Dienstag, 18. November 2025

Über Neologismen, besonders akademische

Vor fast einem Vierteljahrhundert moderierte ich eine Buchpräsentation. Es ging um einen kultur- und sozialanthropologischen Sammelband. Den hatte ich selbstverständlich gelesen und entdeckt: Einer der Beiträger verwendete in seinem Text mehrfach das Wort „Anthropogem“ Als ich darauf stieß, war ich doch ertwas irritiert, dass weder ihm noch jemandem, der vielleicht Korrektur gelesen hatte, die Missbildung aufgefallen war. Die Silbe „gem“ mach ja überhaupt keinen Sinn. Wenn man schon, analog zu Mythologem und anderem, einen Ausdruck, der wohl „Gedanke, Lehrsatz, wiederkehrende Aussage in der Anthropologie bedeuten soll, bilden möchte, dann muss er korrekt „Anthropologem“ lauten.
Fehler passieren. Und wenn man sie nicht bemerkt oder von anderen darauf hingewiesen wird, wiederholt man sie womöglich. Der Beiträger tat genau das bei seinem Vortrag bei der Buchpräsentation. Mehrmals sprach er von „Anthropogemen“.
Damit nicht genug, ein anderer Beiträger, der in seinem Text das falsch gebildete Wort (und auch das richtig gebildete) nicht verwendet hatte, griff den Ausdruck in seinem Vortrag auf und benutzte ihn ebenfalls mehrmals.
Bei der Diskussion schließlich sprach ich, lästig wie ich bin, den Erfinder des „Anthropogems“ darauf an, ob es denn nicht richtig „Anthropologem“ heißen müsse. Er zuckte nur die Achseln. Korrekte Wortformen waren ihm offenkundig wurscht. (Er wurde später Professor für Kultursoziologie in Mittelhessen und ist es meines Wissens noch.)
Weit mehr als die Gleichgültigkeit des Konstrukteurs des „Anthropologems“ faszinierte mich in der leidigen Angelegenheit übrigens die Freude des bereitwilligen Weiterverwenders an dem neuen begrifflichen Spielzeug. Da war keinen Augenblick Zeit zum Überlegen gewesen, ob das neue Wort richtig gebildet war (und es fehlten wohl auch die sprachlichen Kenntnisse, um das beurteilen zu wollen). Das Wort war da, es war frisch, man konnte etwas damit anfangen. Das machte Spaß und schindete vielleicht Eindruck.  
 
Neologismen haben im akademischen Betrieb eine wichtige Funktion. Einen neuen Begriff oder einen neuen Ausdruck für einen bereits existierenden Begriff irgendwo aufzuschnappen und selbst als einer der ersten verwenden zu können, befriedigt nicht nur den Spieltrieb, es ist vor allem auch Abzeichen dessen, dass man vorne dran ist an den neuesten Entwicklungen. Und das ist eine Erfordernis des akademischen Arbeitens: Man muss keine eigenen Gedanken haben, man muss nur die „einschlägigen Debatten“ kennen, die aktuellen wie die tradierten, man muss zeigen, dass man die neueste Literatur ebenso kennt wie die grundlegenden Texte. (Und heutzutage vielleicht auch podscasts und andere elektronische Darreichungsformen.)
Die akademisch anerkannte wissenschaftlich Leistung ― nicht im Bereich der Naturwissenschaften und technischen Fächer mit ihrem ganz anderen Realitätsbezug, auch nicht in der empirischen Sozialforschung oder klinischen Psychologie, sondern im Bereich der Gesellschafts- und Kulturwissenschaften, wo (außer ein paar nichttextuellen Artefakten vielleicht) Texte fast alles sind, was einer Empirie gleichkommt ― akademisch anerkannte wissenschaftlich Leistung also besteht üblicherweise darin, korrekt zu zitieren, Quellen auszuweisen und das für wesentlich Gehaltene von Debattenbeiträge auf andere Debattenbeiträge zu beziehen. Einen eigenen Gedanken daran zu knüpfen, ist nicht notwendig, ein bisschen Gewichtung und (auf oft auf institutionelle Anbindung und Karriereabsichten abgestimmte) Wertung genügt völlig. Originalität mag als Distinktonsmerkmal auf dem Markt der Buchverkäufe und Vortragseinladungen dienen, aber ein zu eigenständiges Denken droht immer, einen aus der akademischen Gemeinschaft als Angeber herauszuheben und letztlich als Wichtigtuer hinauszutreiben, was ohne bereits nachhaltig gesicherten Posten (oder festen Verlagsvertrag) karrierebeendend sein kann.
Verwendet man nun einen neues Wort, das man nicht erfunden, sondern vorhin erst vorgefunden hat, so ist das oft stimulierend und ein bisschen glamourös. Ein neues, vielversprechendes Spielzeug eben. Bei aller gebotenen Vorsicht: Je rascher und geschickter man damit spielt, desto besser. Man beweist dann Offenheit, Neugier, Souveränität. Man versteht sich dann offensichtlich darauf, anderer Leute neueste Gedanken aufzugreifen und auf der Stelle zu verarbeiten. Vielleicht kann man aus einem Neologismus (durch Bezug auf bestehende Debatten …) sogar mehr herausholen als sein Erfinder. Pech nur, wenn das Wort ein sprachlicher Missgriff ist und sich deshalb (oder trotzdem) nicht durchsetzen wird …
Es geht dabei übrigen nicht um die Erfordernisse (sachlicher oder ritueller Art) einer Fachsprache. Neologismen können, müssen aber nicht, das Begriffsinventar einer Disziplin bereichern. In der Regel sind sie schlicht Signale der Zugehörigkeit zu einer Schule oder Richtung oder auch nur einer Person: Seht her, ich spreche auch so, sogar auf dem neuesten Stand. Wichtiger aber ist für das akademische Fortkommen die erwiesene Kenntnis der „Paläologismen“, also der üblichen Vokabeln und ihres zunftmäßigen Gebrauchs, weil es, wie gesagt, eher darauf ankommt, das Bisherige verlässlich zu repräsentieren, als die eigene Originalität auszuposaunen. (Was den weniger originellen Konkurrenten sowieso nicht gefällt, aber womöglich auch den längst auch nicht mehr originellen Posteninhabern nicht, von denen man abhängt und etwas will.)
Brandneue Ausdrücke sind also im kulturwissenschaftlichen Betrieb wie exotische Gewürze in der gutbürgerlichen Küche: mit Vorsicht zu gebrauchen. 
 
Was ich hier übers Akademische und seine Rituale gesagt habe, lässt sich offensichtlich auf Sprachverwendung überhaupt anwenden: neue Wörter haben oft einen Reiz, wenn man Gebrauch von ihnen macht, kann man sich als einer erweisen, der sozusagen die Zunge am Puls der Zeit hat, als einer, der weiß, was (zumindest bei gewissen Leuten) gerade angesagt ist und somit zumindest sprachlich dazugehört.
So funktioniert nicht zuletzt die Vermehrung symbolischen Kapitals in den sogenannten Jugend- und Szenesprachen, in Soziolekten also, die schon deshalb auf immer neue Neologismen angewiesen sind, weil nur dann die gewünschte Abgrenzung zu Stande kommt.
Zu Grunde liegt ein oft übersehener Umstand: Sprache ist immer die Sprache der anderen. Nicht nur eine Fremdsprache, sondern schon jede Muttersprache wird erlernt, indem andere Sprechende imitiert werden. Bevor man Wörter, geschweige den Sätze bilden kann, muss man angesprochen werden, immer wieder, und ahmt daraufhin dann das „Sprechen an sich“ (also sozusagen Sprache ohne Semantik) nach ― und brabbelt. Sprechen lernen heißt, sich die Sprache anderer anzueignen. Dabei ist anfangs alles neu und ungewohnt. Später erst, wenn man schon sprechen kann, entdeckt man den Reiz neuer Wörter, vor allem solcher, die nur von einigen verwendet (und verstanden) werden, von anderen nicht. Sprache als Praxis der Kommunikation, also auch der sozialen Bindung, wird auch zur Praxis der Distinktion (der Bindung nicht mehr an alle, sondern Verbindung mit anderen).
Darum ist es zum Beispiel völlig unnötig zu wissen, wo ein bestimmter jugendsprachlicher Ausdruck stammt (wer ihn „erfunden“ hat), es kommt darauf an, dass er schon verwendet wird, das er erlaubt, Eingeweihte von Uneingeweihten, Junge von Alten abzugrenzen. Unzählige neue Ausdrücke schaffen das nicht. Und weniges altert so schnell (wird funktionslos) wie junge Wörter. (Freilich gehen manche in die allgemeine Umgangssprache ein, rücken sozusagen eine Generation weiter. Und wenn erst Senioren etwas „mega“ finden, ist der Distinktionsgewinn gleich null.)
Ich weiß, woher „Anthropogem“ kommt, und bin froh, dass sich das meines Wissens nicht über einen Textbeitrag und zwei Vorträge bei einer Buchpräsentation hinaus ausgebreitet hat. Vielleicht war es doch zu nicht so leicht, etwas in Bildungsinstitutionen hineinzuschmuggeln.

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