Ein bezeichnender Fall von leichter Geistesverwirrung durch Wissenschaftsgläubigkeit: „Tatsachen finden schwer den Weg ins menschliche Bewusstsein. Weil sie zu schmerzlich sind, weil sie unser Bild von der Welt und wie sie zu funktionieren hat, stören würden. Die unangenehmen Tatsachen verstecken wir hinter falschen Begriffen. So reden wir vom ‘Sonnenuntergang’, obwohl wir seit Kopernikus wissen, dass es die Erde ist, die sich um die Sonne dreht. Eigentlich müssten wir vom ‘Erduntergang’ sprechen. Wir tun es nicht, weil wir immer noch gekränkt sind, nicht im Zentrum des Universums zu stehen. Und weil es uns erschreckt, dass der Boden, auf dem wir stehen, nicht fest ist.“ Schreibt der Schweizer Schriftsteller Lukas Bärfuss im „Freitag“ („Unangenehme Tatsachen“, 22. September 2011) in einem Text, in dem es dann eigentlich um Thermodynamik und Ökonomie geht, aber nach einem solchen Einstieg kann der Rest auch nicht mehr völlig überzeugend sein.
Bärfuss liegt nämlich völlig daneben. Dass die Sonne aufgeht und untergeht, ist eine Tatsache. Seit es Menschen gibt, haben sie diese beobachtet, und noch heute kann jeder, der zu sehen vermag (und nicht irgendwo eingesperrt ist), jeden Tag einen Sonnenaufgang und einen Sonnenuntergang wahrnehmen. Dass sich hingegen ein Planet namens Erde um sich selbst dreht, eine Bahn um eine Sonne namens Sonne zieht und dabei von einem Mond namens Mond umkreist wird, ist lediglich ein Erklärungsmodell. Ein zugegebenermaßen recht sinnvolles Modell, dass Beobachtungen und Berechnungen gut zusammen bringt. Es gab andere Modelle, etwa das ptolemäische, nach dem die Erde als feststehende Kugel von beweglichen Schalen umgeben ist, an denen Sonne, Mond und Sterne befestigt sind. Dieses heliozentrische Modell besaß lange Gültigkeit, so auch das ganze sogenannte Mittelalter hindurch — in dem nämlich die Erde keineswegs für eine Scheibe gehalten wurde, wie es das aufgeklärte Vorurteil will! —, konnte aber die Bewegungen der Wandelsterne letztlich nicht überzeugend erklären. Kopernikus und Kepler stellten dann, andere antike Überlegungen als die des Ptolemäus aufgreifend, das heliozentrische Modell auf, das den oben erwähnten Vorteil besitzt, weder der Alltagserfahrung noch der wissenschaftlichen Rechenkunst zu widersprechen.
Kurz und knapp: Sonnenaufgänge und Sonnenuntergänge sind Erfahrungstatsachen, etwas ganz anderes sind die Modelle, die bestimmte Beobachtungen und Berechnungen in Einklang zu bringen versuchen. Bärfuss verwechselt das eine mit dem anderen, er hält anscheinend Erklärungsmodelle für Tatsachen und Tatsachen für Vorurteile.
Doch wer da, um Bärfussens eigene Formulierung zu gebrauchen, im Physikunterricht nicht aufgepasst hat, scheint vor allem er selbst zu sein, denn keineswegs ist es ja dem geltenden Modell zufolge die Bewegung der Erde um die Sonne („wie wir seit Kopernikus wissen“), die Sonnenaufgänge und Sonnenuntergänge erklärt, sondern die Drehung der Erde um ihre eigene Achse. Einen „Erduntergang“, von dem Bärfuss phantasiert könnte man also allenfalls von der Sonne aus beobachten (was unmöglich ist)oder vom Mond (was man bekanntlich getan hat) oder sonst einer außerirdischen Position aus.
Weil also schon Bärfussens Darstellung der Verhältnisse in mehrfacher Hinsicht nicht stimmt, ist auch seine Behauptung absurd, die Rede von Sonnenuntergängen statt von Erduntergängen verdränge „unangenehme Tatsachen“. Nun ist ja die These von der Kränkung des Selbstbewusstseins des modernen Menschen durch die modernen naturwissenschaftlichen Erkenntnisse nicht neu. Sigmund Freud etwa sah bekanntlich seine eigenen angeblichen Entdeckungen ebenso wie die von Kopernikus und Darwin als solche Kränkungen an. Nichts könnte freilich falscher sein als dieses Kränkungsmodell. Allein schon, dass Heliozentrik, Darwinismus und Psychoanalyse — hinzuzunehmen wären heute noch Genetik und Hirnforschung — sich solch enormer Beliebtheit erfreuen und fest in den unreflektierten Vorstellungen der Leute verwurzelt sind, verweist doch darauf, dass es keineswegs um ängstlich abgelehnte, sondern um nachdrücklich erwünschte Veränderungen des Selbstbildes geht. Sie stören nicht, sie sind notwendig für das Funktionieren des „aufgeklärten“ (also durch Wissenschaftsgläubigkeit verdummten) Bewusstseins.
Es handelt sich allerdings eben gerade nicht um eine Kränkung, sondern um eine Entlastung, wenn man glauben darf, dass die Erde nur noch irgendein Materieklumpen unter unzählbar vielen anderen Materieklumpen in einem unüberschaubaren Universum ist. Der Glaube so vieler Menschen an „Außerirdische“, der durch nichts außer populäre Mythen gestützt wird, legt von diesem Wunsch, nichts Besonderes und im Kosmos nicht allein zu sein, beredtes Zeugnis ab.
Es handelt sich auch eben gerade nicht um eine Kränkung, sondern um eine Entlastung, wenn man glauben darf, dass der Mensch nur das zufällige Ergebnis von Umweltbedingungen und Mutationen ist und nicht die Krone einer Schöpfung durch einen Verantwortung fordernden Gott. Dass der Evolutionismus, ohne das zuzugeben, einfach nur die Gesetzmäßigkeiten des Kapitalismus, also grob gesagt das Fressen und Gefressenwerden, das Wechselspiel von Norm und Anpassung aus dem sozioökonomischen Bereich auf Tier- und Pflanzenwelt übertragen hat, hat seine Glaubwürdigkeit nahezu unerschütterlich gemacht.
Es handelt sich ferner eben gerade nicht um eine Kränkung, sondern um eine Entlastung, wenn man glauben darf, dass man für das, was man tut und lässt nicht selbst verantwortlich ist, sondern das alles naturgesetzlich bestimmten Gegebenheiten determiniert ist, dass also zum Beispiel die Gene an allem schuld sind oder dass das Hirn einen steuert, während man bloß denkt, dass man denkt. Und es handelt sich auch nicht um eine Kränkung, sondern um eine Entlastung, wenn man glauben darf, dass nicht das bewusste Ego (was immer das sein mag), sondern unbewusste Triebe das Schicksal des Einzelnen lenken.
Nicht die vor- und außermodernen Menschenbilder sind bequem und das Menschenbild der Modern für die Leute hart und schwierig zu akzeptieren, sondern umgekehrt, indem der Mensch von jeder anderen Autorität als der der vermeintlichen Sachzwänge und behaupteten Naturgesetzlichkeiten „emanzipiert“ und jeden Verständnisses für Transzendierendes beraubt wird, kann er sich komfortabel in Immanenz und Selbstbezüglichkeit einrichten. In aller Ruhe kann er seinen Geschäften nachgehen und sich sagen: Nichts, was geschieht, hat letztlich Sinn, alles ist Zufall, der nach ungesetzten Gesetzmäßigkeiten abschnurrt, weshalb es nur noch darauf ankommt, sich den eigenen vermeintlichen Bedürfnissen zu unterwerfen und sich nicht erwischen zu lassen, wo das unerwünscht ist. Was Menschen seit unvordenklichen Zeiten gewusst und geglaubt haben, ist dann nur noch ein Klotz am Bein, der einen beim individuellen und kollektiven Konsumieren behindert. Die Naturwissenschaften hingegen können, zumindest potenziell, alles erklären, auch wenn man nichts davon versteht, und ihre Botschaft ist klar: Der Mensch ist ein Tier oder gar bloß eine biotische Maschine, ihn regieren Biochemie und Physik, was er tut oder lässt ist im Grunde egal, niemand ist für irgendetwas oder irgendjemanden verantwortlich.
Dass das alles Unsinn oder zumindest höchst kritikwürdige Ideologie ist, scheint mir offensichtlich. Freilich sehen das die meisten Leute nicht, im Gegenteil. Auch Lukas Bärfuss verkennt die wirklichen Verhältnisse von Grund auf. Er sitzt schlechterdings den Vorurteilen seiner Zeit auf und kommt sich dabei wohl sehr aufklärerisch und durchblickend vor. Er vermeint ja allen Ernstes, sich „unangenehmen Tatsachen“ zu stellen! Dass er nicht kritischer denkt, wird freilich nicht bloß mit seiner Unaufmerksamkeit im Physikunterricht zu tun oder einem sonstigen Mangel a Schulbildung. Denn wenn selbst hochmögende Universitätsprofessoren zu einer Kritik der naturwissenschaftlichen Populärideologie außer Stande zu sein scheinen, wie soll man eine solche dann von einem Theaterschriftsteller erwarten können.
Bärfuss bemüht dann in seinen weiteren Ausführungen den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik und die Entropie, um darzulegen, dass die Rohstoffressourcen endlich sind und zudem schlecht verteilt. Um Letzteres zu behaupten, hätte es Ersteres nicht gebraucht.
Bärfuss hat ja durchaus Recht, das System der Verteilung der Kosten und Profite bei der Gewinnung und Nutzung von Rohstoffen ist asymmetrisch und ungerecht. Aber auch ganz ohne den Begriff der Entropie, kann man sehen, dass viele Menschen im Norden in relativem Wohlstand leben und viele im Süden in absoluter Armut. Und man kann nachvollziehen, dass das eine das andere bedingt. Bärfuss beschreibt die Verhältnisse sehr gut in dem Abschnitt „Wohin das führt“: „Wir“ — die Menschen in den entwickelten Ländern — „sind zu unserem Wohlstand gekommen, weil es Diktaturen und skrupellose Firmen gibt, die uns die billigen Betriebsstoffe lieferten. Unsere Privilegien, Chancengleichheit und Meinungsfreiheit wurden damit erkauft, dass jemand auf diese Privilegien verzichten muss. Das alles ist bekannt. Die unangenehmen Tatsachen liegen auf dem Tisch. Die Frage ist, was wir damit anfangen.“
Sehr richtig. Einige vernünftige Vorschläge dazu gibt es ja bereits. Bärfuss zitiert den „Bioökonomen“ Nicholas Georgescu-Roegen, der „die Einstellung jeder Rüstungsproduktion (fordert). Dann seien die Entwicklungsländer in einer gemeinsamen Anstrengung auf ein gutes, aber nicht luxuriöses Niveau zu bringen. Das Bevölkerungswachstum müsse so weit beschränkt werden, dass alle Menschen durch ökologischen Landbau ernährt werden können. Dazu sei der Energiekonsum strikt zu regulieren. Ferner müsse sich die Menschheit von der Mode befreien, dieser ‘Krankheit des menschlichen Geistes’. Es sei ein Wahnsinn, wenn man ein Möbel oder Kleidungsstück wegwerfe, das noch gebraucht werden könne. Und jedes Jahr ein neues Auto zu kaufen oder das Haus aufzumöbeln, so Georgescu-Roegen, sei ein bioökonomisches Verbrechen.“
Bärfuss gesteht ein, das klinge nach einer „Ökodiktatur“, nah einem Staat, der die totale Kontrolle über den Einsatz der natürlichen Ressourcen hätte. Eine ungemütliche Vorstellung – und ein weiterer Beleg dafür, dass wir die Ausgestaltung unserer Zukunft nicht den Ökonomen überlassen sollten.“ Auch das ist richtig, Weder den Physikern, noch den Ökonomen, noch auch den Schriftstellern. Denn, um einen von den Letztgenannten zu zitieren, auch einen Schweizer, nämlich Dürrenmatt: „Was alle angeht, können auch nur alle lösen.“
Worum es geht, erkennt Bärfuss ja durchaus: „(S)olange wir weiter so tun, als verfügten wir über unendliche Ressourcen, als sei unbeschränktes Wachstum möglich und als dürften Rohstoffkonzerne ganze Länder ausplündern, so lange können wir diese Probleme nicht lösen: Nicht die Kriege, die um Rohstoffe geführt werden, nicht die Klimaveränderung, nicht die Umweltverschmutzung durch Erdöl, Bergbau und Radioaktivität und sicher auch nicht die sich verschärfenden politischen Auseinandersetzungen um die gerechte Verteilung der natürlichen Ressourcen.“
Nur hat das Problem, dass so getan wird, als könne alles immer so weiter gehen, ja als seien Ausbeutung und Vernutzung sogar noch immer weiter steigerbar, nichts mit dem, wie Bärfuss meint, Verleugnen physikalischer Erkenntnisse zu tun. Lange vor der modernen Physik und dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik haben viele, ja vielleicht die meisten Religionen bereits die Endlichkeit der Welt gelehrt und das Ende der Dinge vorausgesagt. Einmal muss Schluss sein. Und tatsächlich würde ja auch ein schonender Umgang mit Ressourcen und eine gerechteres System ihrer Nutzung letztlich, um die physikaloide Terminologie aufzugreifen, das Entropieproblem nicht lösen. Der Weltuntergang kommt so oder so. Ob er früher oder später kommt, betrifft nicht das Prinzipielle. Nämlich die Frage, wie wir uns zu unserer Endlichkeit und der Endlichkeit dieser Welt verhalten und wie wir das Endliche auf ein mögliches Unendliches beziehen wollen.
Damit erst ist man beim eigentlichen Problem angelangt. Denn was in der Moderne verleugnet wird, sind ja nicht physikalische Tatsachen, sondern die Sinnfrage. Warum und wozu das Ganze? Auch wenn alles irdische Unrecht beseitigt wäre und der Umgang mit den Dingen dieser Welt ein Höchstmaß an Vernünftigkeit und Effizienz aufwiese, stellte sich immer noch diese eine entscheidende Frage. Muss sie beantwortet werden? Sie muss zunächst einmal gestellt werden können. Dazu vermögen Literatur und Theater ihren Teil beizutragen. Die Physik nicht, die Ökonomie auch nicht. Darüber sollte Lukas Bärfuss mal schreiben.
Bärfuss liegt nämlich völlig daneben. Dass die Sonne aufgeht und untergeht, ist eine Tatsache. Seit es Menschen gibt, haben sie diese beobachtet, und noch heute kann jeder, der zu sehen vermag (und nicht irgendwo eingesperrt ist), jeden Tag einen Sonnenaufgang und einen Sonnenuntergang wahrnehmen. Dass sich hingegen ein Planet namens Erde um sich selbst dreht, eine Bahn um eine Sonne namens Sonne zieht und dabei von einem Mond namens Mond umkreist wird, ist lediglich ein Erklärungsmodell. Ein zugegebenermaßen recht sinnvolles Modell, dass Beobachtungen und Berechnungen gut zusammen bringt. Es gab andere Modelle, etwa das ptolemäische, nach dem die Erde als feststehende Kugel von beweglichen Schalen umgeben ist, an denen Sonne, Mond und Sterne befestigt sind. Dieses heliozentrische Modell besaß lange Gültigkeit, so auch das ganze sogenannte Mittelalter hindurch — in dem nämlich die Erde keineswegs für eine Scheibe gehalten wurde, wie es das aufgeklärte Vorurteil will! —, konnte aber die Bewegungen der Wandelsterne letztlich nicht überzeugend erklären. Kopernikus und Kepler stellten dann, andere antike Überlegungen als die des Ptolemäus aufgreifend, das heliozentrische Modell auf, das den oben erwähnten Vorteil besitzt, weder der Alltagserfahrung noch der wissenschaftlichen Rechenkunst zu widersprechen.
Kurz und knapp: Sonnenaufgänge und Sonnenuntergänge sind Erfahrungstatsachen, etwas ganz anderes sind die Modelle, die bestimmte Beobachtungen und Berechnungen in Einklang zu bringen versuchen. Bärfuss verwechselt das eine mit dem anderen, er hält anscheinend Erklärungsmodelle für Tatsachen und Tatsachen für Vorurteile.
Doch wer da, um Bärfussens eigene Formulierung zu gebrauchen, im Physikunterricht nicht aufgepasst hat, scheint vor allem er selbst zu sein, denn keineswegs ist es ja dem geltenden Modell zufolge die Bewegung der Erde um die Sonne („wie wir seit Kopernikus wissen“), die Sonnenaufgänge und Sonnenuntergänge erklärt, sondern die Drehung der Erde um ihre eigene Achse. Einen „Erduntergang“, von dem Bärfuss phantasiert könnte man also allenfalls von der Sonne aus beobachten (was unmöglich ist)
Weil also schon Bärfussens Darstellung der Verhältnisse in mehrfacher Hinsicht nicht stimmt, ist auch seine Behauptung absurd, die Rede von Sonnenuntergängen statt von Erduntergängen verdränge „unangenehme Tatsachen“. Nun ist ja die These von der Kränkung des Selbstbewusstseins des modernen Menschen durch die modernen naturwissenschaftlichen Erkenntnisse nicht neu. Sigmund Freud etwa sah bekanntlich seine eigenen angeblichen Entdeckungen ebenso wie die von Kopernikus und Darwin als solche Kränkungen an. Nichts könnte freilich falscher sein als dieses Kränkungsmodell. Allein schon, dass Heliozentrik, Darwinismus und Psychoanalyse — hinzuzunehmen wären heute noch Genetik und Hirnforschung — sich solch enormer Beliebtheit erfreuen und fest in den unreflektierten Vorstellungen der Leute verwurzelt sind, verweist doch darauf, dass es keineswegs um ängstlich abgelehnte, sondern um nachdrücklich erwünschte Veränderungen des Selbstbildes geht. Sie stören nicht, sie sind notwendig für das Funktionieren des „aufgeklärten“ (also durch Wissenschaftsgläubigkeit verdummten) Bewusstseins.
Es handelt sich allerdings eben gerade nicht um eine Kränkung, sondern um eine Entlastung, wenn man glauben darf, dass die Erde nur noch irgendein Materieklumpen unter unzählbar vielen anderen Materieklumpen in einem unüberschaubaren Universum ist. Der Glaube so vieler Menschen an „Außerirdische“, der durch nichts außer populäre Mythen gestützt wird, legt von diesem Wunsch, nichts Besonderes und im Kosmos nicht allein zu sein, beredtes Zeugnis ab.
Es handelt sich auch eben gerade nicht um eine Kränkung, sondern um eine Entlastung, wenn man glauben darf, dass der Mensch nur das zufällige Ergebnis von Umweltbedingungen und Mutationen ist und nicht die Krone einer Schöpfung durch einen Verantwortung fordernden Gott. Dass der Evolutionismus, ohne das zuzugeben, einfach nur die Gesetzmäßigkeiten des Kapitalismus, also grob gesagt das Fressen und Gefressenwerden, das Wechselspiel von Norm und Anpassung aus dem sozioökonomischen Bereich auf Tier- und Pflanzenwelt übertragen hat, hat seine Glaubwürdigkeit nahezu unerschütterlich gemacht.
Es handelt sich ferner eben gerade nicht um eine Kränkung, sondern um eine Entlastung, wenn man glauben darf, dass man für das, was man tut und lässt nicht selbst verantwortlich ist, sondern das alles naturgesetzlich bestimmten Gegebenheiten determiniert ist, dass also zum Beispiel die Gene an allem schuld sind oder dass das Hirn einen steuert, während man bloß denkt, dass man denkt. Und es handelt sich auch nicht um eine Kränkung, sondern um eine Entlastung, wenn man glauben darf, dass nicht das bewusste Ego (was immer das sein mag), sondern unbewusste Triebe das Schicksal des Einzelnen lenken.
Nicht die vor- und außermodernen Menschenbilder sind bequem und das Menschenbild der Modern für die Leute hart und schwierig zu akzeptieren, sondern umgekehrt, indem der Mensch von jeder anderen Autorität als der der vermeintlichen Sachzwänge und behaupteten Naturgesetzlichkeiten „emanzipiert“ und jeden Verständnisses für Transzendierendes beraubt wird, kann er sich komfortabel in Immanenz und Selbstbezüglichkeit einrichten. In aller Ruhe kann er seinen Geschäften nachgehen und sich sagen: Nichts, was geschieht, hat letztlich Sinn, alles ist Zufall, der nach ungesetzten Gesetzmäßigkeiten abschnurrt, weshalb es nur noch darauf ankommt, sich den eigenen vermeintlichen Bedürfnissen zu unterwerfen und sich nicht erwischen zu lassen, wo das unerwünscht ist. Was Menschen seit unvordenklichen Zeiten gewusst und geglaubt haben, ist dann nur noch ein Klotz am Bein, der einen beim individuellen und kollektiven Konsumieren behindert. Die Naturwissenschaften hingegen können, zumindest potenziell, alles erklären, auch wenn man nichts davon versteht, und ihre Botschaft ist klar: Der Mensch ist ein Tier oder gar bloß eine biotische Maschine, ihn regieren Biochemie und Physik, was er tut oder lässt ist im Grunde egal, niemand ist für irgendetwas oder irgendjemanden verantwortlich.
Dass das alles Unsinn oder zumindest höchst kritikwürdige Ideologie ist, scheint mir offensichtlich. Freilich sehen das die meisten Leute nicht, im Gegenteil. Auch Lukas Bärfuss verkennt die wirklichen Verhältnisse von Grund auf. Er sitzt schlechterdings den Vorurteilen seiner Zeit auf und kommt sich dabei wohl sehr aufklärerisch und durchblickend vor. Er vermeint ja allen Ernstes, sich „unangenehmen Tatsachen“ zu stellen! Dass er nicht kritischer denkt, wird freilich nicht bloß mit seiner Unaufmerksamkeit im Physikunterricht zu tun oder einem sonstigen Mangel a Schulbildung. Denn wenn selbst hochmögende Universitätsprofessoren zu einer Kritik der naturwissenschaftlichen Populärideologie außer Stande zu sein scheinen, wie soll man eine solche dann von einem Theaterschriftsteller erwarten können.
Bärfuss bemüht dann in seinen weiteren Ausführungen den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik und die Entropie, um darzulegen, dass die Rohstoffressourcen endlich sind und zudem schlecht verteilt. Um Letzteres zu behaupten, hätte es Ersteres nicht gebraucht.
Bärfuss hat ja durchaus Recht, das System der Verteilung der Kosten und Profite bei der Gewinnung und Nutzung von Rohstoffen ist asymmetrisch und ungerecht. Aber auch ganz ohne den Begriff der Entropie, kann man sehen, dass viele Menschen im Norden in relativem Wohlstand leben und viele im Süden in absoluter Armut. Und man kann nachvollziehen, dass das eine das andere bedingt. Bärfuss beschreibt die Verhältnisse sehr gut in dem Abschnitt „Wohin das führt“: „Wir“ — die Menschen in den entwickelten Ländern — „sind zu unserem Wohlstand gekommen, weil es Diktaturen und skrupellose Firmen gibt, die uns die billigen Betriebsstoffe lieferten. Unsere Privilegien, Chancengleichheit und Meinungsfreiheit wurden damit erkauft, dass jemand auf diese Privilegien verzichten muss. Das alles ist bekannt. Die unangenehmen Tatsachen liegen auf dem Tisch. Die Frage ist, was wir damit anfangen.“
Sehr richtig. Einige vernünftige Vorschläge dazu gibt es ja bereits. Bärfuss zitiert den „Bioökonomen“ Nicholas Georgescu-Roegen, der „die Einstellung jeder Rüstungsproduktion (fordert). Dann seien die Entwicklungsländer in einer gemeinsamen Anstrengung auf ein gutes, aber nicht luxuriöses Niveau zu bringen. Das Bevölkerungswachstum müsse so weit beschränkt werden, dass alle Menschen durch ökologischen Landbau ernährt werden können. Dazu sei der Energiekonsum strikt zu regulieren. Ferner müsse sich die Menschheit von der Mode befreien, dieser ‘Krankheit des menschlichen Geistes’. Es sei ein Wahnsinn, wenn man ein Möbel oder Kleidungsstück wegwerfe, das noch gebraucht werden könne. Und jedes Jahr ein neues Auto zu kaufen oder das Haus aufzumöbeln, so Georgescu-Roegen, sei ein bioökonomisches Verbrechen.“
Bärfuss gesteht ein, das klinge nach einer „Ökodiktatur“, nah einem Staat, der die totale Kontrolle über den Einsatz der natürlichen Ressourcen hätte. Eine ungemütliche Vorstellung – und ein weiterer Beleg dafür, dass wir die Ausgestaltung unserer Zukunft nicht den Ökonomen überlassen sollten.“ Auch das ist richtig, Weder den Physikern, noch den Ökonomen, noch auch den Schriftstellern. Denn, um einen von den Letztgenannten zu zitieren, auch einen Schweizer, nämlich Dürrenmatt: „Was alle angeht, können auch nur alle lösen.“
Worum es geht, erkennt Bärfuss ja durchaus: „(S)olange wir weiter so tun, als verfügten wir über unendliche Ressourcen, als sei unbeschränktes Wachstum möglich und als dürften Rohstoffkonzerne ganze Länder ausplündern, so lange können wir diese Probleme nicht lösen: Nicht die Kriege, die um Rohstoffe geführt werden, nicht die Klimaveränderung, nicht die Umweltverschmutzung durch Erdöl, Bergbau und Radioaktivität und sicher auch nicht die sich verschärfenden politischen Auseinandersetzungen um die gerechte Verteilung der natürlichen Ressourcen.“
Nur hat das Problem, dass so getan wird, als könne alles immer so weiter gehen, ja als seien Ausbeutung und Vernutzung sogar noch immer weiter steigerbar, nichts mit dem, wie Bärfuss meint, Verleugnen physikalischer Erkenntnisse zu tun. Lange vor der modernen Physik und dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik haben viele, ja vielleicht die meisten Religionen bereits die Endlichkeit der Welt gelehrt und das Ende der Dinge vorausgesagt. Einmal muss Schluss sein. Und tatsächlich würde ja auch ein schonender Umgang mit Ressourcen und eine gerechteres System ihrer Nutzung letztlich, um die physikaloide Terminologie aufzugreifen, das Entropieproblem nicht lösen. Der Weltuntergang kommt so oder so. Ob er früher oder später kommt, betrifft nicht das Prinzipielle. Nämlich die Frage, wie wir uns zu unserer Endlichkeit und der Endlichkeit dieser Welt verhalten und wie wir das Endliche auf ein mögliches Unendliches beziehen wollen.
Damit erst ist man beim eigentlichen Problem angelangt. Denn was in der Moderne verleugnet wird, sind ja nicht physikalische Tatsachen, sondern die Sinnfrage. Warum und wozu das Ganze? Auch wenn alles irdische Unrecht beseitigt wäre und der Umgang mit den Dingen dieser Welt ein Höchstmaß an Vernünftigkeit und Effizienz aufwiese, stellte sich immer noch diese eine entscheidende Frage. Muss sie beantwortet werden? Sie muss zunächst einmal gestellt werden können. Dazu vermögen Literatur und Theater ihren Teil beizutragen. Die Physik nicht, die Ökonomie auch nicht. Darüber sollte Lukas Bärfuss mal schreiben.