Zunächst einmal scheint ein Anteil von 3,4 % von sich selbst als lesbisch, schwul, bisexuell oder transgender Identifizierenden gering zu sein im Vergleich mit früher genannten Zahlen. War nicht immer von zehn Prozent Homosexuellen die Rede gewesen? Nun, diese Phantasiezahl hatte wohl immer nur einen symbolischen Wert. Sie ist eine von vielen, oft sehr unterschiedlichen Zahlen, die mit zum Teil grundverschiedenen Mitteln herausgefunden worden sein sollen.
Der erste, der an die Sache wissenschaftlich heranging, war bekanntlich der Biologe Alfred C. Kinsey, der mit seinen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen zunächst das „Sexualverhalten des menschlichen Männchens“ und später auch das „Sexualverhalten des menschlichen Weibchens“ gründlich studierte und dazu 1948 und 1953 Zahlen veröffentlichte. Diese alten Zahlen können allerdings mit den jetzigen der Gallup-Umfrage ganz einfach deshalb nicht verglichen werden, weil jeweils eine ganz andere Sichtweise zu Grunde liegt.
Kinsey fragte nicht nach Selbstkategorisierung, sondern nach wirklichem Verhalten und wirklichem Begehren. Er teilte auch nicht einfach ein in „LBGT“ und „nicht-LBGT“, sondern entwarf bekanntlich eine komplexe Skala, die von 0 = ausschließlich heterosexuell, 1 = überwiegend heterosexuell, nur gelegentlich homosexuell, 2 = überwiegend heterosexuell, aber mehr als nur gelegentlich homosexuell, 3 = gleichermaßen hetero- und homosexuell, 4 = überwiegend homosexuell, aber mehr als nur gelegentlich heterosexuell, 5 = homosexuell, nur gelegentlich heterosexuell bis 6 = ausschließlich homosexuell reichte (und später um x = asexuell erweitert wurde).
Kinseys bahnbrechende (aber oft vergessene) Entdeckung ist, dass es nicht bloß Schwarz und Weiß gibt, sondern viel Grau, dass also die Menschen nicht einfach heterosexuell oder homosexuell sind, sondern sich je nach Akten und Phantasien, nach Gelegenheiten und Gewohnheiten unterschiedlich zuordnen lassen. Es kann einer von Sex mit Männer phantasieren, ohne ihn je zu haben, es kann eine, etwa aus gewerblichen Gründen, mit vielen Männern schlafen, um schließlich mit einer Frau die große Liebe zu finden. Kinseys Skala ist der Versuch, die empirische Vielfalt, die mit der berühmten Einsicht von Wilhelm Fließ und Sigmund Freud in die bisexuelle Natur des Menschen korrespondiert, in abzählbare Verhältnisse zu bringen.
Naturgemäß sind diese Zahlen kritisiert, nachgerechnet, verworfen und bestätigt worden. Darauf kommt es nicht an. Für die Sexualwissenschaft entscheidend ist, um es nochmals zu sagen, dass nicht einer überwältigenden Zahl von exklusiv Heterosexuellen eine winzige Zahl von exklusiv Homosexuellen gegenübersteht, sondern dass Ausschließlichkeit als solche minoritär ist — wenn auch, als Imagination und Ideal, vorherrschend — und Abweichungen von der Exklusivitätsnorm in großer Zahl vorkommen.
Hier ein paar Daten aus Kinseys Untersuchungen: „37 % der gesamten männlichen Bevölkerung haben zumindest einige physische homosexuelle Erlebnisse bis zum Orgasmus zwischen Pubertät und Greisenalter. Dies bedeutet nahezu zwei von fünf Männern. 50 % der Männer, die bis zum Alter von 35 ledig bleiben, haben vom Beginn der Pubertät an physisch homosexuelle Erlebnisse bis zum Orgasmus. 13 % der Männer reagieren erotisch auf andere Männer ohne tatsächliche homosexuelle Kontakte nach Beginn der Pubertät zu haben. 30 % aller Männer haben zumindest einzelne homosexuelle Erlebnisse oder Reaktionen (Werte 1-6) über eine Periode von mindestens drei Jahren zwischen dem Alter von 16 und 55 Jahren. Es handelt sich also um einen von drei Männern, die die frühen Jahre der Pubertät überschritten haben. 25 % der männlichen Bevölkerung haben mehr als einzelne Erlebnisse oder Reaktionen (Werte 2-6) über mindestens drei Jahre zwischen dem Alter von 16 bis 55 Jahren. In Durchschnittszahlen heißt das, dass etwa einer von vier Männern derart deutliche und fortgesetzte homosexuelle Erlebnisse entweder gehabt hat oder haben wird. 18 % der Männer haben mindestens genau so viele homosexuelle wie auch heterosexuelle Erlebnisse in ihrer Geschichte (Werte 3-6) über mindestens drei Jahre im Alter von 16 bis 55 Jahren. Dies ist mehr als einer von sechs in der weißen männlichen Bevölkerung. 13 % der Bevölkerung weisen stärkere Homosexualität als Heterosexualität auf (Werte 4-6) über mindestens drei Jahre im Alter von 16 bis 55 Jahren. Das bedeutet einer von acht aus der weißen männlichen Bevölkerung. 10 % der Männer sind mehr oder weniger ausschließlich homosexuell (Werte 5 oder 6) durch mindestens drei Jahre im Alter von 16 bis 55 Jahren. Das ist einer von zehn der weißen Bevölkerung. 8 % der Männer sind ausschließlich homosexuell (Wert 6) durch mindestens drei Jahre im Alter von 16 bis 55 Jahren, das heißt einer von dreizehn Männern. 4 % der weißen Männer sind ihr ganzes Leben hindurch ausschließlich homosexuell (nach Beginn der Pubertät).” [Zitiert nach meinem Vortrag „Schwarz, Weiß und Grau“; siehe dort die Quellenangaben, St.B.]
Was Kinseys Zahlenmaterial insgesamt abzubilden versucht, ist ein komplexes Feld. Nicht persönliche Selbstzuschreibung einer einmal angenommenen Identität ist das Thema, sondern eine möglichst objektive Erkundung von sich aus teils vorübergehenden, teils lebenslangen Verhaltensweisen und Begehrensformen zusammensetzenden Sexualbiographien.
Was nun die Prozentzahlen als solche betrifft, so fällt ein Vergleich, falls er überhaupt sinnvoll versucht werden kann, sehr schwer. Den 4 % weißer Exklusivhomosexueller bei Kinsey stehen bei Gallup 3,3 % weißer Männer gegenüber, die sich selbst als „lesbisch, schwul, bisexuell oder transgender“ identifizieren. Da von dem Gallup-Wert noch die nicht exklusiv homosexuellen Transgender-Personen und die Bisexuellen abzuziehen wären (und die rein theoretisch mögliche Zahl weißer Männer, die eine lesbische Identität zu haben meinen …), bleibt von den 3,3 % nicht mehr allzu viel übrig, jedenfalls deutlich weniger als 4.
Das ist verblüffend. Hat sich der Anteil der Schwulen an der weißen Bevölkerung der USA seit den 40er Jahren etwa stark reduziert? Und das trotz sexueller Revolution, trotz schwuler Emanzipationsbewegung, trotz permissiver Gesellschaft? Und was ist aus den 18 % geworden, die laut Kinsey gleich viele homosexuelle wie auch heterosexuelle Erlebnisse haben, also wohl als bisexuell zu bezeichnen wären? Und aus den 13 %, die mehr homosexuelle als heterosexuelle Erlebnisse haben? Ging von denen keiner ans Telefon oder hat man sie bloß in einer „falschen“, nämlich doch überwiegend heterosexuellen Phase erwischt?
Das Rätsel um die Zahlen ist gar keines. Kinsey und seine Mitarbeiter wollten anhand objektiver Kriterien mit objektivierbaren Methoden objektive Fakten über das Sexualverhalten ermitteln. (Ob ihnen das gelungen ist, steht auf einem anderen Blatt.) Die Gallup-Umfrage verlangte nach einer subjektiven Identifizierung. Der Kinsey-Report beschrieb die Vielfalt und wohl auch Widersprüchlichkeit sexueller Praktiken und Wünsche. Was das Gallup-Institut herausgefunden hat — weil es auch gar nichts anderes herausfinden wollte —, ist lediglich, wer bereit ist, sich einer vorgegebenen Kategorie zuzuordnen. Hier rechnerische Vergleiche anzustellen, hieße Äpfel mit Birnen zu verrechnen.
Der erste, der an die Sache wissenschaftlich heranging, war bekanntlich der Biologe Alfred C. Kinsey, der mit seinen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen zunächst das „Sexualverhalten des menschlichen Männchens“ und später auch das „Sexualverhalten des menschlichen Weibchens“ gründlich studierte und dazu 1948 und 1953 Zahlen veröffentlichte. Diese alten Zahlen können allerdings mit den jetzigen der Gallup-Umfrage ganz einfach deshalb nicht verglichen werden, weil jeweils eine ganz andere Sichtweise zu Grunde liegt.
Kinsey fragte nicht nach Selbstkategorisierung, sondern nach wirklichem Verhalten und wirklichem Begehren. Er teilte auch nicht einfach ein in „LBGT“ und „nicht-LBGT“, sondern entwarf bekanntlich eine komplexe Skala, die von 0 = ausschließlich heterosexuell, 1 = überwiegend heterosexuell, nur gelegentlich homosexuell, 2 = überwiegend heterosexuell, aber mehr als nur gelegentlich homosexuell, 3 = gleichermaßen hetero- und homosexuell, 4 = überwiegend homosexuell, aber mehr als nur gelegentlich heterosexuell, 5 = homosexuell, nur gelegentlich heterosexuell bis 6 = ausschließlich homosexuell reichte (und später um x = asexuell erweitert wurde).
Kinseys bahnbrechende (aber oft vergessene) Entdeckung ist, dass es nicht bloß Schwarz und Weiß gibt, sondern viel Grau, dass also die Menschen nicht einfach heterosexuell oder homosexuell sind, sondern sich je nach Akten und Phantasien, nach Gelegenheiten und Gewohnheiten unterschiedlich zuordnen lassen. Es kann einer von Sex mit Männer phantasieren, ohne ihn je zu haben, es kann eine, etwa aus gewerblichen Gründen, mit vielen Männern schlafen, um schließlich mit einer Frau die große Liebe zu finden. Kinseys Skala ist der Versuch, die empirische Vielfalt, die mit der berühmten Einsicht von Wilhelm Fließ und Sigmund Freud in die bisexuelle Natur des Menschen korrespondiert, in abzählbare Verhältnisse zu bringen.
Naturgemäß sind diese Zahlen kritisiert, nachgerechnet, verworfen und bestätigt worden. Darauf kommt es nicht an. Für die Sexualwissenschaft entscheidend ist, um es nochmals zu sagen, dass nicht einer überwältigenden Zahl von exklusiv Heterosexuellen eine winzige Zahl von exklusiv Homosexuellen gegenübersteht, sondern dass Ausschließlichkeit als solche minoritär ist — wenn auch, als Imagination und Ideal, vorherrschend — und Abweichungen von der Exklusivitätsnorm in großer Zahl vorkommen.
Hier ein paar Daten aus Kinseys Untersuchungen: „37 % der gesamten männlichen Bevölkerung haben zumindest einige physische homosexuelle Erlebnisse bis zum Orgasmus zwischen Pubertät und Greisenalter. Dies bedeutet nahezu zwei von fünf Männern. 50 % der Männer, die bis zum Alter von 35 ledig bleiben, haben vom Beginn der Pubertät an physisch homosexuelle Erlebnisse bis zum Orgasmus. 13 % der Männer reagieren erotisch auf andere Männer ohne tatsächliche homosexuelle Kontakte nach Beginn der Pubertät zu haben. 30 % aller Männer haben zumindest einzelne homosexuelle Erlebnisse oder Reaktionen (Werte 1-6) über eine Periode von mindestens drei Jahren zwischen dem Alter von 16 und 55 Jahren. Es handelt sich also um einen von drei Männern, die die frühen Jahre der Pubertät überschritten haben. 25 % der männlichen Bevölkerung haben mehr als einzelne Erlebnisse oder Reaktionen (Werte 2-6) über mindestens drei Jahre zwischen dem Alter von 16 bis 55 Jahren. In Durchschnittszahlen heißt das, dass etwa einer von vier Männern derart deutliche und fortgesetzte homosexuelle Erlebnisse entweder gehabt hat oder haben wird. 18 % der Männer haben mindestens genau so viele homosexuelle wie auch heterosexuelle Erlebnisse in ihrer Geschichte (Werte 3-6) über mindestens drei Jahre im Alter von 16 bis 55 Jahren. Dies ist mehr als einer von sechs in der weißen männlichen Bevölkerung. 13 % der Bevölkerung weisen stärkere Homosexualität als Heterosexualität auf (Werte 4-6) über mindestens drei Jahre im Alter von 16 bis 55 Jahren. Das bedeutet einer von acht aus der weißen männlichen Bevölkerung. 10 % der Männer sind mehr oder weniger ausschließlich homosexuell (Werte 5 oder 6) durch mindestens drei Jahre im Alter von 16 bis 55 Jahren. Das ist einer von zehn der weißen Bevölkerung. 8 % der Männer sind ausschließlich homosexuell (Wert 6) durch mindestens drei Jahre im Alter von 16 bis 55 Jahren, das heißt einer von dreizehn Männern. 4 % der weißen Männer sind ihr ganzes Leben hindurch ausschließlich homosexuell (nach Beginn der Pubertät).” [Zitiert nach meinem Vortrag „Schwarz, Weiß und Grau“; siehe dort die Quellenangaben, St.B.]
Was Kinseys Zahlenmaterial insgesamt abzubilden versucht, ist ein komplexes Feld. Nicht persönliche Selbstzuschreibung einer einmal angenommenen Identität ist das Thema, sondern eine möglichst objektive Erkundung von sich aus teils vorübergehenden, teils lebenslangen Verhaltensweisen und Begehrensformen zusammensetzenden Sexualbiographien.
Was nun die Prozentzahlen als solche betrifft, so fällt ein Vergleich, falls er überhaupt sinnvoll versucht werden kann, sehr schwer. Den 4 % weißer Exklusivhomosexueller bei Kinsey stehen bei Gallup 3,3 % weißer Männer gegenüber, die sich selbst als „lesbisch, schwul, bisexuell oder transgender“ identifizieren. Da von dem Gallup-Wert noch die nicht exklusiv homosexuellen Transgender-Personen und die Bisexuellen abzuziehen wären (und die rein theoretisch mögliche Zahl weißer Männer, die eine lesbische Identität zu haben meinen …), bleibt von den 3,3 % nicht mehr allzu viel übrig, jedenfalls deutlich weniger als 4.
Das ist verblüffend. Hat sich der Anteil der Schwulen an der weißen Bevölkerung der USA seit den 40er Jahren etwa stark reduziert? Und das trotz sexueller Revolution, trotz schwuler Emanzipationsbewegung, trotz permissiver Gesellschaft? Und was ist aus den 18 % geworden, die laut Kinsey gleich viele homosexuelle wie auch heterosexuelle Erlebnisse haben, also wohl als bisexuell zu bezeichnen wären? Und aus den 13 %, die mehr homosexuelle als heterosexuelle Erlebnisse haben? Ging von denen keiner ans Telefon oder hat man sie bloß in einer „falschen“, nämlich doch überwiegend heterosexuellen Phase erwischt?
Das Rätsel um die Zahlen ist gar keines. Kinsey und seine Mitarbeiter wollten anhand objektiver Kriterien mit objektivierbaren Methoden objektive Fakten über das Sexualverhalten ermitteln. (Ob ihnen das gelungen ist, steht auf einem anderen Blatt.) Die Gallup-Umfrage verlangte nach einer subjektiven Identifizierung. Der Kinsey-Report beschrieb die Vielfalt und wohl auch Widersprüchlichkeit sexueller Praktiken und Wünsche. Was das Gallup-Institut herausgefunden hat — weil es auch gar nichts anderes herausfinden wollte —, ist lediglich, wer bereit ist, sich einer vorgegebenen Kategorie zuzuordnen. Hier rechnerische Vergleiche anzustellen, hieße Äpfel mit Birnen zu verrechnen.
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