Sonntag, 30. Dezember 2012

Muttis Maulwurf

Ist das wahlkämpferischer Wahnsinn oder autodestruktive Methode? „Ein Bundeskanzler oder eine Bundeskanzlerin verdient in Deutschland zu wenig — gemessen an der Leistung, die sie oder er erbringen muss und im Verhältnis zu anderen Tätigkeiten mit weit weniger Verantwortung und viel größerem Gehalt“, sagte der Kanzler-Kandiat der SPD, Peer Steinbrück, der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“. Warum sagt der sowas?
Es gab Zeiten, da brachte man Kindern diese lebenskluge Regel bei: Wisse immer, was du sagst, aber sage nicht immer, was du weißt (oder zu wissen glaubst). In Herrn Steinbrücks Erziehung scheint in diesem Punkt etwas schiefgelaufen zu sein. Denn selbst wenn er wirklich überzeugt ist, von dem, was er da gesagt hat, scheint er zu dumm zu sein, um zu begreifen, dass solche Aussagen Wasser auf die Mühlen seiner Gegner und eine kalte Dusche für viele seiner Wähler sein müssen. Ohnehin schon aus eigenem Verschulden mit dem Image des Raffzahns ausgestattet, setzt er noch eins drauf, indem er erklärt, das Amt, das er anstrebt, zu schlecht bezahlt wird. Was für ein Depp!
Offensichtlich konnte der alte Zahlenjongleur Steinbrück sich nicht ausrechnen, dass die Zahl der potenziellen Wählerinnen und Wähler, die ein Jahresgehalt von einer Viertelmillion für eine astronomische Summe halten, größer ist als die Zahl derer, die meinen, entgegen der festen Überzeugungen der Stammtische seien Politiker unterbezahlt. Und so jemand will Kanzler werden und „Verantwortung“ übernehmen?
Will er ja gar nicht. Ich bin sicher, Peer Steinbrück ist ein von Angela Merkel in den Wahlkampf der SPD eingeschleuster Maulwurf. Vielleicht hat sie was gegen ihn in der Hand aus der gemeinsamen Zeit, als er unter ihr Finanzminister war. Oder sie hat ihn bestochen. So oder so, sobald Steinbrück Kanzlerkandidat wurde, war die Bundestagswahl 2013 für die CDU schon gewonnen.
Selbstverständlich hätte die SPD immer noch eine Chance: Was (außer eklatantem Personalmangel) hindert sie, den blamablen Kandidaten in die Wüste zu schicken und jemand anderen zu präsentieren? Bis zur Wahl sind noch neun Monate Zeit. Was wäre das für ein aufrüttelndes Signal: Wir haben einen Fehler gemacht, der bisherige Kandidat stand für alles, was mies ist an der deutschen Sozialdemokratie, aber ab jetzt machen wir Politik nicht mehr für Unternehmen, sondern für die Gesellschaft. Unsere Spitzenkandidatin ist Frau Gisela Hotzenplotzki aus Wanne-Eickel, alleinerziehende Mutter eines Sohnes und einer Tochter und Teilzeitbeschäftigte als Supermarktkassiererin; die Frau kann wenigstens rechnen und weiß, was sparen heißt.
Doch die Geschichte lehrt: Die SPD ist zwar einerseits eine Partei, die, sobald sie kann, alles verrät, was ihre Wähler je von ihr hätten wollen können, die aber andererseits, sobald sich ein einmal von ihr eingeschlagener Weg als falsch herausgestellt hat, eisern an diesem festhält. Insofern ist der derzeitige Kandidat wohl ohnehin der optimale Repräsentant einer immer wieder zielsicher in die Irre gehenden deutschen Sozialdemokratie.
Also wird Steinbrück bis zum Herbst bleiben, seine Partei wird die Wahl grandios verlieren und ohne ihn anschließend, aus lauter „Verantwortung“, als Juniorpartnerin in eine Große Koalition eintreten. Und Mutti hätte einmal mehr erreicht, was ihr Politikziel ist: Alternativlosigkeit. Glück auf!

Sonntag, 23. Dezember 2012

Aufgeschnappt (bei einem Rechtswissenschaftler)

Elite? Das ist eine Gruppe von Leuten, die bei höchstem Einkommen keine Steuern zahlen.
Carl Schmitt (Jurist)

Hass auf Weihnachten

Immer öfter haben mir, oft ungefragt, in letzter Zeit Mitmenschen, mitunter in völlig zufälligen Begegnungen, davon erzählt, wie sehr ihnen das alles auf die Nerven geht und wie froh sie sein werden, wenn das Ganze endlich vorbei sein wird: Weihnachten. Nun, bald ist, in der Vorstellung und im Erleben der meisten in diesen unseren Breiten, Weihnachten ja tatsächlich vorbei. Seit der ersten Sichtung von Schokoladen-Weihnachtsmännern im August oder spätestens September hat zunehmend „Vorweihnachtszeit“ geherrscht und schlagartig wird mit dem 24. Dezember oder allerspätestens dem 26. Weihnachten endlich vorbei sein. Erleichtert wird man sich auf den Silvestertrubel einstimmen.
Dabei liegt hier eine schlimme Verwechslung vor. Was man Vorweihnachtszeit nennt und mit Einkäufen, Plätzchenessen, Punschtrinken und Weihnachtsliederhören verbringt , hat mit Weihnachten so viel zu tun wie der Osterhase mit Pfingsten. Die Wochen vor Weihnachten, dem Fest der Geburt Jesu Christi, sind eigentlich als Fastenzeit, als eine Zeit der Einkehr und Umkehr gedacht. Der Advent dient der Vorbereitung auf ein Fest, dessen Freude schon vorausstrahlen mag, aber deren Stimmung eigentlich besinnlich und deren Farbe darum das bußfertige Violett — am dritten Adventssonntag zu vorfreudigem Rosarot getönt — zu sein hätte, nicht Rot und Grün und Glitzergold. Passend zur dunklen Jahreszeit wird eigentlich erst das Geburtsfest des Sohnes Gottes als Feier des Lichtes begangen. Das kann man aber über all dem elektrischen Geflimmer und romantischem Kerzenglanz fast vergessen, die seit Wochen über Fußgängerzonen, Einkaufsparadiese und Wohnzimmer niedergehen.
Selige Zeiten, als das Gabenbringen noch dem Heiligen Nikolaus oder den Weisen aus dem Morgenlande zugeschrieben und also am 6. Dezember oder 6. Januar in Szene gesetzt wurde und ausschließlich oder doch vor allem den Kindern galt, denen das Freudige des Weihnachtsfestes damit sinnlich erfahrbar gemacht wurde. Damit blieb die Feier der Geburt des Menschensohnes von sinnfremdem Brauchtum frei. Heute gelten der Weihnachtsbaum und fast auch schon der Schneemann, von Rentieren und Elchen gar nicht zu reden, bereits als „weihnachtlich“ und verschandeln mit ihren säkularen Fratzen den Raum, der eigentlich für religiöse Symbolik auszusparen wäre.
Wer Weihnachten hasst, hasst also eigentlich das Gegenteil von Weihnachten, nämlich Säkularisierung und Kommerzialisierung. Gottes Sohn ist Mensch geworden, das ist das Geheimnis, das in der Heiligen Nacht zu feiern wäre. Was hingegen nervt, weil es sich geradezu zum Terror entwickelt hat, hat nichts mehr mit dem Neugeborenen im Futtertrog zu tun, sondern ist irreligiöse Überwucherung. Die Menschwerdung Gottes ist dessen Geschenk an die Menschen. Nichts spricht dagegen, einander im Gedenken an diese unfassbare Gabe Freude bereiten zu wollen, aber überbieten kann man sie nicht und vor lauter Schenkerei vergessen sollte man sie auch nicht.
Wer den Rummel und die Hektik, das Getue und den Betrieb, die Aufdringlichkeit und Unehrlichkeit der „Vorweihnachtszeit“ und der angeschlossenen Familienzusammenkünfte verabscheut, hätte einen Verbündeten im eigentlich Sinn des Festes. Es wird ja zum Glück, von Betriebsweihnachtsfeiern und anderen Sozialrepressionen abgesehen, niemand gezwungen, im Übermaß am (Vor-)Weihnachtsterror teilzunehmen. Es ist also nie zu spät für Einsicht und Abkehr. Noch der 24. Dezember, den manche mit Weihnachten verwechseln, ist eigentlich ein Tag in der Fastenzeit.
Weihnachten als Fest der Liebe, als Fest der Familie, als Fest der Umsatzsteigerung im Einzelhandel — all das ist sekundär, oft verstellt es sogar das Eigentliche. Im Advent wird der ersten Ankunft Christi gedacht und seine Wiederkunft erwartet. Wem das ein Anlass für Kitsch und Sentimentalität, für Ausflucht und Unwirschheit ist, dem ist schwerlich zu helfen. Wer angesichts von Weihnachten nur weg oder rasch weiter will, weil er sich dem hinter und neben aller Ablenkung und Verstellung Unverlierbaren, dem Gnadenangebot Gottes, nicht stellen will, wer also meint, keinen Erlöser zu brauchen, der hat keinen Bedarf an Ostern und auch nicht an Weihnachten. Und also auch keinen Grund, sich zu beschweren. Die Hohlheit des längst dem Sinn des Festes entfremdeten Rummels ist für ihn dann aber auch im Grunde ohne Alternative, die Falle der Verweltlichung hat zugeschnappt.

Mittwoch, 19. Dezember 2012

Was dürfen Homosexuelle?

Irgendetwas stimmt hier nicht: „Vor dem Bundesverfassungsgericht hat die Verhandlung über ein erweitertes Adoptionsrecht für Homosexuelle begonnen. Derzeit dürfen Schwule und Lesben nicht das Adoptivkind ihres Lebenspartners adoptieren — anders als Ehepartner. Für sie ist das ein Verstoß gegen die Gleichbehandlung.“ (tagesschau.de) Man staunt. Das Adoptionsrecht hängt von der sexuellen Orientierung des oder der Adoptionswilligen ab? Es gibt also in Deutschland ein eigenes Adoptionsrecht für Homosexuelle und eines für Heterosexuelle? Wusste ich gar nicht. Ich dachte bisher, es gäbe bloß ein unterschiedliches Adoptionsrecht je nachdem, ob man verheiratet oder verpartnert ist.
Der schludrige Sprachgebrauch rund um die erwähnte Verhandlung in Karlsruhe ist nicht nur bei der Tagesschau zu finden und insgesamt symptomatisch für die Geistesverwirrung, die sich in Bezug auf die Themen „Homo-Ehe“, Diskriminierung und Gleichbehandlung ausgebreitet hat.
Es beginnt mit der grundlegenden Unwahrheit, es habe je eine Diskriminierung von Homosexuellen durch das Eherecht gegeben. Wahr ist vielmehr, dass auch heterosexuelle Männer keine Männer und heterosexuelle Frauen keine Frauen heiraten durften. Niemand wurde also in diesem Punkt wegen seiner sexuellen Orientierung diskriminiert.
Eine Diskriminierung kann man erst behaupten, wenn man die Perspektive verschiebt: vom Einzelnen und seinen Rechten auf das Paar. Tatsächlich konnten früher nur gegengeschlechtliche Paare eine staatlich privilegierte Lebenspartnerschaft, Ehe genannt, eingehen und gleichgeschlechtliche nicht. Für gleichgeschlechtliche Paare hat man darum in Deutschland 2001 die „Homo-Ehe“ geschaffen. Ich bin kein Jurist, aber mir ist nicht bekannt, dass man seither, um heiraten zu können, heterosexuell sein muss oder dass man lesbisch oder schwul zu sein hat, um eine registrierte Partnerschaft eingehen zu können. Meines Wissens spielt sexuelle Orientierung — die übrigens auf welche Weise amtlicherseits festzustellen wäre? — im Recht (seit der Abschaffung des § 175 im Jahr 1994) keine Rolle.
Und das tut sie eben auch nicht, wenn es um Adoption geht. Was vom Bundesverfassungsgericht verhandelt wird, ist keineswegs „ein erweitertes Adoptionsrecht für Homosexuelle“, sondern die Frage, ob Verpartnerten dasselbe Recht auf Sukzessivadoption zusteht wie Verheirateten. Weder das Geschlecht der Betroffenen noch deren sexuelle Orientierung noch gar ihre erotischen Vorlieben haben damit irgendetwas zu tun.
Und im Übrigen adoptieren auch nicht Paare, sondern Einzelpersonen. „Laut Gesetz ist zwar die Adoption des leiblichen Kindes des eingetragenen Lebenspartners möglich (‘Stiefkindadoption’), nicht aber die Adoption eines vom eingetragenen Lebenspartner adoptierten Kindes (‘Sukzessivadoption’ oder ‘Zweitadoption’). Ehepartnern dagegen werden beide Adoptionsmöglichkeiten eingeräumt. Die klagenden homosexuellen Paare machen deshalb Verstöße gegen das Gleichbehandlungsgebot des Grundgesetzes und den Schutz der Familie geltend.“ So steht es in der Süddeutschen Zeitung. Das finde ich verständlich.
Unverständlich aber finde ich es, wenn es im ersten Absatz desselben Artikels heißt: „Vor dem Bundesverfassungsgericht deutet sich eine Korrektur beim Adoptionsrecht für homosexuelle Paare an. In der mündlichen Verhandlung am Dienstag sprachen sich fast alle Experten dafür aus, Homosexuellen eine Adoption auch dann zu ermöglichen, wenn ihr Lebenspartner das Kind zuvor selbst adoptiert hatte.“ Nun mag man zwar den Ausdruck „homosexuelle Paare“ als Synonym für gleichgeschlechtliche Paare durchgehen lassen, aber nicht jedes Paar aus zwei Schwulen oder zwei Lesben ist registriert verpartnert — im Gegenteil, die allerwenigsten sind das! Es geht also nicht im Mindesten um die Ermöglichung der Sukzessivadoption für Homosexuelle allgemein und auch nicht für „homosexuelle Paare“, sondern ausschließlich um das Sukzessivadoptionsrecht von Verpartnerten.
Spitzfindigkeiten? Keineswegs, eher Lebenswirklichkeiten. Obwohl Berufslesbenundschwule und die ihnen darin folgende veröffentlichte Meinung Homosexualität mit dem Homosexuellsein von Schwulen und Lesben gleichsetzen und diese nur noch paarweise in den Blick zu nehmen bereit sind, sieht die Realität anders aus. Männer haben Sex mit Männern, ohne sich deshalb als ausschließlich oder überhaupt homosexuell betrachte zu wollen. Schwule leben allein oder in einer Lebensgemeinschaft, meist ohne dafür staatliche Anerkennung zu wollen. Manche Schwule waren oder sind mit einer Frau verheiratet, haben, dacon unabhängig, unter Umständen sogar leibliche Kinder. (Für Lesben mag für all das etwas Entsprechendes gelten.) Das Leben ist schlicht und einfach komplexer, als die Berichterstattung der Mainstream-Medien, der Politikersatz der Berufslesbenundschwulen und die selbstgestrickte Weltanschauung gewisser Blogger es vorsieht.
Homosexuelle, wer auch immer das sein mag, dürfen also heiraten. Das durften sie immer schon. Die meisten wollen es nicht. Diejenigen von ihnen, die paarweise registriert sind, haben zuweilen Kinder, mitunter solche, für die sie noch keine Unterhaltspflichten und Sorgerechte haben, aber haben wollen. Ob und wie das rechtlich möglich ist (auch im Vergleich zur Situation bei Verheirateten), wird 2013 vom Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe beurteilt werden. Ist das so schwer zu verstehe, wenn ich es so einfach erkläre? Man rede also von Lebenspartnerschaften und Kindern, nicht von Homosexuellen. Die hätten eigentlich andere Probleme.

Sonntag, 16. Dezember 2012

Obszöne Trauer

Tote Kinder, tote Erwachsene: eine sehr traurige Sache. Aber. Denn ja, es gibt ein Aber. Das Entsetzen, die Trauer, die Erschütterung über den Massenmord in Newtown sind selbstverständlich. Überall wird darüber berichtet und völlig fremden Menschen überall auf der Welt Gelegenheit zur Anteilnahme (oder bloß zur Sensationslust) gegeben. Und jetzt das Aber: Während Tote in den USA Eilmeldungen und Sondersendungen wert sind, sind Tote in Bagdad oder Gaza oder Kabul oder irgendwo in Afrika, Asien oder Südamerika eher Fälle für die Statistik. Tod ist anscheinend nicht gleich Tod. Werden Amerikaner getötet, nimmt man das überall im Westen sehr persönlich. Töten Amerikaner und ihre Verbündeten, gilt das als Krieg, nationale Sicherheit oder Weltfrieden. Von den täglichen Toten, die — für die Medien stets namen-, gesichts- und geschichtslos — an Hunger und vermeidbaren Krankheiten, anders gesagt: an der Weltwirtschaftsordnung sterben, gar nicht zu reden. Nichts ist dagegen einzuwenden, dass die Opfer von Newtown betrauert werden, aber es ist unanständig, ja geradezu obszön, dass andere ausgelöschte oder beschädigte Leben als offensichtlich weniger betrauernswert gelten.

Warum und wozu Religion?

Die Frage, warum und wozu Religion, stellt sich dem nicht, der je das gemacht hat, was man eine religiöse Erfahrung nennt. Und wer nie eine solche Erfahrung gemacht hat, kann die Frage nicht beantworten. Er müsste wie ein Blinder von der Farbe reden. Wobei ich noch nie davon gehört habe, dass ein blinder Mensch die Berechtigung der Malerei leugnet, bloß weil er sie nicht sieht, während es sehr oft vorkommt, dass fanatisch irreligiöse Menschen alle Religion am liebsten wegerklären möchten. Darin ähneln einander ja atheistische und andere Fundamentalisten: Sie empfinden nicht, wie Gläubige, Freude und Ehrfurcht, sondern Hass und Angst. Sie hassen aus Angst, sie ängstigen sich davor, den Grund unter den Füßen zu verlieren. Gewiss, auch Kleingläubige klammern sich oft an scheinbar Sicheres, an Buchstabe und Zahl, an Vorschrift und Gewohnheit. Echte religiöse Erfahrung hingegen ist immer transgressiv. Sie lässt die Beschränkungen des Alltäglichen hinter sich und konfrontiert mit dem Außerordentlichen. Letztlich ist das Göttliche immer ein Abgrund und der Glaube daran ein Sprung hinein. Die Formen religiöser Praxis mögen verschieden sein, das, dem sie sich zu nähern versuchen ist, sofern man das sagen kann, dasselbe. Das Ungeheure zieht an und soll doch in Schach gehalten werden. Religion ist immer beides: Entgrenzung und Zähmung, Öffnung für das Unfassbare und Einfassung zum Schutz vor ihm. Mitunter verliert sich das eine durch das andere. Doch noch die entleerten Formen verweisen auf die Inhalte, mit denen sie zu füllen wären, wenn man nur wollte. Wer aber grundsätzlich nicht will, dass es, wie man so sagt, „einen Gott gibt“, dem ist in diesem Punkt nicht zu helfen. Sein Wille müsste denn gebrochen oder immerhin umgelenkt werden, und das bewirken nur Ereignisse. Es ist ihm zu wünschen, dass es freudige wären, aber oft erfordert es tragische. Hier ist der religiöse Mensch klar im Vorteil. Er braucht nicht erst Not und Tod, Angst und Zittern, um nach dem zu suchen, was ihm Halt gibt. Er lebt bereits in der Gegenwart des Göttlichen, und die selbstverständliche Reaktion darauf ist, wie gesagt, Ehrfurcht und Freude.

Samstag, 15. Dezember 2012

Schießbudenfiguren mit Friedensnobelpreis

Eben noch haben Van Rompuy, Barroso und Schulz stellvertretend für die Europäische Union in Oslo den Friedensnobelpreis entgegengenommen, da stellt sich der erstgenannte der drei Clowns (assistiert vom zweitgenannten) auch schon hin und verkündet: „Wir wünschen uns eine stärkere Verteidigungsindustrie in Europa, die mehr zu Innovation und Wettbewerbsfähigkeit beiträgt und zu mehr Wachstum und Beschäftigung überall in der Union.“ Bitte was? Noch mehr Rüstungproduktion? Bereits jetzt ist die EU die größte Waffenexporteurin der Welt, noch vor den USA und Russland. Mit anderen Worten: Wo auch immer in der Welt Kriege oder andere bewaffnete Konflikte geführt werden, stehen die Chancen gut, dass europäische Firmen an Tod und Zerstörung verdienen. Und nun, so der Ratspräsident namens der europäischen Regierungschefs, soll noch mehr verdient, also noch mehr getötet, verletzt, zerstört werden? Es gibt also noch nicht genug Leid in der Welt, es sind noch höhere Gewinne möglich. — Was für ein großartiger Einfall 2012 ausgerechnet die EU mit dem Friedensnobelpreis zu bedenken. Ist das norwegischer Humor?

Mittwoch, 12. Dezember 2012

Schnipp, schnapp, Grundrecht ab

Ein paar Hundert Leute werfen Kärtchen in eine Urne, und schwuppdiwupp: aus Unrecht wird Recht. Mit anderen Worten, der Deutsche Bundestag hat ins Bürgerliche Gesetzbuch einen „§ 1631d Beschneidung des männlichen Kindes“ eingefügt, der da lautet: „(1) Die Personensorge umfasst auch das Recht, in eine medizinisch nicht erforderliche Beschneidung des nicht einsichts- und urteilsfähigen männlichen Kindes einzuwilligen, wenn diese nach den Regeln der ärztlichen Kunst durchgeführt werden soll. Dies gilt nicht, wenn durch die Beschneidung auch unter Berücksichtigung ihres Zwecks das Kindeswohl gefährdet wird. (2) In den ersten sechs Monaten nach der Geburt des Kindes dürfen auch von einer Religionsgesellschaft dazu vorgesehene Personen Beschneidungen gemäß Absatz 1 durchführen, wenn sie dafür besonders ausgebildet und, ohne Arzt zu sein, für die Durchführung der Beschneidung vergleichbar befähigt sind.“
Hört damit Beschneidung auf, eine Körperverletzung zu sein? Nein. Wird damit das Grundgesetz verletzt (das in Art. 2 Abs. 2 das Recht auf körperliche Unversehrtheit erwähnt)? Meiner Meinung nach: Ja.
Durch den neuen Paragraphen wird keineswegs, wie in der vorausgegangenen Debatte immer wieder behauptet wurde, „jüdisches und muslimisches Leben“ in Deutschland weiterhin ermöglicht, denn erstens wäre die Existenz jüdischer und muslimischer Religionsgemeinschaften durch Aufrechterhaltung des Verbotes von Körperverletzungen an Unmündigen keineswegs gefährdet; zweitens nimmt der Gesetzestext in keiner Weise auf bestimmte Religionsgemeinschaften und deren Traditionen Bezug (was ja wohl ebenfalls dem Grundgesetz widerspräche, insofern dieses verbietet, jemanden wegen seines Glaubens oder seiner religiösen Anschauungen zu benachteiligen oder zu bevorzugen); und drittens erteilt der neue Paragraph „Personensorgeberechtigten“ (also Eltern und ähnlichem Gesindel) eine Blankovollmacht, aus jedem beliebigen Grund oder auch ohne einen solchen —  also, ausdrücklich sei’s vermerkt, nicht bloß aus religiösen Gründen! —  einen ihrer „Personensorge“ unterstehen Knaben beschneiden zu lassen. Je jünger das Kind, desto besser, denn es muss einsichts- und urteilsunfähig sein, mit anderen Worten: wehrlos.
Beim Thema Beschneidung geht es, anders als es von interessierter Seite dargestellt wurde und wird, nicht um Religion. Wer Texte von mir kennt, weiß, dass bei mir von Religionsfeindlichkeit keine Rede sein kann. Trotzdem bin ich — persönlich übrigens nicht betroffen —  ein entschiedener Gegner der Beschneidung Unmündiger. Warum? Weil sich in solchen Körperverletzungen das alte „Recht“ von Eltern, über ihre Kinder zu verfügen, verwirklicht. Ich bin kein großer Freund der Moderne. Aber zu den modernen Errungenschaften, die ich vorbehaltlos anerkenne, gehört das Verbot, Kinder zu schlagen, zu quälen, zu benützen, für sich arbeiten zu lassen, sie gar zu töten, wie es einem gefällt.
Gegenüber weit grausameren Verbrechen mag eine Beschneidung als eine geringe Verletzung des Kindeswohles erscheinen. Ihrer kulturgeschichtlichen Herkunft nach war sie allerdings ohnehin von vor allem symbolischen Wert: eine Abgrenzung von Nichtbeschnittenen und eine stellvertretende Kastration. Viel jünger ist die Sexualfeindschaft, die unter dem Vorwand der Hygiene (und vermutlich ebenfalls einem maternalen Kastrationswunsch) in den USA zum exzessiven Zirkumzisieren geführt hat (geschätzte 80% der Männer in den USA sind beschnitten). Für meine Argumentation spielen freilich die Motive der Eltern, mögen sie gut oder schlecht sein, keine Rolle: Es gilt, Schwache gegen Starke in Schutz zu nehmen und darum auch die freie Verfügungsgewalt der Eltern über ihre Kinder zu bekämpfen.
Nochmals: Von einem Körperverletzungsverbot (das ein Beschneidungsverbot umfasst, aber auch andere, zum Teil uralte Traditionen, die zufällig in Deutschland nicht vorkommen, wie Tellerlippen oder Halsverlängerungen usw.) ist die Religionsfreiheit in keiner Weise betroffen. Die Eltern bleiben ja Muslime oder Juden, egal, ob ihr Sohn symbolisch kastriert wird oder nicht. Von einer Verletzung der Religionsfreiheit des unmündigen Knaben aber kann ja wohl nicht im Ernst die Rede sein.
Der Deutsche Bundestag hat sich nun also gegen das Kindeswohl entschieden. Wäre es nur um die Muslime gegangen, hätte man mit Sicherheit keinen neuen Paragraphen beschlossen. Der rhetorische Terror von bestimmten jüdischen Funktionären freilich setzte die Politik unter Zugzwang. Aus lauter Angst, es sich mit „den Juden“ zu verderben (und dann von Israel und den USA scheel angesehen zu werden), hat man nun Sonderrecht geschaffen. Dass es  in den jüdischen Gemeinden auch andere, leisere, weniger gewaltorientierte  Stimmen gibt, interessierte nicht.
Vielleicht ist juristisch nichts mehr dagegen zu machen. Aber wenn die Erfahrungen, die so viele Opfer in der Zeit der NS-Herrschaft machen mussten, etwas lehren, dann nicht zuletzt dies: Gesetze machen aus Unrecht nicht Recht. Darum bleibt Beschneidung Körperverletzung und als solche Unrecht, möge der § 1631d BGB lauten, wie er will.

Sonntag, 9. Dezember 2012

Kurze Bemerkung zum Atheismus

Es gibt verschiedene Formen von Atheismus. Wirklich glaubwürdig wäre aber wohl nur ein Atheist, der aufrichtig bedauert, dass seiner Überzeugung nach Gott nicht existiert. Denn wer das Dasein Gottes nicht für unbedingt wünschenswert hält, hat entweder nicht verstanden, was gemeint ist, wenn von Göttlichem die Rede ist, oder aber, er versteht es und ist trotzdem dagegen, dann wäre er bewusst böswillig. Die meisten Atheismen bewegen sich nun allerdings irgendwo dazwischen, zwischen Unverstand und Groll, zwischen Gleichgültigkeit und Ressentiment. Bei vielen Atheisten hat man den Eindruck, sie suhlen sich in ihrem Unglauben und sind nicht zufrieden, wenn sie nicht mit Dreck spritzen können. Dazu kommt oft der triumphalistische Aberglaube, die „wahren“ Gründe des Gottesglauibens durchschaut zu haben. Seltsamerweise werden die Gründe für den eigenen Atheismus nie so genau betrachtet. Dass es nur Vernunftgründe seien, die den Ausschlag geben, könnte nur glauben, wer sich noch nie mit einem Atheisten unterhalten hat. Meist geht es um Unvermögen und Unwillen. Wer durch Gläubige in irgendeiner Weise verletzt wurde, ist noch am ehesten entschuldigt, auch wenn der Schluss, vom Fehlverhalten von Gläubigen auf die Irrigkeit des Glaubens zu schlissen, offensichtlich falsch ist. Ansonsten sollten Atheisten sich der Redlichkeit halber klar machen, dass sie etwas negieren, was sie nicht begreifen. Unglaube ist, wie das Wort schon sagt, ein Mangel. Wer ihn für eine Errungenschaft hält, findet sich unversehens in Gesellschaft von Hitler, Stalin, Mao und Pol Pot wieder. Gewiss, auch Gläubige haben im Namen des Glaubens Verbrechen begangen, aber dass Verbrechen und Gottesglaube einander widersprechen, spricht ja gerade für diesen — nicht für jenes und nicht für Glaubensschwund, Glaubensverlust oder Glaubensgegnerschaft.

Freitag, 7. Dezember 2012

Joachim der Peinliche

Gäbe es den Joachim-von-Ribbentrop-Preis für Fehlleistungen auf dem diplomatischem Parkett, er müsste 2012 in der noch rasch zu schaffenden Sonderkategorie „Peinlichstes Staatsoberhaupt des Jahres“ verliehen werden an — Joachim Gauck. Der Mann trifft den Mann, der geistliches Oberhaupt einer Milliarde Katholikinnen und Katholiken ist, nach der Lehre seiner Kirche als Stellvertreter Christi auf Erden gilt und gerade den dritten Band eines Buches über Jesus von Nazareth veröffentlicht hat. Und was geruht der preußische Protestant, Häuptling einer der reichsten und einflussreichsten Nationen der Welt, dem Heiligen Vater als Geschenk mitzubringen? Einen Wanderstock, eine Dose Lebkuchen und seine, also Gaucks, Autobiographie. Hoffentlich hat er in diese auch eine passende Widmung hineingeschrieben: „Meinem lieben Papst in freundlicher Herablassung sein Herr Bundespräsident.“

Donnerstag, 6. Dezember 2012

Zur Zukunft des „Qualitätsjournalismus“

Wie wird derzeit nicht wieder über die „Gratismentalität“ der Mediennutzer gejammert! Die treibe die guten, alten Printmedien in den Ruin. Professionelle Qualität aber koste, also müsse, auch im Internet, „im Prinzip“ dafür bezahlt werden. Nun hat ja eigentlich niemand die Verlage je daran gehindert, sich für die Internetauftritte ihrer Zeitungen und Zeitschriften Bezahlmodelle auszudenken. Wenn anscheinend bisher nichts davon zu ihrer Zufriedenheit funktioniert hat, ist das ihr Problem, nicht das der Leser. Als ob es deren Pflicht wäre, den Verlagen Umsätze zu verschaffen, damit ihrerseits das Publikum mit wunderbaren Erzeugnissen beglücken können!
Vernünftigerweise bezahlt man auch im Internet wie sonst im Leben nur, wenn man unbedingt muss. Alles andere ist Trinkgeld, Spende, Almosen, Geschenk. Ob man zahlen muss, ist aber nicht eine moralische Frage der Dankbarkeit für angebotenen Qualität, denn die kann es auch umsonst geben, sondern eine rein technische Frage des Zugangs. Wird dieser durch eine Bezahlschranke eingeschränkt, erhöht das sogar noch die Attraktivität kostenfreier Angebote. Lediglich eine Art von ökonomischer Totalzensur -- „Für alles muss bezahlt werden oder es wird abgeschaltet!“ -- könnte das verhindern.
Die Annahme, nur was etwas koste, sei etwas wert (und umgekehrt: was einem etwas wert sei, dafür wolle man auch bezahlen), ist schlicht falsch. Sagen wir mal so: Mit journalistischen Produkten ist es wie mit Sex: Wenn man dafür bezahlt, ist er deshalb nicht notwendig besser. Und „Professionalität“ bedeutet zuweilen das Gegenteil von dem, was der Kunde eigentlich wünscht.
Viele meinen ja, weil sie einer Redaktion angehören und ein regelmäßiges Einkommen beziehen, sei das, was sie machen, immer „Qualitätsjournalismus“. Die Wirklichkeit sieht freilich anders aus. Die redaktionellen Beiträge der allermeisten Zeitungen sind schlicht Müll. Schlecht geschrieben, schlecht gedacht, schlecht recherchiert. Das stört die allermeisten Leser aber gar nicht. Sie wollen nicht gute Texte lesen, sondern Texte, die gut ihre Bedürfnisse befriedigen. Gewiss, so manche Verblödungszeitung ist hochprofessionell gemacht, aber will man das wirklich Qualitätsjournalismus nennen?
Auch von den bösen, bösen, die Printmedien in den Ruin treibenden Gratisangeboten im Internet ist das meiste Müll. Auch von den Blogs kann man mindestens 999 Promille getrost vergessen, wenn man nach guter schreiberischer Qualität, nach fundierter Informationsbeschaffung sucht. Trotzdem funktioniert’s. Jeder holt sich ungefähr das heraus, was er möchte. Wie das finanziert wird, ist nicht notwendig von Interesse.
Das finanzielle Interesse der Verlage und der Verlagsmitarbeiter hingegen ist manifest. Verlagen ist „Qualitätsjournalismus“ herzlich egal, die Kasse muss stimmen. Das wird durch Auflagen und Reichweiten erreicht, die für Werbekunden interessant sind. Wenn Dreck sich besser verkauft als Hochwertiges, hat Hochwertiges keine Chance. Die Verlage, von denen hier die Rede sind (es gibt ja idealistische Projekte, die formell auch Verlage sind), sind nun einmal Wirtschaftsunternehmen und verhalten sich auch so.
Selbstverständlich wäre es Journalisten zu gönnen, dass sie für gute Arbeit gut bezahlt werden. (Dass sie offenkundig oft auch für schlechte durchaus bezahlt werden, sei hier einmal nicht problematisiert.) Aber Bezahlung ist eine Bedingung der wirtschaftlichen Existenz, nicht des journalistischen Könnens und Verwirklichens.
Nach der Logik „Nur bezahlte Leistung ist gute Leistung“ müsste man eigentlich auch über ein Honorar für Leser nachdenken. Es gibt ja unter diesen auch gute und schlechte, gründliche und oberflächliche, interessierte und beiläufige, Vielleser und Halbanalphabeten, Mitdenker und Dazwischenquatscher — wie eben bei den Journalisten auch. Und Leser sind für das Bestehenkönnen eines Lesemediums mindestens genauso wichtig wie Macher. Warum also nicht auch das Lesen bezahlen? Ich wäre dafür.
Verlage und ihre Angestellten sehen das naturgemäß anders. Das ist ihr Problem. Und dafür sollen sie, wenn sie können, Lösungen finden. Wenn sie’s nicht können, dann auf Wiedersehen. Viele Menschen verlieren durch Veränderungen von Marktlagen ihre Jobs, und es sind auch schon ganz andere Berufe unwiderruflich verschwunden. Warum nicht auch die bezahlten Zeitungsmacher? Geschrieben und gelesen wird trotzdem werden. Vielleicht, wenn ich mal ein bisschen visionär sein darf, ist gutes journalistisches Arbeiten in Zukunft eine der Tätigkeiten, die nicht oder nicht immer bezahlt, aber durch ein bedingungsloses Grundeinkommen ermöglicht werden. Eines steht jedenfalls fest: Je freier von wirtschaftlichen Vorgaben und Abhängigkeiten sie ist, desto freier gedacht und gemacht kann Medienarbeit sein. Über „Qualität“ entscheiden sowieso ganz andere Faktoren.

Mittwoch, 5. Dezember 2012

Konservativ? Zwecklos!

Es hat ihnen nichts genützt. Obwohl sie mit allem Nachdruck beteuerten, sie und die gleichgeschlechtlich Verpartnerten draußen im Lande seien mindestens so konservativ wie die Mehrheit der CDU-Parteitagsdelegierten, die ihr Anliegen schließlich überstimmte: Sie bekamen trotzdem die Zustimmung zur steuerrechtlichen Gleichbehandlung der Homo-Registrationspartnerschaft mit der Hetero-Ehe nicht geschenkt. All die leider völlig ungeheuchelten Beschwörungen von Familienwerten waren völlig zwecklos. Nicht einmal, dass Jens Spahn David Cameron zitierte, der bekanntlich sagte, „I don’t support gay marriage despite being a Conservative. I support gay marriage, because I am a Conservative“, konnte die innerparteilichen Gegner der Gleichbehandlung umstimmen. (Oder bewirkte möglicherweise gar das Gegenteil. Denn wer in Deutschland mag schon Cameron? Mutti und ihre Fans bestimmt nicht.)
Doch die, die sich jetzt über die bösen, bösen Schwarzen grämen, die so schrecklich rückschrittlich sind, mögen sich trösten: Es ging ja bloß ums Ehegattensplitting, nicht etwa um die Abschaffung der Homo-Ehe. Zur Debatte stand also lediglich eine steuerrechtliche Begünstigung, die es in ganz Europa ohnedies nur in Deutschland (und Luxemburg) gibt und von der wohlgemerkt einkommensstarke Paare in höherem Maße profitieren als Paare mit mittleren und kleinen Einkommen. Ohne das so zu wollen (oder zu bemerken) hat die CDU am Dienstag in Hannover im Grunde also lediglich gegen die Ausweitung einer ungerechten (und unterm Gesichtspunkt des EU-Rechts ziemlich problematischen) Regelung gestimmt … Kein Grund zum Heulen also.
Und dann: Die Sozialdemokraten, die ja 2013 voraussichtlich wieder Juniorpartner in einer Großen Koalition werden, haben in ihrem Programm sogar die Abschaffung des Ehegattensplittings stehen! (Wäre doch eine schöne Ironie der Geschichte: Die CDU hätte jetzt für die Ausweitung des Splittings votiert, dann aber im Koalitionsabkommen womöglich der Abschaffung zugestimmt …) Regt das irgendjemanden auf? Nein, weil keiner die Sozen ernst nimmt.
Das wirklich Traurige und Ärgerliche an der ganzen Debatte aber, ob nun in der CDU oder sonstwo in Deutschland, ist in Wahrheit, dass die Frage „Ehegattensplitting auch für Homos, ja oder nein“ als das einzige homopolitische Thema gelten darf, das überhaupt noch in der Öffentlichkeit vorkommt. Darüber aber könnte man sich jetzt einmal ausnahmsweise zurecht grämen!

Sonntag, 2. Dezember 2012

Müssen Vegetarier Fleischessen für vegetarisch halten?

Über die römisch-katholische Kirche kann man immer alles behaupten, es wird immer gern geglaubt oder zumindest weitererzählt, es mag noch so unglaubwürdig sein, Hauptsache, es ist boshaft. „Homo-Ehe unterstützt: Katholische Kirche verstößt 17-Jährigen“, titelte beispielsweise im November queer.de. Ach, du heilige Inquisition!, das klingt wirklich übel. Man sieht vorm geistigen Auge geradezu eine Prozession von Männern in Kapuzenkutten, die unterwegs sind, einen Scheiterhaufen zu entzünden, auf den ein unschuldiger junger Mensch gefesselt ist, dessen einziges Verbrechen darin bestanden hat, eine vom überholten Dogma der Amtskirche abweichende Auffassung zu vertreten. Darf derlei in unserem schönen 21. Jahrhundert denn noch sein?
Leider stellt sich der Fall dann im Text unterhalb des reißerischen Titels sehr undramatisch dar. Der 17-jährige Lennon Cihak aus Minnesota habe im Vorfeld der US-amerikanischen Präsidentenwahl, bei der in seinem Bundesstaat auch eine gegen die „Homo-Ehe“ gerichtete Volksabstimmung stattfinden sollte, sich selbst neben einem verbotsbefürwortenden Plakat, das er mit einem verbotsgegnerischen Text überschriebenen habe, photographiert und das Bild auf Facebook gepostet. „Mehrere seiner Schulfreunde haben den ‘Gefällt-mir’-Button geklickt, aber nicht sein Pfarrer. Hochwürden ließ den Bub[en] wissen, dass er mit dieser politischen Einstellung kein guter Katholik sei[,] und verweigerte ihm das Sakrament der Firmung.“
Was denn, wegen dieses einen harmlosen Fotos kein guter Katholik? Das ist mal wieder typisch für diesen reaktionären Verein. Und queer.de zitiert die Mutter des Ungefirmten (nach dem „Grand Forks Herald“): „Wir kennen ja die katholischen Ansichten, aber ich hätte nie gedacht, dass jemandem die Firmung verweigert wird, wenn er kein Hunder[t]prozentiger ist. Das hat mich wirklich schockiert.“
Ach,. die Arme. Ja, wirklich, das kommt überraschend, dass diese bornierten Pfaffen erwarten, dass man das Bekenntnis zu den Lehren der Kirche, das man bei der Firmung ablegt, auch ernst nehmen müsse. Wer rechnet denn mit sowas!
Ein Schönheitsfehler des Berichtes auf queer.de ist allerdings, dass im Text von der im Titel behaupteten Verstoßung keine Rede mehr ist. Ein Firmkandidat wurde für ungeeignet befunden, gefirmt zu werden, mehr hat eigentlich nicht stattgefunden. Unter journalistischem Gesichtspunkt kommt es allerdings noch schlimmer. Denn da queer.de sich nicht die Mühe machte, bei der Recherche auch die Sichtweise der anderen, in diesem Falle: beschuldigten Seite wahrzunehmen, entpuppt sich, wenn man das nachholt, der ganze Artikel als Falschmeldung. Man könnte auch sagen: als kirchenfeindliche Hetze.
Der angebliche Bösewicht in der Geschichte stellt die Sache jedenfalls in einem entscheidenden Punkt anders dar. Pfarrer Gary LaMoine berichtete von der Angelegenheit in einem offenen Brief an seine Gemeinde. Darin heißt es, einige Firmkandidaten hätten sich entschieden, nicht in die volle Gemeinschaft mit der katholischen Kirche einzutreten, weil sie nicht mit den Lehren der Kirche hinsichtlich der Ehe übereinstimmten. Der Pfarrer hebt hervor, dass es die Entscheidung dieser Kandidaten war, nicht gefirmt zu werden, die sie ausdrücklich gegenüber einer oder mehreren Personen, die den Firmunterrichts abhielten, geäußert hatten.
Einer dieser Kandidaten habe seinen Wunsch, gefirmt zu werden, nach dem Überschmieren eines Pro-Marriage-Plakates und dem Posten einer Aufnahme davon bei Facebook zurückgezogen. Er, LaMoine, habe den jungen Mann zur Rede gestellt, warum er derlei mache, wenn doch wisse, dass er damit zentrale Lehren der Kirche über die Ehe ablehne, worauf der Junge auf persönliche Gründe für seine Ablehnung verwiesen und gesagt habe, er wolle nicht mehr gefirmt werden. Das stehe, so der Geistliche, im Widerspruch zu späteren Äußerungen des Kandidaten und seiner Familie. Es stimme aber nicht, dass, wie behauptet, das Sakrament der Firmung verweigert worden sei, vielmehr habe der Kandidat selbst Abstand davon genommen. Diese Aussage LaMoines ist insofern glaubwürdig, als er zugleich erklärt: Wenn der Firmkandidat nicht selbst auf den Wunsch, gefirmt zu werden, verzichtet hätte, hätte er, der Gemeindepfarrer, ihn von Gewährung des Firmsakramentes ausgeschlossen.
Warum sollte Hochwürden LaMoine in der Frage, ob er ausgeschlossen habe oder der Firmkandidat zurückgezogen, lügen, wenn er doch zugibt, er hätte ausgeschlossen, wenn nicht zurückgezogen worden wäre? Andererseits scheint die Familien Cihak das mediale Interesse zu genießen und der Kirche gern ans Bein zu pinkeln. Warum sie überhaupt noch weiter der katholischen Kirche angehören wollen, obwohl sie von ihr so offensichtlich nichts halten, bleibt rätselhaft. Eine Verstoßung fand jedenfalls nicht statt. Ein Firmkandidat wollte aus gutem Grund nicht mehr gefirmt werden. That’s it.
Uns selbst wenn es anders gewesen wäre, als es offensichtlich war, wenn also einem Kandidaten der Empfang des Firmsakramentes verweigert worden wäre, wieso ist das ein Problem? Und für wen?
Gehen wir die Sache grundsätzlich an: In einer pluralistischen Gesellschaft steht es jedem in fast jeder Hinsicht frei, für dieses oder gegen jenes zu sein. Wenn beispielsweise Lennon Cihak für die Homo-Ehe ist, dann ist das, zivilgesellschaftlich gesehen, sein gutes Recht. Viele, nicht alle, werden ihm zustimmen. Und wenn andererseits die katholische Kirche gegen die Homo-Ehe ist, dann ist das deren gutes Recht. Viele, nicht alle, werden ihr widersprechen.
Weder die Zustimmung der einen noch der Widerspruch der anderen macht eine Überzeugung zu einer richtigen oder falschen. Ob eine Überzeugung richtig oder falsch ist, spielt in einem die Freiheit der Meinungsäußerung schützenden Rechtsstaat auch keine Rolle hinsichtlich des Rechtes, sie zu vertreten. Und es betrifft auch nicht — und das ist der in unserem Fall entscheidende Punkt — das Recht eines Vereines, von seinen Mitgliedern zu erwarten und zu verlangen, dass sie die Überzeugungen, auf denen nach Meinung der zuständigen Vereinsinstanzen der Verein gegründet ist, teilen und ihnen nicht öffentlich widersprechen.
Um ein Beispiel zu bringen: Sollte ein Vegetarier-Verein es nicht überaus problematisch finden dürfen, wenn manche seiner Mitglieder darauf bestehen, das Essen von Fleisch müsse endlich als genauso vegetarisch gelten wie das Essen von Gemüse? Man mag die Haltung der katholischen Kirche zur Ehe für falsch halten. Das darf man auch durchaus sagen. Aber ist es berechtigt, sie zu diffamieren, weil sie von ihren Mitgliedern Konsequenz verlangt?
Ich persönlich, falls das jemanden interessiert, bin nicht Mitglied der römisch-katholischen Kirche. Aber ich achte deren Recht darauf, homosexuelle Betätigung für Sünde zu halten, wie ich auch das Recht von Vegetariern achte, Fleischverzehr für falsch zu halten, obwohl ich in beiden Angelegenheiten, Sexualität und Ernährung, ganz anderen Überzeugungen vertrete. Homosexualität nicht für Sünde zu halten hindert mich im Übrigen nicht, ein Gegner der Homo-Ehe zu sein, wie ich auch ein Gegner der Hetero-Ehe bin. Es ist eben alles nicht so einfach, wie man es sich bei queer.de denkt: Auf der einen Seite die Lesbenundschwulen, die alle für die Homo-Ehe sind, auf der anderen Seite die religiösen Reaktionäre, deren Homophobie zum Himmel schreit.
Vielmehr bedeuten Pluralismus, Meinungsfreiheit, Glaubensfreiheit eben auch: Vegetarierer müssen Fleischesser nicht als Vegetarier akzeptieren. Die katholische Kirche muss Befürworter der Ehe-Öffnung nicht firmen. Und ich darf Fleisch und Gemüse essen, Männer lieben, ohne auch nur einen von ihnen heiraten zu wollen, die Rechte eines Vereins verteidigen, dem ich nicht angehöre und dessen Überzeugungen ich nicht teile — und ich darf den Ton von queer.de unnötig schrill und geradezu hetzerisch finden, wenn es um die katholische Kirche geht.