Es gehören auch alle Lebenseinstellungen, Vorlieben und Abneigungen dazu: Wen und was man bewundert, wer einen nervt, wem man ähneln, was man besitzen will, ob man gläubig oder ungläubig ist und wie man das praktiziert, wie man sich entspannt, ob man Wert darauf legt, sich gesund zu ernähren und ob man es auch wirklich tut usw. Zum Nanopolitischen gehören auch typische und gewohnheitsmäßige Verhaltensweisen, also ob man sich etwa je nach Situation und Zusammenhang rücksichtsvoll, abenteuerlustig, neugierig, fürsorglich, angriffslustig, geistesabwesend usw. usf. verhält.
Nanopolitisch ist selbstverständlich auch die Sprache, die Ausdrucksweise, derer man sich bedient, die Lieblingsvokabeln, die Redensarten, die Sprichwörter, die Zitate, die Anspielungen, die man auf Vorrat hat und anwendet, nicht zuletzt die Redeweisen, die man bewusst oder unbewusst nachahmt, die man sich für welche Adressaten zurechtgelegt hat, auch die Wörter, die man vermeidet, die man falsch gebraucht usw.
Kurzum, all Lebensäußerungen, die das Zusammenleben mit anderen bestimmen, und insofern politisch genannt werden dürfen, die aber keine Assoziations- und Organisationsform ausbilden, ergeben eine individuelle, unbedingt in soziale Zusammenhänge eingebundene Nanopolitik.
Das Nanopolitische ist durchaus strukturiert, aber heterogen, meist widersprüchlich und inkohärent, es ist, wo nicht Gewohnheiten, Zwänge und Rituale es über lange Zeiträume festlegen, durchaus wandelbar, zudem meist unreflektiert und sehr stark mit Affektivem verbunden.
Von einer nanopolitischen Matrix kann deshalb gesprochen werden, weil all die kleinen (aktuellen und potenziellen) nanopolitischen Vollzüge die unabdingbare Voraussetzung jeglicher Mikro-, Meso- und Makropolitik sind.
Politik wird oft als etwas verstanden, was „oben“ gemacht wird und nach „unten“ wirkt. Das ist auch tatsächlich oft so. Aber auch das Unten wirkt auf andere Ebenen zurück, und ohne nanaopolitische Grundlage hingen diese in der Luft (was sie nicht tun). Beispielsweise sind die Leute nicht erst deshalb rassistisch, weil rassistische Politiker ihnen das einreden, sondern nur deshalb, weil die Leute schon zuvor in gewisser Weise rassistisch sind, können rassistische Politiken erfolgreich sein.
Selbstverständlich ist der nanopolitische Rassismus (wie alles Nanopolitische) untheoretisch und eher affektiv und gelegenheitsrhetorisch als programmatisch und rational verallgemeinerungsfähig. Und selbstverständlich wirkt rassistische Propaganda und der Wahlerfolg rassistischer Parteien auf das Nanopolitische zurück. Aber gerade solche Wahlerfolge und die Popularität gewisser Slogans („Kriminelle Ausländer abschieben!“) könnte es nicht geben, wenn nicht schon im Voraus die Bereitschaft vorhanden wäre, sich auf rassistische Angebote als repräsentative Artikulationen der eigenen Überzeugungen einzulassen. Anders gesagt, die „große“ Politik findet nur dann Zustimmung, wenn sie sich relevant auf das bezieht, was im „Kleinen“ und „Kleinsten“ (also im Nanopolitischen) bereits existiert. Dort muss sie „einhaken“, dort „andocken“ und eine möglichst stabile Verbindung herstellen. Dann erst kann sie verstärkend, bestärkend und nicht zuletzt multiplikatorisch wirken.
Um keinen falschen Eindruck entstehen zu lassen: Das Nanopolitische ist keineswegs ausschließlich ressentimental und feindselig. Im Gegenteil. Ohne ein hohes Maß an Verbindlichkeit, Zugewandtheit, Kooperationsbereitschaft, Einsatzfreude, Hilfsbereitschaft, Rücksichtnahme, Opferbereitschaft usw. wäre Gesellschaft gar nicht möglich. Das zeigt sich vor allem im Übergang vom Nanopolitischen (wie oben skizziert) zum Mikropolitischen (Paar, Familie, Freundeskreis, Nachbarschaft usw.). Davon profitiert dann auch das Mesopolitische (jede geordnete Vereinigung) und Makropolitische („die“ Gesellschaft, „der“ Staat, die „Völkergemeinschaft“). Ja man muss sogar sagen, gerade der Staat und die von ihm geschützte und geförderte Wirtschaftsordnung parasitieren an den Nanopolitiken. Das von Gewinnstreben und Konkurrenz geprägte Wirtschaften wäre völlig undenkbar ohne die vielfältigen zwischenmenschlichen Verhältnisse, in denen es nicht um Monetarisierung, Verwertung, Nützlichkeit, Ausbeutung, ökonomischen Vorteil geht: Liebesbeziehung, Freundschaft, Elternschaft, Pflege von Angehörigen, aber auch schon alltägliches Miteinander und Füreinander. Der Krieg aller gegen alle, auf den der Kapitalismus zwangsläufig hinausläuft, findet zwar statt, aber er wäre längst zu einem bösen Ende gekommen, wenn es nicht wenigstens zum Teil von ihm freie und von seinen Strategien und Taktiken nicht vollständige erfasste Bereiche gäbe.
Die konkrete Ausformung der aus unzähligen Einzelakten bestehenden und wie gesagt heterogenen und widersprüchlichen nanopolitische Matrix ist nicht kontingent, aber anderseits einer vollständigen Analyse nicht zugänglich, weil nicht jedes individuelle Verhalten erfasst und in seinem Verlauf rekonstruiert werden kann. Immer nur ausschnittshaft, durch das eigene Bewegen in der Matrix („im alltäglichen Umgang“) kann kognitive Empirie gewonnen werden. Anders gesagt, warum die Leute so fühlen, denken, reden, handeln, wie sie fühlen, denken, reden, handeln, ist insgesamt schwer zu sagen, aber sie tun es offensichtlich und das hat Wirkungen. Und wenn man mit ihnen interagiert, gibt es auch Einsichten, wie bestimmte nanopolitische Muster ausstehen, was deren Herkunft ist und welche Bedingungen sie haben.
Die Anerkennung des Nanopolitischen und dessen Bedeutung als Matrix des Mikro-, Meso- und Makropolitischen ist insofern wichtig, als sie (wie schon zuvor die Beschäftigung mit dem Mikropolitischen) erlaubt, die Fundierung von Herrschaftsbeziehungen in Machtverhältnissen zu begreifen.
Wie ich zu sagen pflege: Es genügt nicht, dass einer befiehlt, es muss auch jemand gehorchen. Herrschaft funktioniert nur, wenn es Beherrschte gibt, also Subjekte, die sich herrschaftskonform verhalten.
Gehorsam ist aber nun nicht bloß ein psychischer Zustand (und insofern Gegenstand der Psychologie), sondern auch ein politisches Verhalten (und insofern soziologisch oder sozialphilosophisch erforschbar). Das Fühlen, Denken, Reden, Tun und Lassen keines Untertans geht vollständig darin auf, Effekt von Herrschaft und Beitrag zum Beherrschtwerden zu sein. Eine solche totalitäre Herrschaft ist unmöglich, denn sie hätte keine Subjekte mehr, sondern steuerte nur noch Marionetten; technische Akte mögen nun zwar Teil von Herrschaftspraktiken sein, aber die Bedienung von Maschinen also solche ist eben bloß ein technischer, kein herrschaftlicher Vorgang.
Wo Macht ist, ist auch Widerstand, heißt es. Weil die nanopolitische Matrix nicht homogen und nicht kohärent ist, enthält sie immer auch Ansätze zur Abweichung, zum Widerspruch, zur Widersetzlichkeit. Derlei ist nicht weniger politisch als das, was konform ist.
Man wird nun einerseits zugeben müssen, dass das, was in der Matrix vom Hegemonialen und Herrschenden nicht erfasst wird, doch auch in dessen Dienst stehen kann (wie etwa, um ein Bild zu gebrauchen, die Freizeit der Arbeitszeit dient, weil ohne Erholung und Zerstreuung, nur mit sturem Durcharbeiten menschliches Tun gar nicht dauerhaft möglich ist). Andererseits ist aber die Heterogenität und Widersprüchlichkeit des Nanopolitischen auch Ansatzort von Alternativen zum Bestehenden: für Ausflüchte und Umgehungen, für Doppelleben und Doppelmoral, aber auch für Kritik und Gegenvorschläge, letztlich für Utopie und Revolte.
Was von „oben“ kommt (also makropolitische Interventionen), kann die nanopolitische Matrix nur sehr bedingt beeinflussen. Agitation und Propaganda werden da, zumindest kurzfristig, nicht genügen, es bedarf zum Teil der Gewalt (Verbote, Abschaffungen, Behinderungen, Drohungen), zum anderen einer Dauerberieselung zum Zweck einer nachhaltigen Neuordnung der Wahrnehmungs-, Deutungs- und Wertungsgewohnheiten.
Es wäre also, um auf das Beispiel des Rassismus zurückzukommen, ebenso möglich, makropolitisch beim schon zumindest marginal vorhandenen nanopolitischen Antirassismus wie beim hegemonialen Rassismus anzusetzen. Statt immer neue Diskurse und Maßnahmen der Abgrenzung, Abwertung, Benachteiligung, Abschaffung von „Fremden“ zu stipulieren, könnte man auch Offenheit für Ungewohntes, Empathie in Bezug auf Schwächere, Neugier auf Neues, selbstlose Hilfsbereitschaft und die Würdigung des hohen (kulturellen, spirituellen, moralischen und rechtlichen) Wertes des Gastrechts fördern und einfordern ― und fände auch dafür Ansatzmöglichkeiten in der schon stattfindenden Nanopolitik. Wem nützt es, dass das eine getan, das andere gelassen wird?
Anscheinend kommt der Ausdruck „Matrix“ auch im Narrativ einer populären Fimreihe [ab 1999] vor. Dort scheint er so viel wie „umfassende Simulation“ oder „Scheinwelt“ zu bedeuten (vgl. zum Thema auch Daniel Galouyes Roman „Simulacron 3“ [1964] und Raner Werner Fassbinders danach gedrehten Film „Welt am Draht“ [1973]). Ich verwende „Matrix“ hier in dieser Skizze allerdings ausschließlich in der Bedeutung von „Nährboden“.