Sonntag, 5. Oktober 2025

Über das Mehrheitsprinzip

„Die Mehrheit entscheidet.“ Aber warum? Das Mehrheitsprinzip scheint so selbstverständlich, dass es gar nicht begründet werden muss. Die meisten können wohl gar nicht verstehen, dass man das Prinzip überhaupt in Frage stellen wollen kann. „Die Mehrheit entscheidet. Wer denn sonst? Etwa die Minderheit? Das wäre ja noch schöner!“
Tatsächlich gibt es überhaupt keinen vernünftigen Grund, warum die Mehrheit entscheiden soll. Und es wird darum in der politischen Theorie oder Alltagsdebatte auch nie einer genannt. „Die Mehrheit ist dafür, also soll es geschehen. Punkt.“
Ganz selten einmal merkt jemand an, dass ja vermutlich in einer größeren Zahl von Leuten „mehr kluge Köpfe“ vorhanden seien als in einer kleineren. Dieses statistische Argument ist absurd und widerspricht der Erfahrung. Außerdem geht es ja bei Wahlen und Abstimmungen nicht unbedingt darum, kluge Entscheidungen zu treffen, sondern überhaupt welche. Ob die Entscheidung aus kluger Erwägung oder irrationaler Vorliebe geschieht, spielt für das Mehrheitsprinzip keine Rolle. (Das ist es ja, was Popuisten ausnuützen können.)
Beispiel: Wenn fünf Leute gemeinsam ins Kino gehen wollen, sich aber nicht auf einen Film einigen können und dann abstimmen, ist der Film, für den drei stimmen, doch nicht in jedem Fall besser als der, für den nur zwei stimmen. (Blöd wäre es übrigens, wenn zwei A sehen wollen, zwei B und einer sagt, es sei ihm egal …)
In Wahrheit ist das Mehrheitsprinzip eine abstrakte Formalität, freilich eine mit unguter Herkunft. Denn es handelt sich dabei um nichts anderes als um die Durchsetzung der zahlenmäßig Stärken: „Wir sind mehr als ihr, wenn ihr also nicht macht, was wir wollen, können wir euch verdreschen.“ Das Mehrheitsprinzip ist nur die verdeckte, zivilisierte, meistens gewaltfreie Version davon.
Allerdings sieht jeder (der kein Faschist ist) ein, dass es ein „Recht des Stärkeren“ nicht gibt, dass bloße Durchsetzung von etwas nicht bedeutet, dass das Durchgesetzte richtig ist (weshalb nebebenbei bemerkt  der Wahrheitsbegriff der Pragmatisten eigentlich faschistisch ist) und dass die ständige Aufteilung in Mehrheiten und Minderheiten zwar zuweilen durchaus stabile Verhältnisse schaffen kann (zumal wenn großzügig „Minderheitenrechte“ gewährt werden), dass es sich aber letztlich ein irrationales, auf Gewalt gegründetes Verfahren handelt, das dauernd die Vernunft und die Selbstbestimmungsrechte derer missachtet, die nicht mit der Herde blöken.
Was ist die Alternative? Konsens selbstverständlich. Jeder darf mitreden, jeder darf mitentscheiden. Nicht eine Mehrheit entscheidet, sondern alle, entweder einstimmig oder einmütig (also ohne Gegenstimmen).
„Iiih, wie langweilig, wie anstrengend. Dauernd über alles quatschen müssen, und dann kommt vielleicht doch nichts dabei heraus. Da ist abzustimmen und die Mehrheit entscheiden zu lassen viel effizienter.“
Tatsächlich ist die Effizienz von Konsensverfahren abhängig von der Bereitschaft aller zu Rücksichtnahme und Zurückhaltung, von einer hochentwickelten Diskussionskultur und einer Ethik des Kompromisses. Für eine Gesellschaft von Egoisten hingegen, die gern rasch ihren Willen durchsetzen (weshalb sie das wollen, von dem sie meinen, dass es alle wollen), ist das Mehrheitsprinzip genau das Richtige.

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