reaktion Wut und blanker Hass. Auch Kadri Ecvet Tezcan wird sich mit seinen so überraschend aufrichtigen Worten schwerlich viele neue Freunde gemacht haben. Ich jedoch möchte ihm an dieser Stelle dafür danken, dass er der Wahrheit vor der Diplomatie den Vorzug gegeben hat.

Samstag, 6. November 2010

Austrovertikalität

Wenn der von mir geschätzter Radiomoderator und Musikschriftsteller Johannes Leopold Mayer in einer Ö1-Sendung von dem deshalb nicht weniger schätzenswerten Komponisten und Kulturfunktionär Josef Lechthaler sagt, dieser sei von den Nazis wegen seines „aufrechten Österreichertums“ verfolgt worden, so stößt mir das sauer auf. War man da nicht schon weiter? Ist die Lebenslüge der Zweiten Republik, dass die Deutschen die Nazi-Täter und die Österreicher die Nazi-Opfer gewesen seien, nicht längst auf dem Müllhaufen der Geschichte gelandet?
Aufrechtes Österreichertum: Als ob sich Österreichersein und Nazisein je ausgeschlossen hätten. Das tun sie bis heute nicht. Man mag etwa heutigen Hetzern vom Schlage Straches einiges nachsagen können, aber nicht, dass sie unösterreichisch seien. Eher im Gegenteil. Der Nazismus war und ist eine österreichische Spezialität. Hitler etwa kam nur nach oben, weil er ein Exportschlager war. Seine reichsdeutsche Konkurrenten auf dem weiten Feld des Rechtsextremismus konnte der Zuwanderer auf Grund seines österreichischen ideologischen Erbes links liegen lassen. Im Bismarckstaat und seinem Nachfolger hatte man ja allenfalls Erfahrungen mit Polen und Hottentoten. Was herrenmenschliches Ressentiment ist und wie man’s mobilisiert, davon verstanden Deutschösterreicher (und Magyaren) mit ihrer innerkontinentalen Kolonialgeschichte sehr viel mehr. Und auch in puncto Antisemitismus war man seit jeher Vorreiter.
Aufrechtes Österreichertum: Hat Herr Lechthaler als Komponist, Kirchenmusiker, Lehrer, musikpolitischer Akteur  usw. irgendetwas gegen die kulturelle Repression im „zweiten deutschen Staat“ (so bekanntlich die Eigendefinition des austrofaschistischen Ständestaates) unternommen? Die Nazis enthoben ihn seiner Ämter. Aber unter Dollfuß und Schuschnigg war einfach ein braver katholischer Patriot?
Aufrechtes Österreichertum: Die Geschichte Österreichs war bereits zu Lebzeiten Lechthalers eine Verlustgeschichte und ist es bis heute. In Wien (andere Orte kamen dafür meist gar nicht erst in Frage) war man stets bestrebt, alles Fremde, das hätte bleiben können, zu eliminieren. Lueger war aus heutiger Sicht vor allem Antisemit, gewiss; in seiner Zeit jedoch galt er besonders als Antitscheche: Zuwanderern aus Böhmen und Mähren wurde damals beim Bürgereid das Versprechen abgenommen, nur noch Deutsch zu reden.
Aufrechtes Österreichertum: Nach oben buckeln und nach unten treten ergibt noch keinen aufrechten Gang. Eingeigelte Provinzialität ist garantiert keine Garantin für Menschenfreundlichkeit, ganz im Gegenteil. Das Wir-Österreicher-Gefühl hat immer Ausschließungscharakter. Die Mischung aus Minderwertigkeitskomplex und Größenwahn ist zwar nicht mehr explosiv genug, um im großen Maßstab zu verheeren, für Alltagsrassismus aber reicht es allemal. Gegen die „Deitschen“ ist man sich einig, aber von den „Ausländern“ (zu denen in der öffentlichen Wahnehmung wohl auch die autochthonen Minderheiten gehören) verlangt man: „Red’s gfölligst Deitsch!“

Mittwoch, 3. November 2010

We, the Pöbel

Wenn die USA eine Demokratie sind, dann ist die Demokratie eine Sackgasse. Das jedenfalls könnte man aus den Ergebnissen der gestrigen Wahlen herauslesen. Der Pöbel hat sich an den Urnen zu Wort gemeldet und seine Botschaft ist, wenig überraschend, überwiegend dumm und bösartig.
In Amerika gebe es nur zwei politische Richtungen, lautet ein von mir seit Jahren wieder und wieder zitiertes Witzwort: rechts und rechtsextrem. Betrachtet man, was und wer da nun gewählt wurde, muss man aber sagen: Es geht immer noch weiter nach rechts, es geht immer noch dümmer und noch bösartiger.
Gerade weil ich Herrn Obama nie für einen Hoffnungsträger gehalten habe, der die Verhältnisse seines Landes von Grund auf verändern könnte oder auch nur wollte, sondern bloß für einen ziemlich harmlosen Reformer, der einfach zu viel Anstand, Mitgefühl und Intelligenz besitzt, um die ärgsten Ausprägungen des Kapitalismus kommentar- und tatenlos hinzunehmen, gerade deshalb also finde ich den Hass, der diesem Mann entgegengebracht wird, so völlig wahnsinnig. Welche Absurditäten seine Gegner dann in der Sache verkünden und fordern, ist dann gar nicht mehr erstaunlich.
Als Anarchist weiß ich ja, dass Wahlen nichts ändern können — sonst wären bekanntlich sie verboten) Aber muss dieses dauernde Herumgewähle denn, wenn es schon nichts Gutes bewirkt, immer nur den Abschaum nach oben spülen?
Die USA sind einvöllig heruntergekommenes Land, moralisch, politisch, ökologisch. Die Auswirkungen des American way of life und die imperialistische Politik sind für viele Millionen Menschen, ja letztlich für Milliarden verheerend. Kein Wunder, dass manche die USA aufrichtig verachten. Vielleicht ist es dabei aber noch ein Glück, dass die meisten Betroffenen entweder keine Gelegenheit oder kein Bedürfnis haben, sich über die Details der machtvollen Dummheit und Bösartigkeit zu informieren oder aber von voreingenommenen Medien desinformiert wird. Sonst schlüge der kalte Weltbürgerkrieg, der jeden Tag stattfindet, womöglich in einen heißen um. (Und ich meine damit selbstverständlich nicht den systemstützenden „Terrorismus“.)