Montag, 26. September 2011

Sonnenuntergang, Weltuntergang, Sinnfrage

Ein bezeichnender Fall von leichter Geistesverwirrung durch Wissenschaftsgläubigkeit: „Tatsachen finden schwer den Weg ins menschliche Bewusstsein. Weil sie zu schmerzlich sind, weil sie unser Bild von der Welt und wie sie zu funktionieren hat, stören würden. Die unangenehmen Tatsachen verstecken wir hinter falschen Begriffen. So reden wir vom ‘Sonnenuntergang’, obwohl wir seit Kopernikus wissen, dass es die Erde ist, die sich um die Sonne dreht. Eigentlich müssten wir vom ‘Erduntergang’ sprechen. Wir tun es nicht, weil wir immer noch gekränkt sind, nicht im Zentrum des Universums zu stehen. Und weil es uns erschreckt, dass der Boden, auf dem wir stehen, nicht fest ist.“ Schreibt der Schweizer Schriftsteller Lukas Bärfuss im „Freitag“ („Unangenehme Tatsachen“, 22. September 2011) in einem Text, in dem es dann eigentlich um Thermodynamik und Ökonomie geht, aber nach einem solchen Einstieg kann der Rest auch nicht mehr völlig überzeugend sein.
Bärfuss liegt nämlich völlig daneben. Dass die Sonne aufgeht und untergeht, ist eine Tatsache. Seit es Menschen gibt, haben sie diese beobachtet, und noch heute kann jeder, der zu sehen vermag (und nicht irgendwo eingesperrt ist), jeden Tag einen Sonnenaufgang und einen Sonnenuntergang wahrnehmen. Dass sich hingegen ein Planet namens Erde um sich selbst dreht, eine Bahn um eine Sonne namens Sonne zieht und dabei von einem Mond namens Mond umkreist wird, ist lediglich ein Erklärungsmodell. Ein zugegebenermaßen recht sinnvolles Modell, dass Beobachtungen und Berechnungen gut zusammen bringt. Es gab andere Modelle, etwa das ptolemäische, nach dem die Erde als feststehende Kugel von beweglichen Schalen umgeben ist, an denen Sonne, Mond und Sterne befestigt sind. Dieses heliozentrische Modell besaß lange Gültigkeit, so auch das ganze sogenannte Mittelalter hindurch — in dem nämlich die Erde keineswegs für eine Scheibe gehalten wurde, wie es das aufgeklärte Vorurteil will! —, konnte aber die Bewegungen der Wandelsterne letztlich nicht überzeugend erklären. Kopernikus und Kepler stellten dann, andere antike Überlegungen als die des Ptolemäus aufgreifend, das heliozentrische Modell auf, das den oben erwähnten Vorteil besitzt, weder der Alltagserfahrung noch der wissenschaftlichen Rechenkunst zu widersprechen.
Kurz und knapp: Sonnenaufgänge und Sonnenuntergänge sind Erfahrungstatsachen, etwas ganz anderes sind die Modelle, die bestimmte Beobachtungen und Berechnungen in Einklang zu bringen versuchen. Bärfuss verwechselt das eine mit dem anderen, er hält anscheinend Erklärungsmodelle für Tatsachen und Tatsachen für Vorurteile.
Doch wer da, um Bärfussens eigene Formulierung zu gebrauchen, im Physikunterricht nicht aufgepasst hat, scheint vor allem er selbst zu sein, denn keineswegs ist es ja dem geltenden Modell zufolge die Bewegung der Erde um die Sonne („wie wir seit Kopernikus wissen“), die Sonnenaufgänge und Sonnenuntergänge erklärt, sondern die Drehung der Erde um ihre eigene Achse. Einen „Erduntergang“, von dem Bärfuss phantasiert könnte man also allenfalls von der Sonne aus beobachten (was unmöglich ist) oder vom Mond (was man bekanntlich getan hat) oder sonst einer außerirdischen Position aus.
Weil also schon Bärfussens Darstellung der Verhältnisse in mehrfacher Hinsicht nicht stimmt, ist auch seine Behauptung absurd, die Rede von Sonnenuntergängen statt von Erduntergängen verdränge „unangenehme Tatsachen“. Nun ist ja die These von der Kränkung des Selbstbewusstseins des modernen Menschen durch die modernen naturwissenschaftlichen Erkenntnisse nicht neu. Sigmund Freud etwa sah bekanntlich seine eigenen angeblichen Entdeckungen ebenso wie die von Kopernikus und Darwin als solche Kränkungen an. Nichts könnte freilich falscher sein als dieses Kränkungsmodell. Allein schon, dass Heliozentrik, Darwinismus und Psychoanalyse — hinzuzunehmen wären heute noch Genetik und Hirnforschung — sich solch enormer Beliebtheit erfreuen und fest in den unreflektierten Vorstellungen der Leute verwurzelt sind, verweist doch darauf, dass es keineswegs um ängstlich abgelehnte, sondern um nachdrücklich erwünschte Veränderungen des Selbstbildes geht. Sie stören nicht, sie sind notwendig für das Funktionieren des „aufgeklärten“ (also durch Wissenschaftsgläubigkeit verdummten) Bewusstseins.
Es handelt sich allerdings eben gerade nicht um eine Kränkung, sondern um eine Entlastung, wenn man glauben darf, dass die Erde nur noch irgendein Materieklumpen unter unzählbar vielen anderen Materieklumpen in einem unüberschaubaren Universum ist. Der Glaube so vieler Menschen an „Außerirdische“, der durch nichts außer populäre Mythen gestützt wird, legt von diesem Wunsch, nichts Besonderes und im Kosmos nicht allein zu sein, beredtes Zeugnis ab.
Es handelt sich auch eben gerade nicht um eine Kränkung, sondern um eine Entlastung, wenn man glauben darf, dass der Mensch nur das zufällige Ergebnis von Umweltbedingungen und Mutationen ist und nicht die Krone einer Schöpfung durch einen Verantwortung fordernden Gott. Dass der Evolutionismus, ohne das zuzugeben, einfach nur die Gesetzmäßigkeiten des Kapitalismus, also grob gesagt das Fressen und Gefressenwerden, das Wechselspiel von Norm und Anpassung aus dem sozioökonomischen Bereich auf Tier- und Pflanzenwelt übertragen hat, hat seine Glaubwürdigkeit nahezu unerschütterlich gemacht.
Es handelt sich ferner eben gerade nicht um eine Kränkung, sondern um eine Entlastung, wenn man glauben darf, dass man für das, was man tut und lässt nicht selbst verantwortlich ist, sondern das alles naturgesetzlich bestimmten Gegebenheiten determiniert ist, dass also zum Beispiel die Gene an allem schuld sind oder dass das Hirn einen steuert, während man bloß denkt, dass man denkt. Und es handelt sich auch nicht um eine Kränkung, sondern um eine Entlastung, wenn man glauben darf, dass nicht das bewusste Ego (was immer das sein mag), sondern unbewusste Triebe das Schicksal des Einzelnen lenken.
Nicht die vor- und außermodernen Menschenbilder sind bequem und das Menschenbild der Modern für die Leute hart und schwierig zu akzeptieren, sondern umgekehrt, indem der Mensch von jeder anderen Autorität als der der vermeintlichen Sachzwänge und behaupteten Naturgesetzlichkeiten „emanzipiert“ und jeden Verständnisses für Transzendierendes beraubt wird, kann er sich komfortabel in Immanenz und Selbstbezüglichkeit einrichten. In aller Ruhe kann er seinen Geschäften nachgehen und sich sagen: Nichts, was geschieht, hat letztlich Sinn, alles ist Zufall, der nach ungesetzten Gesetzmäßigkeiten abschnurrt, weshalb es nur noch darauf ankommt, sich den eigenen vermeintlichen Bedürfnissen zu unterwerfen und sich nicht erwischen zu lassen, wo das unerwünscht ist. Was Menschen seit unvordenklichen Zeiten gewusst und geglaubt haben, ist dann nur noch ein Klotz am Bein, der einen beim individuellen und kollektiven Konsumieren behindert. Die Naturwissenschaften hingegen können, zumindest potenziell, alles erklären, auch wenn man nichts davon versteht, und ihre Botschaft ist klar: Der Mensch ist ein Tier oder gar bloß eine biotische Maschine, ihn regieren Biochemie und Physik, was er tut oder lässt ist im Grunde egal, niemand ist für irgendetwas oder irgendjemanden verantwortlich.
Dass das alles Unsinn oder zumindest höchst kritikwürdige Ideologie ist, scheint mir offensichtlich. Freilich sehen das die meisten Leute nicht, im Gegenteil. Auch Lukas Bärfuss verkennt die wirklichen Verhältnisse von Grund auf. Er sitzt schlechterdings den Vorurteilen seiner Zeit auf und kommt sich dabei wohl sehr aufklärerisch und durchblickend vor. Er vermeint ja allen Ernstes, sich „unangenehmen Tatsachen“ zu stellen! Dass er nicht kritischer denkt, wird freilich nicht bloß mit seiner Unaufmerksamkeit im Physikunterricht zu tun oder einem sonstigen Mangel a Schulbildung. Denn wenn selbst hochmögende Universitätsprofessoren zu einer Kritik der naturwissenschaftlichen Populärideologie außer Stande zu sein scheinen, wie soll man eine solche dann von einem Theaterschriftsteller erwarten können.
Bärfuss bemüht dann in seinen weiteren Ausführungen den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik und die Entropie, um darzulegen, dass die Rohstoffressourcen endlich sind und zudem schlecht verteilt. Um Letzteres zu behaupten, hätte es Ersteres nicht gebraucht.
Bärfuss hat ja durchaus Recht, das System der Verteilung der Kosten und Profite bei der Gewinnung und Nutzung von Rohstoffen ist asymmetrisch und ungerecht. Aber auch ganz ohne den Begriff der Entropie, kann man sehen, dass viele Menschen im Norden in relativem Wohlstand leben und viele im Süden in absoluter Armut. Und man kann nachvollziehen, dass das eine das andere bedingt. Bärfuss beschreibt die Verhältnisse sehr gut in dem Abschnitt „Wohin das führt“: „Wir“ — die Menschen in den entwickelten Ländern — „sind zu unserem Wohlstand gekommen, weil es Diktaturen und skrupellose Firmen gibt, die uns die billigen Betriebsstoffe lieferten. Unsere Privilegien, Chancengleichheit und Meinungsfreiheit wurden damit erkauft, dass jemand auf diese Privilegien verzichten muss. Das alles ist bekannt. Die unangenehmen Tatsachen liegen auf dem Tisch. Die Frage ist, was wir damit anfangen.“
Sehr richtig. Einige vernünftige Vorschläge dazu gibt es ja bereits. Bärfuss zitiert den „Bioökonomen“ Nicholas Georgescu-Roegen, der „die Einstellung jeder Rüstungsproduktion (fordert). Dann seien die Entwicklungsländer in einer gemeinsamen Anstrengung auf ein gutes, aber nicht luxuriöses Niveau zu bringen. Das Bevölkerungswachstum müsse so weit beschränkt werden, dass alle Menschen durch ökologischen Landbau ernährt werden können. Dazu sei der Energiekonsum strikt zu regulieren. Ferner müsse sich die Menschheit von der Mode befreien, dieser ‘Krankheit des menschlichen Geistes’. Es sei ein Wahnsinn, wenn man ein Möbel oder Kleidungsstück wegwerfe, das noch gebraucht werden könne. Und jedes Jahr ein neues Auto zu kaufen oder das Haus aufzumöbeln, so Georgescu-Roegen, sei ein bioökonomisches Verbrechen.“
Bärfuss gesteht ein, das klinge nach einer „Ökodiktatur“, nah einem Staat, der die totale Kontrolle über den Einsatz der natürlichen Ressourcen hätte. Eine ungemütliche Vorstellung – und ein weiterer Beleg dafür, dass wir die Ausgestaltung unserer Zukunft nicht den Ökonomen überlassen sollten.“ Auch das ist richtig, Weder den Physikern, noch den Ökonomen, noch auch den Schriftstellern. Denn, um einen von den Letztgenannten zu zitieren, auch einen Schweizer, nämlich Dürrenmatt: „Was alle angeht, können auch nur alle lösen.“
Worum es geht, erkennt Bärfuss ja durchaus: „(S)olange wir weiter so tun, als verfügten wir über unendliche Ressourcen, als sei unbeschränktes Wachstum möglich und als dürften Rohstoffkonzerne ganze Länder ausplündern, so lange können wir diese Probleme nicht lösen: Nicht die Kriege, die um Rohstoffe geführt werden, nicht die Klimaveränderung, nicht die Umweltverschmutzung durch Erdöl, Bergbau und Radioaktivität und sicher auch nicht die sich verschärfenden politischen Auseinandersetzungen um die gerechte Verteilung der natürlichen Ressourcen.“
Nur hat das Problem, dass so getan wird, als könne alles immer so weiter gehen, ja als seien Ausbeutung und Vernutzung sogar noch immer weiter steigerbar, nichts mit dem, wie Bärfuss meint, Verleugnen physikalischer Erkenntnisse zu tun. Lange vor der modernen Physik und dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik haben viele, ja vielleicht die meisten Religionen bereits die Endlichkeit der Welt gelehrt und das Ende der Dinge vorausgesagt. Einmal muss Schluss sein. Und tatsächlich würde ja auch ein schonender Umgang mit Ressourcen und eine gerechteres System ihrer Nutzung letztlich, um die physikaloide Terminologie aufzugreifen, das Entropieproblem nicht lösen. Der Weltuntergang kommt so oder so. Ob er früher oder später kommt, betrifft nicht das Prinzipielle. Nämlich die Frage, wie wir uns zu unserer Endlichkeit und der Endlichkeit dieser Welt verhalten und wie wir das Endliche auf ein mögliches Unendliches beziehen wollen.
Damit erst ist man beim eigentlichen Problem angelangt. Denn was in der Moderne verleugnet wird, sind ja nicht physikalische Tatsachen, sondern die Sinnfrage. Warum und wozu das Ganze? Auch wenn alles irdische Unrecht beseitigt wäre und der Umgang mit den Dingen dieser Welt ein Höchstmaß an Vernünftigkeit und Effizienz aufwiese, stellte sich immer noch diese eine entscheidende Frage. Muss sie beantwortet werden? Sie muss zunächst einmal gestellt werden können. Dazu vermögen Literatur und Theater ihren Teil beizutragen. Die Physik nicht, die Ökonomie auch nicht. Darüber sollte Lukas Bärfuss mal schreiben.

Sonntag, 25. September 2011

Hyperpsychopathen

Also geahnt hat man es ja immer schon, aber nun ist es sozusagen amtlich: Die Wissenschaft hat festgestellt, Aktienhändler verhalten sich destruktiver als Psychopathen. So kann man zumindest den Bericht von Markus Städeli in der „Neuen Zürcher Zeitung“ („Destruktive Dynamik im Handelsraum“, 25. September 2011) grob zusammenfassen.
Städeli berichtet von einer Arbeit Pascal Scherrers und Thomas Nolls an der Universiät St. Gallen, in der das Verhalten von 27 professionellen Tradern, die hauptsächlich bei Schweizer Banken, aber auch bei Rohstoffhändlern und Hedge-Funds arbeiten, in einem „Gefangenendilemma-Computerspiel“ untersucht wurde. Verglichen wurden die Ergebnisse mit einer bereits existierenden Studie an 24 Psychopathen in deutschen Hochsicherheits-Kliniken und einer Kontrollgruppe von 24 „normalen“ Personen. Herauskam dabei, dass die Broker noch weit rücksichtsloser, egoistischer und unkooperativer vorgingen als die Psychopathen. Allerdings mit geringerem Erfolg …
Danke, das wollten wir wissen. Zugegeben, die Simulation kann nicht ohne weiteres als Aussage über Berufsalltag einer ganzen Branche genommen werden. Aber sie stützt doch eine Intuition, die sich spätestens in den letzten Spekulationskrisen aufdrängte: Das Eingehen übergroßer Risiken, um ohne Rücksicht auf Verlust übergroße Gewinne zu erzielen, ist destruktiv und ziemlich durchgeknallt.
Nun sind ja leider Aktienhändler sozusagen das Herz der Finanzwirtschaft, die wiederum sozusagen das Herz der Marktwirtschaft ist. Im Kern des Ganzen sitzt also der Wahnsinn. Der zeitgenössische homo oeconomicus kat’exochen erweist sich als Psychopath, ja gar als dessen Überbietung, als Hyperpsychopath. Es fehlt nicht mehr viel, und der Kapitalismus insgesamt enthüllt seinen wahren Charakter als Geisteskrankheit. Dann stellt sich nur noch die Frage: heilbar oder unheilbar? Gibt es Erfolgschancen für eine Therapie der Weltwirtschaftsordnung oder muss man sie durch eine neue, gesunde ersetzen und die alte in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher unterbringen?

Sonntag, 18. September 2011

Letztens, nächtens, bei den Jugos

Eigentlich bloß zufällig geriet ich unlängst in meiner Lieblingskaschemme zu je nachdem später oder früher Stunde in eine geschlossen Gesellschaft, was aber nicht viel anderes bedeutete, als dass man eben Eintritt zu bezahlen hatte. Die Veranstaltung nannte sich „Jugo-Nacht“. Na, das klingt doch vielversprechend, dachte ich mir. Und tatsächlich war der Laden berstend voll. Voller Männer, versteht sich, schließlich ist von meine Lieblingsspelunke die Rede. Die anwesenden Frauen hätte man also an einer Hand abzählen können, für die Männer im Fummel aber hätte man schon mindestens beide Hände gebraucht. (Falls es sich hierbei jedoch nicht um Männer im engeren Sinne handelte, sondern um Personen, die korrekterweise irgendwie mit der Vorsilbe „trans“ zu bezeichnen wären, bitte ich meine Fehldarstellung zu entschuldigen; ich habe keine Hormontests vorgenommen.)
Die Stimmung war großartig, die Luft zum Schneiden, was mir, dem von Heuschnupfen Geplagten, überraschenderweise sehr gut bekam. Alkoholdunst und Männerschweiß, das sollte man auf Flaschen ziehen! Ich würd’s regelmäßig inhalieren …
Die Musik war laut, aber angenehm. Freilich verstand ich mangels Sprachkenntnissen kein einziges Wort und kannte kaum eine Melodie. Offensichtlich ganz im Unterschied zur überwältigenden Mehrheit der Anwesenden, die bei jeder sich bietender Gelegenheit mit vollem Einsatz mitsang. Jawohl, sang, nicht grölte. Ob die Lieder serbisch, kroatisch, makedonisch oder sonstwas waren, kann ich nicht beurteilen. Aber unverkennbar balkanisch waren sie, und bevor mich nicht jemand durch notariell beglaubigte Übersetzungen vom Gegenteil überzeugt, glaube ich nicht, dass sie von großserbischem Nationalismus oder ethnischen Säuberungen handeln, sondern weiß, dass es darin um Liebe, Leid, Glück und Trauer und nicht zuletzt um Freude, ja Lust am Singen ging. So wurden sie vorgetragen, und so fand ich es schön. (Gegen Ende hin, als sich die Reihen schon gelichtet hatten, wünschte ich mir vom Plattenaufleger noch einmal „Molitva“, über mich selbst erstaunt, dass ich ein serbisches Lied beim Namen kannte …)
Durch geschickte Steigerungen brachte der DJ die Höhle nach und nach zum Kochen. Absoluter Höhepunkt war schließlich — ich weiß leider nicht, wie man es nennt: so eine Art Reigentanz*, man hält sich an den Händen, Hüften oder Schultern und bewegt sich nach festen Regeln mal zur einen Seite, mal zur anderen. Ein Fest für alle meine Sinne: Auf engstem Raum tanzen sich Dutzende mehr oder minder gutausehender Männer gemeinsam in einen rhythmischen Rausch! Es war, als wäre Gott Dionysos selbst erschienen, um es mal kulturhistorisch-theologisch zu formulieren. (Nur dass meines Wissens niemand von Mänaden zerrissen wurde, schon wegen des erwähnten Frauenmangels. Das heißt, ein Mangel war es eigentlich gar nicht …)
Eine wunderbare Nacht. Und ein perfektes Gegenstück zu dem, was ich vor ein paar Tagen in einer (mit erstaunlich vielen Clicks beehrten) Glosse beschrieben und verworfen hatte. Hier tobte nicht der Mittelstandspöbel, um seine längst hinfällige Grandiosität zu zelebrieren. Hier verbrüderten sich Menschen verschiedener Herkunft (Jugos verschiedenster „Ethnien“ und verschiedener Staatsbürgerschaften, samt Türken, Rumänen, Roma und selbstverständlich nicht wenigen Nicht-Jugos), verschiedenen Alltags und übrigens durchaus auch verschiedener sexueller Orientierung, Menschen, über deren kulturelle Traditionen, besonders wenn sie oder ihre Familien vom Balkan stammten, mancher Imperialismus hingweggegangen war, ohne die Lebensfreude und Ausdruckskraft der betroffenen Völker brechen zu können.
Ich kenne einige Bewohner Wiens, die sich selbst am liebsten weder als Serben oder Montenegriner oder Kroaten oder Bosnier oder Makedonen bezeichnen, sondern sagen, sie seien Jugos. Dass ist für sich genommen schon ein antinationalistisches Statement, finde ich, und zugleich ein Zeugnis für eine historisch gebrochene Identität. Denn abgesehen davon, dass Familiengeschichten voller unentwirrbarer Mischungen sein können (so ja auch meine), ist es für den Einzelnen sowieso eine Zumutung, seine Zugehörigkeit anhand der gerade geltenden staatlich reglementierten Identitäten benennen zu sollen. Dass derlei in Wahnsinn und Blutbad enden kann, lehrt die Geschichte.
In jener dionysischen Nacht jedoch blieb, soweit ich weiß, trotz oder wegen all der Leidenschaft das Blut in den Körpern. Ausgetauscht oder zumindest abgesondert wurde aber vermutlich manch andere Körperflüssigkeit, und ich meine nicht bloß Schweiß. Doch auch ohne Sex war die Nacht für mich ein Erlebnis. Ein körperliches, ein seelisches und zudem eines (und was könnte einem Intellektuellen besser gefallen), das auch noch meine Vorurteile bestätigt hat: So unangenehm mir Nordeuropäer oft auffallen, den Südosteuropärern und den Orientalen bin ich seit jeher verfallen und bleibe es. — Ob es wohl bald auch einmal eine Afrikaner-Nacht geben wird in meiner Lieblingsbar? Zu hoffen wäre es.

* Kolo?

Freitag, 16. September 2011

Aufgeschnappt (bei einem Realträumer)

Nur das, was wir träumen können, können wir auch denken. Das, was wir denken können, können wir auch wollen. Und das, was wir wollen, können wir auch tun.

Götz Werner (Unternehmer und Gesellschaftsdenker)

Donnerstag, 15. September 2011

Zahlmeister D

Was soll eigentlich der oft zu lesende oder zu hörende Satz bedeuten, Deutschland dürfe (oder wolle) nicht der „Zahlmeister“ Europas sein? Ein Zahlmeister, liebe Dummschwätzerinnen und Dummschwätzer, war früher ein Offizier der militärischen Verwaltung, der mit den Finanzangelegenheiten seiner Einheit befasst war. Oder er ist in der Zivilschifffahrt der für die Schiffskasse Zuständige, der die Mannschafts- und Passagierlisten führt, die Heuer auszahlt, sich um Provianteinkauf kümmert und auch mit Zoll- und Passangelegenheiten zu tun hat. Oder aber Zahlmeister ist, etwa bei Schützenvereine, bloß ein anderer Name für Kassenwart oder Schatzmeister. In jedem Fall also ist ein Zahlmeister jemand, der Geld verwaltet, das ihm nicht gehört.
Die Redewendung vom „Zahlmeister der Nation“ oder eben „Zahlmeister Europas“ meint aber offensichtlich etwas ganz anderes, nämlich, dass jemand mit seinem eigenen Geld für anderer Leute Aufwand aufkommen muss oder soll. Mit anderen Worten: Hier liegt eindeutig einen Fall dummes Geschwätzes vor, weil das dabei gebrauchte Wort gar nicht das bedeutet, was man es bedeuten lassen will. Es handelt sich freilich auch nicht um eine Umdeutung oder Bedeutungserweiterung, weil das Wort ja außer in der besagten Wendung weiter die alte Bedeutung behält und auch in der Wendung selbst nicht eigentlich eine klar angebbare neue Bedeutung bekommt, sondern bloß schlicht falsch gebraucht wird.
Der Sinn freilich ist klar: Ein Ressentiment wird angesprochen. Die anderen verprassen unser Geld! Zahlmeister assoziiert dabei wohl Weltmeister, und das ist (oder wäre) man in Deutschland ja immer gern. Und weil es beim Fußballspielen nur selten gelingt, es wirklich zu werden, revanchiert sich die Nation und legt sich selbst gern den Titel „Exportweltmeister“ bei. Das klingt nach Fleiß, Geschick und Erfindergeist. Andere, die keine Exportweltmeister sind, sind dann vermutlich faul, schlecht organisiert, inkompetent und ein bisschen dumm. Eben nicht so wie die Deutschen, die sich (auch,a ber nicht nur) in ökonomischen Dingen mit Vorliebe für vorbildlich halten.
Die Kehrseite der selbstverliehenen Goldmedaille ist allerdings, dass jedem Außenhandelsüberschuss notwendigerweise ein Außenhandelsdefizit entspricht, denn es ist schlechterdings unmöglich, dass alle Länder mehr exportieren als importieren. Von Vorbildlichkeit kann also keine Rede sein. Vielmehr ist Deutschlands auf Exportüberschüsse gegründeter Wohlstand die Bedingung für Exportdefizite anderswo und damit auch, vereinfacht gesagt, für weniger Wohlstand dort.
Der vermeintliche „Zahlmeister Europas“ wirtschaftet also traditionell in die eigene Tasche. Und wenn er nun derzeit einmal mehr damit konfrontiert wird, dass nicht nur er selbst, sondern auch andere Staaten Schuldenberge aufgehäuft haben, deren Abtragung in den Sternen steht, so wird er gut daran tun, das als sein ureigenstes Problem aufzufassen und engagiert zur Lösung beizutragen, den erstens sind es nicht zuletzt deutsche Banken, bei denen die Schulden bestehen, und zweitens können bankrotte Kunden auch keine deutschen Waren mehr kaufen. (Folgerichtig wird darum zum Beispiel zwar Griechenland nahegelegt, heftig zu „sparen“ — gemeint ist weniger neue Schulden zu machen —, aber zugleich wird darauf bestanden, dass die Verträge über den Kauf deutscher Rüstungsgüter selbstverständlich trotzdem einzuhalten sind …)
Deutschland ist also nichts weniger als ein „Zahlmeister“, sondern einfach eine Volkswirtschaft unter anderen, aber eben eine, die besonders viel relativen Reichtum produziert, der selbstverständlich mit relativer Armut anderswo erkauft ist.
Für gewöhnlich verlagert man ja die Kosten des eigenen Wohlstandes ins ferne Ausland. Diesmal freilich hat man sich verrechnet und verspekuliert, die „Krise“ ist allzu nahe gekommen. Immerhin zwar nicht so nahe, dass in der eigenen Gesellschaft die vom Verteilungsunrecht erzeugten Gegensätze aufbrächen (wobei die Rede vom kollektiven „Zahlmeister“ die soziale Gegensätzlichkeit ja gerade verschleiern will), aber doch so nahe, dass man wohl tief ins Säckel greifen wird müssen, um wieder einigermaßen Ruhe ins Geschäftsleben zu bringen.
Die „Nicht-Leisungsträger“ im eigenen Land kann man auf Hartz IV setzen, aber Griechenland und andere Schuldenschurken bilden sich ja immer noch ein, sie seien „souverän“. Da wird dann letztlich doch nichts anderes helfen, als erheblich umzuverteilen: In diesem Fall die Schulden, die die einen machen müssen, um die der anderen zu finanzieren … Und damit dann Zahlmeister adé.

Montag, 12. September 2011

Mitdenkender Dünger

„Das ist mitdenkender Dünger, wie wir ihn uns wünschen“, sagte die Körnchen streuende Gärtnerin auf der Mattscheibe, und ich dachte, ich falle aus dem Fernsehsessel. Was sie meinte, war wohl, dass das Düngemittel auf Grund seiner Ummantelung mit Kunstharz nur bei steigender Temperatur Nährstoffe an die Pflanze abgibt und damit an deren Bedarf angepasst ist, der umso höher zu sein pflegt, je wärmer es ist. Und diesen schlichten Vorgang nennt sie „mitdenkend“! Ich finde es immer wieder erstaunlich, was für eine geringe Meinung viele Menschen vom Denken haben. Anscheinend halten sie Intelligenz für etwas im Grunde Mechanisches, das vor sich geht wie Steinschlag oder ein Wasserrohrbruch.
Dass viele glauben, dass das Gehirn denke (und nicht der Mensch), war mir ja bekannt, dass ihrem Weltbild nun aber auch schon Dünger denkt, war allerdings mir neu. Es erstaunt mich freilich nicht besonders, leben wir doch im Zeitalter allerorten angepriesener „intelligenter Technik“. Lediglich, dass es sich beim vermeintlichen Mitdenker um Kunstdünger handeln soll, überrascht mich dann doch ein wenig, denn ich hätte erwartet, dass man eher Dung für denkend hält, etwa die guten alten Kuhfladen, haben doch gar nicht so wenige Leute, wie man so sagt, bloß Scheiße im Kopf.

Samstag, 10. September 2011

Die letzte Nacht der weißen Rasse

Wer einen Eindruck von der physischen und psychischen Minderwertigkeit der weißen Rasse bekommen möchte, sollte sich eine Fernsehübertragung der „Last Night of the Proms“ ansehen, der berüchtigten Schlussveranstaltung der Londoner Sommerkonzerte. Bekanntlich geht es bei diesem traditionsreichen Ereignis keineswegs um die dabei vorgeführte höchst populäre Musik, sondern diese dient ausschließlich als Stimulans der frenetischen Selbstfeier des Publikums. Und was für ein Publikum das ist! Großbritannien ist eigentlich nicht weniger ein Einwanderungsland als zum Beispiel Frankreich; geht man durch die Straßen der Städte, sieht man Menschen, deren Aussehen auf eine Herkunft aus vier bis fünf Kontinenten verweist. In der bis zum Bersten gefüllten Royal Albert Hall jedoch sieht man fast nur blassweiße Haut und die typischen kelto-germanischen Fressen der Einwanderer vor 1800. (Ich selbst habe in diesem Jahr nur ein einziges vermutlich asiatisch aussehendes Pärchen entdeckt, vielleicht sind mir andere, hier von mir für untypisch erklärte Teilnehmer entgangen. Im Übrigen bestätigen Ausnahmen die Regel.)
Aber darf man da — oder überhaupt — von Rasse sprechen? Von der weißen wohl schon, denn bei der handelt es sich um ein Selbstverständnis. Weiß zu sein ist keine Frage der Pigmentierung, der Gesichtszüge oder des Körperbaus, es ist ein Lebensstil und eine Weltsicht. Anders gesagt, es handelt sich um die körperliche Manifestation des Rassismusses selbst. Nicht irgendeiner rassistischen Ideologie oder irgendeines rassistischen Ressentiments — denn derlei kann sich bei Menschen nahezu jeder beliebigen „ethnischen Identität“ finden —, sondern jenes Jahrhunderte alten spezifisch westlichen Rassismusses, der auch unter den Namen Imperialismus und Kolonialismus bekannt ist.
Die abendländischen Herrenmenschen zogen bekanntlich aus, um sich die Erde untertan und deren nichtabendländische Bewohner zu Menschen zweiter und dritter Klasse zu machen. Und keine Nation perfektionierte die Ausbeutung der als minderwertig definierten „Fremdrassigen“, den millionenfachen Mord, und die rücksichtslose Ressourcenverwertung so sehr wie die großbritische. Selbst im Inneren von ethnischem Verschnitt (Kelten, Angeln, Sachsen, Normannen usw.), nationalstaatlichen Repression (der Waliser, Schotten, Iren) und gewaltigen Klassengegensätzen geprägt, entwickelte Großbritannien Techniken der Unterwerfung und Vernutzung, die erst von den totalitären Regimes des 20. Jahrhunderts qualitativ überboten wurden. Quantitativ freilich steht das britische Reich den Vernichtungsorgien von Hitler, Stalin, Mao in nichts nach, im Gegenteil, auch wenn das, weil der Terror sich über 400 Jahre verteilte und nicht in einem einzigen Großereignis (Endlösung, Kulturrevolution) kulminierte, nicht so ins Auge springt und darum im öffentlichen Bewusstsein nicht vorkommt.
Nun könnte man meinen, mit dem Ende des erdumspannenden Reiches sei es auch mit dem imperialistischen Selbstbewusstsein und volkstümlicher Selbstbejubelung vorbei, aber weit gefehlt, der kulturelle Ausdruck des jingoism blüht nach wie vor, eben nicht zuletzt in besagter „Last Night of the Proms“. Ein bisschen Imperium ist ja auch geblieben, man hält noch immer einen Teil Irlands besetzt, ferner eine bisschen Spanien (Gibraltar) sowie mehrere Inseln in der Karibik und dem Indischen Ozean, man unterhält „Souveräne Militärbasen“ auf Zypern (weshalb die Insel nicht, wie die meisten, zwei-, sondern in Wahrheit dreigeteilt ist), man verfügt über Atomwaffen und einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen und man führt, Seit an Seit mit den USA, an mehreren Orten der Welt gleichzeitig Kriege. Doch auch, wenn das alles nicht der Fall wäre, die Zelebration der eigenen nationalen Größe ist so sehr Teil des britischen Selbstverständnisses, dass die Royal Albert Hall wohl auch dann mit lauter brüllenden Blässlingen gefüllt wäre, wenn von England nichts mehr übrig wäre als brennende Vorstädte. -- Die beliebten Krawalle alldort sind, nebenbei bemerkt, sozusagen das proletarisch-multiethnische Gegenstück zur kleinbürgerlichen und „weißen“ event der „Last Night“.
Man lese einmal in Ruhe die Texte der beliebtesten Gesangsstücke nach: „Land of Hope and Glory“, „Rule Britannia“, „Jerusalem“. Mit den aggressiven Pathos dieser Dichtungen kann die „Wacht am Rhein“ (die meines Wissens nirgendwo in Deutschland noch öffentlich gesungen wird) nicht mithalten, die erste Strophe des „Deutschlandliedes“ sowieso nicht. Und dann die Musik dazu: Das Horst-Wessel-Lied ist läppisches Geschunkel gegen diese britischen Hymnen! Die musikalische Sogwirkung ist enorm, die verspürt sogar ein notorisch Anglophober wie ich. Bei vielen Zuhörern scheint zudem ein faschistischer Körperreflex einzusetzen, denn wie die Fernsehbilder zeigen, müssen sie wohl unwillkürlich den rechten Arm heben, zur Kaschierung gern mit Bierdose oder Fähnchen in der Hand.
Überhaupt: diese exuberante Fahnenschwenkerei! Ist sie nicht Widerlegung meiner These von simulierter Reinrassigkeit und borniertem Nationalismus? Immerhin werden doch nicht nur Union Jacks, englische, schottische, walisisches, kornische usw. Fähnchen herumgewirbelt, sondern auch deutsche, hamburgische, italienische, olympische usw. usf. (Im Vorjahr sah ich auch die Fahne einer Fluglinie und eine Aufblasbanane als Winkelement ...) Aber nein, ich lasse das ganz und gar nicht als berechtigten Einwand zu. Zum einen ist Begeisterung, auch institutionalisierte, fast immer ansteckend, und dass beispielsweise Deutsche sich wie Engländer aufführen (wollen), macht die Engländer ja nicht weniger englisch. Zum anderen ist dem imperialistischen Chauvinismus ja gerade sein Transnationalismus eingeschrieben, er bedarf notwendigerweise der Vielfalt der Nationalitäten, um die Hegemonie der eigen Nation zu praktizieren oder wenigstens zu phantasieren. Doch im Traum fiele es den Veranstaltern nicht ein, die als europäische Hymne geltende beethovensche „Ode an die Freude“ gleichberechtigt neben ihr einheimisches Zeugs zu stellen, und weder die Flaggen der EU noch der UN habe ich irgendwo in dem reichhaltigen Fahnenmeer ausnehmen können.
Doch zurück zur Minderwertigkeit der weißen Rasse. Es mag eine Frage des persönlichen Geschmacks sein, aber ich kann mir kaum etwas Widerlicheres vorstellen als die euphorisch angeschwollenen Gesichter des Publikums bei der „Last Night of the Proms“. Dieser Mittelklassepöbel verkörpert für mich die völlige Geschmacklosigkeit und den vulgären Fanatismus der großbritischen „Nation“. Andere mögen die Engländer bloß liebenswert schrullig finden, als wäre deren bluttriefende Kolonialgeschichte bloß ein komisch-sentimentaler Roman à la Dickens. Mir hingegen ist der Wahnsinn, den die grundlose Selbstverherrlichung dieses Massengesinges artikuliert, nur offensichtlich, und ein Detail gegen Ende hin zeigt mir, dass die ganze selbstverordnete Ausgelassenheit nur die Kehrseite unerbittlicher Disziplin ist.
Wenn nämlich der Chor im Flüsterton „God Save the Queen“ anstimmt, dann ist das Fahnenmeer plötzlich ausgetrocknet und nur ein einziges Tuch wird im Parkett geschwenkt, einsam, pathetisch, grandios: die Standarte der Königin. Erst bei der zweiten Strophe bricht dann das Jubilatorische wieder durch. Welches andere Publikum in einem anderen Land könnte, nachdem man es bereits mehrfach zum Kochen gebracht hatte, wieder dermaßen heruntergefahren und zu strengem Wohlverhalten gebracht werden? Hier hat man Britannien in Reinkultur: ordninäres Toben, das jederzeit in zentrierte Untergeordnetheit umschlagen kann. Mit Personal dieser Art konnte man tatsächlich ein Weltreich organisieren. Der Unterschied zu dem, was Faschisten und Bolschewisten auf die Beine stellen konnte ist einfach der, dass hier die Begeisterung in jedem Falle echt ist. Das aber ist schlimmer. Und auch wenn das Vereinigte Königreich zum Glück derzeit weltpolitisch ohne allzu große Bedeutung ist, ist es doch ekelerregend und erschrecken, bei Gelegenheiten wie diesen in den Abgrund der großbritischen Seele zu blicken. Was äußerlich als musikalischer Kindergeburtstag für Erwachsene aufgezogen ist, ist in Wahrheit die symbolische Sparflamme des menschenverachtenden Anglo-Imperalismus. Solche Veranstaltungen machen in ungebrochener Kontinuität klar, warum bei den Briten Faschismus und Nationalsozialismus keine Chance hatten: Was diese Italienern und Deutschen an Größenphntasien erfolgreich andienten, war bloß Ersatz, das stimmungsvolle Original war immer schon in Großbritannien zu Hause.

Montag, 5. September 2011

Gewählt, gezählt, gelogen

Man mag von der repräsentativen Demokratie und der ganzen Wählerei halten, was man will — als Anarchist habe ich da grundsätzliche Einwände —, eines steht fest: Die Berichterstattung darüber ist miserabel. Man sollte meinen, es könne den Journalisten und ihren Hilfskräften in Sachen Statistik nicht schwer fallen, hier objektiv zu bleiben und zunächst nur über Fakten zu sprechen, liegen diese doch in Gestalt von Zahlen für jedermann nachvollziehbar vor. Doch gerade das erweist sich als Haken an der Sache und als Hebelpunkt geradezu heimtückischer Manipulation, bedürfen doch Zahlen, um aussagekräftig zu werden, der Interpretation. Und Interpretation setzt Auswahl voraus. Indem man bestimmte Zahlen wählt und auf bestimmte Weise auf einander bezieht, kommt am Ende etwas ganz anderes heraus, als es das dauernde Gerede vom „Wählerwillen“ vermuten ließe. Denn nicht, wie die Leute wirklich abgestimmt haben oder nicht, interessiert anscheinend, sondern nur, wie sich Stimmabgaben in Machtrelationen umsetzen lassen.
Man nehme zum Beispiel die Landtagswahl im deutschen Bundesland Mecklenburg-Vorpommern am gestrigen Sonntag. Die SPD habe die Wahl gewonnen, heißt es. Was immer das heißen soll, denn inwiefern hat man eine Wahl gewonnen, wenn man nur, wie gleichzeitig berichtet wird, 35,7 Prozent erhalten hat? Das heißt doch, dass 64,3 Prozent einen nicht gewählt haben, als fast zwei Drittel. Was ist das für ein Wahlsieg? Hätte dann auch eine Partei mit zwei Prozent die Wahl gewonnen, wenn 99 andere Parteien jeweils nur ein Prozent hätten? Doch die absurde Redeweise von Gewinnern und Siegern sei hier nur am Rande vermerkt.
Wenden wir uns dem vorläufigen amtlichen Endergebnis zu, wie es in der Berichterstattung dargestellt wird. Nämlich in Prozenten. Da hat die SPD also 35,7, die CDU 23,1, die Linke 18,4, die Grünen haben 8,4, die NPD hat 6,0, FDP hat 2,7 und alle anderen haben zusammen 5,7 Prozent. Prozent wovon? Das wird selten deutlich erwähnt, ist aber entscheidend: von den gültig abgegebenen Stimmen. Nur 52,2 Prozent der Wahlberechtigten haben ja überhaupt an der Wahl teilgenommen und von diesen haben nicht alle gültig gewählt. Da es nun aber bei der letzten Landtagswahl eine andere Zahl von gültig abgegeben Stimmen gab, ist der bei Journalisten so beliebte Ausweis der „Gewinne und Verluste in Prozentpunkten“ reine Zahlenspielerei und so aussagekräftig wie die Schuhgröße der Spitzenkandidaten.
Den wirklichen Zustimmungsgrad und seine Veränderung je zur Wahl antretender Partei erfährt man nämlich nur, wenn man sich die absoluten Zahlen ansieht. Und da ergibt sich ein ganz anderes Bild als das in den Medien vorgegaukelte. (Der Einfachheit halber werden im Folgenden nur die Zweitstimmen berücksichtigt und nicht die für Wahlkreiskandidaten abgegebenen Erststimmen. Die Zahlen stammen übrigens von der Website der Landeswahlleiterin.)
Es entfielen 2011 auf die SPD 239.745 gültig abgegebene Stimmen (im Jahr 2006 waren es noch 247.312 gewesen), auf die CDU 155.084 (235.350), auf die Linke 123.502 (137.253), auf die Grünen 56.438 (27.642), auf die NPD 40.075 (59.845) und auf die FDP 18.428 (78.448).
Man sieht, die „Wahlsiegerin“ SPD hat sogar Stimmen verloren! Und zwar 3,1 Prozent. Die Verluste der CDU betragen allerdings 34,1, also mehr als ein Drittel. Auch die Linke hat Stimmen verloren, nämlich immerhin mehr als zehn Prozent. Das ergibt doch nun wirklich ein ganz anderes Bild als das landauf, landab in sämtlichen Medien verbreitete. Nur bei den Grünen gab es tatsächlich einen Stimmenzuwachs, er beträgt satte 104 Prozent.
Man sieht, das Herumspielen mit nur auf die gültigen Stimmen bezogenen Prozenten und  Prozentpunkten verfälscht völlig das wirkliche Ergebnis, das nur kenntlich wird, wenn man die absoluten Zahlen betrachtet.
Nur den Anteil an den gültig abgegeben Stimmen zu berücksichtigen, verzerrt die Realität aber auch noch in anderer Hinsicht. Der weitverbreiteten Darstellung zufolge hätten ja SPD und CDU zusammen 58,8 Prozent, also eine Mehrheit der Bevölkerung hinter sich. In Wahrheit ist das anders, denn bezieht man sich auf die Wahlberechtigten und nicht bloß auf die gültig Wählenden, ergeben sich ganz andere Verhältnisse. Dann kommt die SPD auf schlappe 17,7 Prozent, die CDU auf 11,4 — was zusammen bloß 29,1 ergibt, also nicht einmal ein Drittel! —, die Linke auf 9,1, die Grünen auf 4,2, die NPD auf 3,0 und die FDP auf 1,4.
Das sind also die wirklichen Stimmenanteile der Parteien. Absurderweise werden jedoch, egal wie viele Leute an der Wahl teilnehmen, immer 100 Prozent der Landtagsmandate vergeben. Wäre die repräsentative Demokratie wirklich repräsentativ, müsste fast die Hälfte der Sitze leer bleiben.
Das zeigt übrigens auch, wie verfehlt die allüberall verkündete Forderung ist, man müsse unbedingt zu Wahl gehen, weil Nichtwählen undemokratisch sei. Es scheint dabei allgemeiner Konsens zu sein, dass Nichtwähler dumpfe Deppen sind, desinteressiert, passiv, unpolitisch. Das mag ja sogar für die meisten Wahlverweigerer stimmen, ändert aber nichts daran, dass es für alle, die von keiner der vorhandenen Partei repräsentiert werden wollen, gar keine Alternative zum Nichtwählen gibt. Denn auch die Stimmen derjenigen, die zwar wählen gehen, aber absichtlich ungültig wählen, fallen unter den Tisch. Berücksichtigt werden nur die gültig für eine bestimmte Parte abgegebenen Stimmen und genau genommen nur die, die für eine dann im Landtag vertretene Partei abgegeben wurden. Vom Rest ist nie wieder die Rede. In Mecklenburg-Vorpommern repräsentieren nun aber (wie gesagt: nach den Zweitstimmen) die Landtagsparteien zusammen nur rund 45 Prozent der wahlberechtigten Bevölkerung — also eine Minderheit!
Das ist demnach der blinde Fleck der repräsentativen Demokratie mit ihrer phantasievollen Zahlenakrobatik und ihrem verführerischen Konstruieren von Mehrheiten und Minderheiten: Sie repräsentiert die nicht, die, aus welchem Grund auch immer, nicht repräsentiert werden wollen. Warum aber sollte man als politisch mündiger Bürger eigentlich kein Recht darauf haben, zwar keine der antretenden Parteien wählen zu wollen, aber doch sehr wohl mitbestimmen zu wollen, welche Politik gemacht wird? Die Repräsentativdemokratie jedoch verweigert dieses Recht und löscht die Stimmen aller, die nicht wählen, wie man es von ihnen will, einfach aus.
Nun bedeutet ja freilich Demokratie nicht, wie viele glauben, dass das Volk regiert und sei es durch von ihm bestellte Vertreter. Demokratie ist vielmehr jene Regierungsform, in der die Regierten dem Regiertwerden zustimmen müssen. Eine solche Zustimmung ist nun aber mit den hier kritisierten Zahlentricks, mit den so beliebten bunten Säulchen und Tortenstückchen, ganz wunderbar zu erreichen. Da gibt es dann Wahlsieger, die von weniger Leuten gewählt wurden als vor fünf Jahren, und mögliche Regierungsmehrheiten, die von Parteien gebildet werden, die mindestens vier Fünftel des Wahlvolkes nicht gewählt haben. All das ficht die Berufspolitiker und ihre journalistischen Zuarbeiter nicht an. Und es spricht ja tatsächlich auch nicht gegen Demokratie, freilich durchaus gegen ihre mediale Simulation. Wenn es nämlich in einer Demokratie angeblich um Zahlen geht und dann diese Zahlen nicht einmal stimmen, dann ist was faul im Staate Dumusstwählengehen.

Sonntag, 4. September 2011

Keine schlechte Wahl

Also so etwas passiert mir selten: Eine Publikumsabstimmung kommt zum selben Ergebnis wie ich! Der Sender ZDFneo hatte dazu aufgefordert, via Internet darüber abzustimmen, welche von zehn in Fernsehen und Netz präsentierten Pilotsendungen die Chance bekommen solle, in Serie zu gehen. In drei Kategorien konnte man bis zu 10 Punkte vergeben und sein Gesamtergebnis mitteilen. Gewonnen hat die Abstimmung (mit dem Wert 5,33) die „Teddy’s Show“ mit ihrem Hauptdarsteller Tedros Teclebrhan.
Es erstaunt mich selbst, aber ich habe da keinerlei Einwände. Ich selbst habe dreimal die Höchstnote vergeben: Ja, ich möchte mehr davon sehen, ja, es ist innovativ und originell, und ja es ist gut gemacht.
Dass das gute Aussehen von Tedros Teclebrhan ihm bei mir nichts geschadet hat, sei einmal vorausgesetzt. Aber ein guter Schauspieler ist er eben auch. Die verschiedenen Rollen, in die er schlüpft, verkörpert er perfekt. Jemanden, der in Eriträa geboren ist, so selbstverständlich schwäbeln und sächseln zu hören, ist allein schon ein bizarrer Genuss. Und die Figur des Lohan Cohen ist so lebensecht, dass man vergisst, dass er nur gespielt ist.
So etwas hat man so im deutschen Fernsehen so noch nicht gesehen. Hier zeichnet sich etwas Eigenständiges ab, dass zwar mit der Komik von Dave Davies oder Bülent Ceylan (oder dem des Klassikers Django Asül) korrespondiert, aber doch in eine andere Richtung geht. Recht hat, wer sich bei der „Teddy’s Show“ an Dave Chappelle erinnert fühlt. Die Machart, die Mischung von Spielszenen und Gesangseinlage, der hintzerfotzige Humor, die Lust am Rollenspiel, die sanfte Frechheit — all das kommt einem bekannt vor. Aber schadet das etwas? Nein. Warum soll es erlaubt sein, alles mögliche andere von den USA zu kopieren aber ein junger, aufstrebender Komödiant soll kein Vorbild haben dürfen?
Ich hoffe also sehr, dass demnächst noch recht viel von Teclebrhan zu sehen sein wird, ob als „Teddy’s Show“ oder in anderer Form. Hier ist eine neue Stimme und ein neues Gesicht, und beides unterscheidet sich wohltuend von dem, was man im deutschsprachigen Fernsehen sonst so an Unterhaltung vorgesetzt bekommt. Gut gewählt!
Ein bisschen unter seinem Wert wurde wohl ein anderer Bewerber um die Publikumsgunst gehandelt: die Puppenshow „Ausgekuschelt“ (Gesamtnote 4,1). Aber ehrlich gesagt, auch ich wurde mit dieser Sendung nicht froh, obwohl ich den Humorstil und das Können von Martin Reinl eigentlich sehr schätze. Man sagt, das Gegenteil von gut sei gut gemeint. Hier ist das Gegenteil von gut leider gut gemacht, denn alles ist hier zu glatt, zu durchdacht, zu gekonnt. Wenn jeder zweite Satz ein Kalauer ist, macht das bald ziemlich müde. Zu viel Professionalität, zu wenig Anarchie! Das Ganze wirkte viel zu angestrengt, auch die Cameo-Auftritte diverser TV-Promis. Für eine halbe Stunde Sendezeit wurde hier zugleich zu viel und zu wenig geboten. Ironischerweise wären kurze Spots à la Mainzelmännchen für diese Puppentruppe vermutlich das geeignetere Format …
Dass die Noten für alle zehn vorgestellten Sendungen zwischen 3,1 und 5,3 liegen, zeigt übrigens, dass sich Gefallen und Abneigung oft die Wage halten und nur selten ein geringer Ausschlag in die eine oder andere Richtung festzustellen ist. Geschmäcker sind eben verschieden. Leider gilt das Fernsehmachern oft als Ausrede, um lediglich „Ausgewogenest“ zu produzieren. Insofern sind Publikumsabstimmungen auch keine Lösung, was die Qualitätsverbesserung betrifft. Und nur, weil zufällig einmal das aus meiner Sicht Richtige herauskommt, fange ich noch lange nicht an, der Meinung der Masse der Zuschauerinnen und Zuschauern zu trauen!