Donnerstag, 30. Januar 2025

Die nanopolitische Matrix

Es gibt Politisches, das allem Politischen zu Grunde liegt und dessen notwendige Voraussetzung ist und das doch oft übersehen oder unterschätzt wird: das Nanopolitische. Damit meine ich das alltägliche Verhalten der Leute, ihr Tun und Lassen in ihren allerprivatesten und nur mittelbar mit öffentlichen Angelegenheiten verbundenen Dingen, also das, was man zu Verwandten, Freunden, Bekannten, Passanten usw. sagt (oder im Selbstgespräch), was man isst und trinkt, was man in welchen Medien konsumiert, wie man sich einrichtet in dem, worin man wohnt, wie man seine Freizeit und seinen Urlaub verbringt (oder das möchte), welche Waren man kauft, was man wie wegwirft, welche Kleidung man trägt, ob und welche Körpergestaltung (Tattoos, Piercings, kosmetische Operationen) man vornehmen lässt usw.
Es gehören auch alle Lebenseinstellungen, Vorlieben und Abneigungen dazu: Wen und was man bewundert, wer einen nervt, wem man ähneln, was man besitzen will, ob man gläubig oder ungläubig ist und wie man das praktiziert, wie man sich entspannt, ob man Wert darauf legt, sich gesund zu ernähren und ob man es auch wirklich tut usw. Zum Nanopolitischen gehören auch typische und gewohnheitsmäßige Verhaltensweisen, also ob man sich etwa je nach Situation und Zusammenhang rücksichtsvoll, abenteuerlustig, neugierig, fürsorglich, angriffslustig, geistesabwesend usw. usf. verhält.
Nanopolitisch ist selbstverständlich auch die Sprache, die Ausdrucksweise, derer man sich bedient, die Lieblingsvokabeln, die Redensarten, die Sprichwörter, die Zitate, die Anspielungen, die man auf Vorrat hat und anwendet, nicht zuletzt die Redeweisen, die man bewusst oder unbewusst nachahmt, die man sich für welche Adressaten zurechtgelegt hat, auch die Wörter, die man vermeidet, die man falsch gebraucht usw.
Kurzum, all Lebensäußerungen, die das Zusammenleben mit anderen bestimmen, und insofern politisch genannt werden dürfen, die aber keine Assoziations- und Organisationsform ausbilden, ergeben eine individuelle, unbedingt in soziale Zusammenhänge eingebundene Nanopolitik.
Das Nanopolitische ist durchaus strukturiert, aber heterogen, meist widersprüchlich und inkohärent, es ist, wo nicht Gewohnheiten, Zwänge und Rituale es über lange Zeiträume festlegen, durchaus wandelbar, zudem meist unreflektiert und sehr stark mit Affektivem verbunden.
Von einer nanopolitischen Matrix kann deshalb gesprochen werden, weil all die kleinen (aktuellen und potenziellen) nanopolitischen Vollzüge die unabdingbare Voraussetzung jeglicher Mikro-, Meso- und Makropolitik sind.
Politik wird oft als etwas verstanden, was „oben“ gemacht wird und nach „unten“ wirkt. Das ist auch tatsächlich oft so. Aber auch das Unten wirkt auf andere Ebenen zurück, und ohne nanaopolitische Grundlage hingen diese in der Luft (was sie nicht tun). Beispielsweise sind die Leute nicht erst deshalb rassistisch, weil rassistische Politiker ihnen das einreden, sondern nur deshalb, weil die Leute schon zuvor in gewisser Weise rassistisch sind, können rassistische Politiken erfolgreich sein.
Selbstverständlich ist der nanopolitische Rassismus (wie alles Nanopolitische) untheoretisch und eher affektiv und gelegenheitsrhetorisch als programmatisch und rational verallgemeinerungsfähig. Und selbstverständlich wirkt rassistische Propaganda und der Wahlerfolg rassistischer Parteien auf das Nanopolitische zurück. Aber gerade solche Wahlerfolge und die Popularität gewisser Slogans („Kriminelle Ausländer abschieben!“) könnte es nicht geben, wenn nicht schon im Voraus die Bereitschaft vorhanden wäre, sich auf rassistische Angebote als repräsentative Artikulationen der eigenen Überzeugungen einzulassen. Anders gesagt, die „große“ Politik findet nur dann Zustimmung, wenn sie sich relevant auf das bezieht, was im „Kleinen“ und „Kleinsten“ (also im Nanopolitischen) bereits existiert. Dort muss sie „einhaken“, dort „andocken“ und eine möglichst stabile Verbindung herstellen. Dann erst kann sie verstärkend, bestärkend und nicht zuletzt multiplikatorisch wirken.
Um keinen falschen Eindruck entstehen zu lassen: Das Nanopolitische ist keineswegs ausschließlich ressentimental und feindselig. Im Gegenteil. Ohne ein hohes Maß an Verbindlichkeit, Zugewandtheit, Kooperationsbereitschaft, Einsatzfreude, Hilfsbereitschaft, Rücksichtnahme, Opferbereitschaft usw. wäre Gesellschaft gar nicht möglich. Das zeigt sich vor allem im Übergang vom Nanopolitischen (wie oben skizziert) zum Mikropolitischen (Paar, Familie, Freundeskreis, Nachbarschaft usw.). Davon profitiert dann auch das Mesopolitische (jede geordnete Vereinigung) und Makropolitische („die“ Gesellschaft, „der“ Staat, die „Völkergemeinschaft“). Ja man muss sogar sagen, gerade der Staat und die von ihm geschützte und geförderte Wirtschaftsordnung parasitieren an den Nanopolitiken. Das von Gewinnstreben und Konkurrenz geprägte Wirtschaften wäre völlig undenkbar ohne die vielfältigen zwischenmenschlichen Verhältnisse, in denen es nicht um Monetarisierung, Verwertung, Nützlichkeit, Ausbeutung, ökonomischen Vorteil geht: Liebesbeziehung, Freundschaft, Elternschaft, Pflege von Angehörigen, aber auch schon alltägliches Miteinander und Füreinander. Der Krieg aller gegen alle, auf den der Kapitalismus zwangsläufig hinausläuft, findet zwar statt, aber er wäre längst zu einem bösen Ende gekommen, wenn es nicht wenigstens zum Teil von ihm freie und von seinen Strategien und Taktiken nicht vollständige erfasste Bereiche gäbe.
Die konkrete Ausformung der aus unzähligen Einzelakten bestehenden und wie gesagt heterogenen und widersprüchlichen nanopolitische Matrix ist nicht kontingent, aber anderseits einer vollständigen Analyse nicht zugänglich, weil nicht jedes individuelle Verhalten erfasst und in seinem Verlauf rekonstruiert werden kann. Immer nur ausschnittshaft, durch das eigene Bewegen in der Matrix („im alltäglichen Umgang“) kann kognitive Empirie gewonnen werden. Anders gesagt, warum die Leute so fühlen, denken, reden, handeln, wie sie fühlen, denken, reden, handeln, ist insgesamt schwer zu sagen, aber sie tun es offensichtlich und das hat Wirkungen. Und wenn man mit ihnen interagiert, gibt es auch Einsichten, wie bestimmte nanopolitische Muster ausstehen, was deren Herkunft ist und welche Bedingungen sie haben.
Die Anerkennung des Nanopolitischen und dessen Bedeutung als Matrix des Mikro-, Meso- und Makropolitischen ist insofern wichtig, als sie (wie schon zuvor die Beschäftigung mit dem Mikropolitischen) erlaubt, die Fundierung von Herrschaftsbeziehungen in Machtverhältnissen zu begreifen.
Wie ich zu sagen pflege: Es genügt nicht, dass einer befiehlt, es muss auch jemand gehorchen. Herrschaft funktioniert nur, wenn es Beherrschte gibt, also Subjekte, die sich herrschaftskonform verhalten.
Gehorsam ist aber nun nicht bloß ein psychischer Zustand (und insofern Gegenstand der Psychologie), sondern auch ein politisches Verhalten (und insofern soziologisch oder sozialphilosophisch erforschbar). Das Fühlen, Denken, Reden, Tun und Lassen keines Untertans geht vollständig darin auf, Effekt von Herrschaft und Beitrag zum Beherrschtwerden zu sein. Eine solche totalitäre Herrschaft ist unmöglich, denn sie hätte keine Subjekte mehr, sondern steuerte nur noch Marionetten; technische Akte mögen nun zwar Teil von Herrschaftspraktiken sein, aber die Bedienung von Maschinen also solche ist eben bloß ein technischer, kein herrschaftlicher Vorgang.
Wo Macht ist, ist auch Widerstand, heißt es. Weil die nanopolitische Matrix nicht homogen und nicht kohärent ist, enthält sie immer auch Ansätze zur Abweichung, zum Widerspruch, zur Widersetzlichkeit. Derlei ist nicht weniger politisch als das, was konform ist.
Man wird nun einerseits zugeben müssen, dass das, was in der Matrix vom Hegemonialen und Herrschenden nicht erfasst wird, doch auch in dessen Dienst stehen kann (wie etwa, um ein Bild zu gebrauchen, die Freizeit der Arbeitszeit dient, weil ohne Erholung und Zerstreuung, nur mit sturem Durcharbeiten menschliches Tun gar nicht dauerhaft möglich ist). Andererseits ist aber die Heterogenität und Widersprüchlichkeit des Nanopolitischen auch Ansatzort von Alternativen zum Bestehenden: für Ausflüchte und Umgehungen, für Doppelleben und Doppelmoral, aber auch für Kritik und Gegenvorschläge, letztlich für Utopie und Revolte.
Was von „oben“ kommt (also makropolitische Interventionen), kann die nanopolitische Matrix nur sehr bedingt beeinflussen. Agitation und Propaganda werden da, zumindest kurzfristig, nicht genügen, es bedarf zum Teil der Gewalt (Verbote, Abschaffungen, Behinderungen, Drohungen), zum anderen einer Dauerberieselung zum Zweck einer nachhaltigen Neuordnung der Wahrnehmungs-, Deutungs- und Wertungsgewohnheiten.
Es wäre also, um auf das Beispiel des Rassismus zurückzukommen, ebenso möglich, makropolitisch beim schon zumindest marginal vorhandenen nanopolitischen Antirassismus wie beim hegemonialen Rassismus anzusetzen. Statt immer neue Diskurse und Maßnahmen der Abgrenzung, Abwertung, Benachteiligung, Abschaffung von „Fremden“ zu stipulieren, könnte man auch Offenheit für Ungewohntes, Empathie in Bezug auf Schwächere, Neugier auf Neues, selbstlose Hilfsbereitschaft und die Würdigung des hohen (kulturellen, spirituellen, moralischen und rechtlichen) Wertes des Gastrechts fördern und einfordern ― und fände auch dafür Ansatzmöglichkeiten in der schon stattfindenden Nanopolitik. Wem nützt es, dass das eine getan, das andere gelassen wird?

Anscheinend kommt der Ausdruck „Matrix“ auch im Narrativ einer populären Fimreihe [ab 1999] vor. Dort scheint er so viel wie „umfassende Simulation“ oder „Scheinwelt“ zu bedeuten (vgl. zum Thema auch Daniel Galouyes Roman „Simulacron 3“ [1964] und Raner Werner Fassbinders danach gedrehten Film „Welt am Draht“ [1973]). Ich verwende „Matrix“ hier in dieser Skizze allerdings ausschließlich in der Bedeutung von „Nährboden“.

Notiz zur Zeit (241)

63% der befagten BRD-Bewohner sind für Zurückweisungen an den Grenzen, 53% für dauerhafte Grenzkontrollen, 48% für das Einsperren von Ausreisepflichtigen. (ZDF-Politbarometer)
Wer mit wem im Bundestags zusammenstimmt, ist da, scheint mir, das geringere Problem.
Die Parteien haben den Rassismus nicht erfunden, sie verstärken ihn zwar und instrumentalisieren ihn, aber seine Grundlage, aus der er sich speist, ist das ungesunde Volksressentiment, die Gewohnheits- und Alltagsfremdenfeindlichkeit der Vielen, die Bereitschaft der Massen, anderen Böses anzutun, um sich selbst irgendwie besser zu fühlen.
Wer die AfD verbieten will (damit Ruhe ist, alle wieder lieb zueinander sind und man sich nicht so schämen muss) müsste, wenn's im Ernst mit politischer Kritik wäre, auch für ein Verbot von Union und FDP, SPD, Grünen eintreten und eines des BSW sowieso.
Nicht rechte Parteien sind das Problem (die gab es immer), sondern die Leute, die sie wählen.
Es ist nämlich schlichtweg nicht so, dass irgendwelche wahlwerbenden Schurken unschuldige Wählerinnen und Wähler zum Bösen verführen. Vielmehr sind die Leute nur zu gern bereit, das Angebot, hassen zu dürfen, anzunehmen.

Mittwoch, 29. Januar 2025

Glosse CXXXV

Dschenie. Auch das noch! Aber es war wohl nur eine Frage der Zeit, bis die falsche Aussprache französischer Wörter vom anlautenden J auch aufs anlautende G (vor Vokal) übergreifen würde. Dschenie wie dschurnal und dieses wie dschiens und dschob. Gemäß dem alten Grundsatz: Je englischer, desto dümmer.

Dienstag, 28. Januar 2025

Grundgesetz: Wahrheit oder Pflicht

„Die Würde des Menschen ist unantastbar“, lautet der erste Satz des deutschen Grundgesetzes (also der seit langem gar nicht mehr provisorischen, sondern längst definitiven Verfassung der BRD). Und dieser wirklich sehr schöne Text geht weiter: „Sie [die Menschenwürde] zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Das ist reine Poesie. Schlicht, ergreifend, präzise und verbindlich. Ähnlich wird im zweiten Absatz desselben Artikels klargestellt: „Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.“ Große Worte, wirklich eindrucksvoll und geradezu erhaben.
Schon im nächsten Artikel, im zweiten Absatz, heißt es: „Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich.“ Dann folgt freilich ein Zusatz: „In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden.“
Der dritte Absatz des dritten Artikels besagt: „Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden.“
Diese knappen und doch so gehaltvollen Texte gehören für mich zum Besten, was je in deutscher Sprache formuliert wurde. Zu Recht werden sie oft zitiert, und sie wären es wert, häufig gesungen, gelegentlich in Stein gemeißelt und vor allem allseits beherzigt zu werden.
Doch ein Verfassungstext ist das eine. Die Realität etwas anderes.
Wenn die Würde des Menschen ― besser: der Menschen ― wirklich unantastbar wäre (und sie zu achten und zu schützen tatsächlich Wille und Praxis der Legislative, Exekutive und Judikative wäre), wieso gibt es dann in der insgesamt so reichen Gesellschaft der BRD Menschen, die auf der Straße leben müssen? Wieso Menschen, die um kostenlose Lebensmittel anstehen müssen? Wieso Menschen, die kein Geld haben, um ihren Kindern ein Frühstück zu machen oder neue Schuhe oder irgendein läppisches Spielzeug zu kaufen? Wieso gibt es Menschen, denen von Amtswegen vorgeschrieben wird, wie viel Wohnraum sie nutzen dürfen (und das Zuviel einer zu großen Wohnung wird gesperrt)? Wieso gibt es Menschen, die nicht krankenversichert und darum auf wohltätiges ärztliche und pflegerische Wohltäter angewiesen sind?
Und so weiter und so fort. Ist nicht ganz offensichtlich, dass ein lückenhafter, zuweilen sogar böswilliger und erniedrigender „Sozialstaat“ mit der verpflichtenden Achtung der Menschenwürde unvereinbar ist?
Dasselbe gilt für den Umgang mit Migration. Zugewanderte und Zuwanderungswillige vor allem und zum Teil ausschließlich als Bedrohung, Last, Problem und Gegenstand bürokratischer Steuerung zu betrachten und zu behandeln ist unwürdig. Wenn Bevorzugung oder Benachteiligung auf Grund von Abstammung, Rasse, Sprache, Heimat, Herkunft verboten sind, dann muss dasselbe Staatsbürgerrecht für alle gelten (und zwischen Deutschen von Geburt und solchen durch Einbürgerung darf nicht unterschieden werden), dann ist die Forderung nach Abschiebung krimineller Ausländer verfassungswidrig (Inländer werden auch nicht abgeschoben) und schon der Zwang zu Sprachkursen ist unzulässig, da ja beispielsweise Schwaben und Sachsen auch keine besuchen müssen (obwohl man als mit Hochdeutsch Sozialisierter deren Gebrabbel oft nicht besser verstehen kann als Arabisch, Paschto oder irgendwas Afrikanisches). Würden Zugewanderte als selbständige, gleichberechtigte, entscheidungsfähige Mitmenschen betrachtet, deren Wünsche und Bedürfnisse selbstverständlich nicht weniger zählen als die von Einheimischen, müssten Integration und Wandel ganz anders diskutiert und praktiziert werden, als es der Fall ist. Nur das aber wäre mit dem Grundgesetz vereinbar.
Die Achtung der Menschenrechte von „Menschen mit Herkunft“ ist also gar keine Frage eines so oder so zu gestaltenden Asylrechts (oder anderer Schutzbestimmungen, die zum Teil völkerrechtlich verbindlich sind), sondern unmittelbar geltendes und nicht verhandelbares Verfassungsrecht.
Das Grundgesetz gilt für die BRD. Aber es verpflichtet deren staatliche Institutionen ausdrücklich in jedem Fall, also auch deren Tun und Lassen im Verhältnis zu Ereignissen und Zuständen außerhalb der BRD.
Wenn jeder Mensch ein Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit hat, wie können deutsche Politik, deutsche Medien, deutsche Zivilgesellschaft dann die Verbrechen des Staats Israel ignorieren, verharmlosen, rechtfertigen, zulassen und sogar unterstützen? Sind die die Bewohner des „Gazastreifens“ und des „Westjordanland“ keine Menschen? Haben sie kein Recht auf Leben? Darf man sie nach Lust und Laune beschießen und bombardieren? Wenn sie (einschließlich der Kinder) alle Verbrecher („Terroristen“) sind, müssten sie dann nicht vor Gericht gestellt werden? Wenn sie (einschließlich der Kinder) alle Kriegsgegner sind, müssten dann nicht die völkerrechtlich verbindlichen Regeln angewandt werden? Wieso darf man Menschen einfach umbringen, weil man das zum politischen Ziel („Death the Arabs“) erklärt hat?
Wenn unantastbare Würde und Recht auf Leben mehr als Worthülsen wären, dann dürfte die BRD nicht an der Seite Israels stehen, das seit seiner Gründung (und schon davor) unausgesetzt Menschenrechte, Völkerrecht und simplen menschlichen Anstand verletzt, sogar verletzen muss, weil seine Konzeption als ethnisch reiner Staat von Anfang an auf nichts anderes als auf Rassismus, Mord und Zerstörung hinauslaufen konnte. Die BRD müsste sich stattdessen auf Grund ihre selbstformulierten verfassungsmäßigen Verpflichtung ohne Wenn und Aber auf die Seite der Palästinenser stellen.
Wie im Übrigen auch auf die Seite all der anderen Erniedrigten und Unterdrückten überall auf der Welt, deren Würde mit Füßen getreten wird und deren Recht auf Leben und Unversehrtheit keinen Pfifferling wert ist. Von wegen „Frieden und Gerechtigkeit in der Welt.“ Stattdessen kooperiert man politisch und ökonomisch mit allen möglichen verbrecherischen Regimes, lässt transnationale Konzerne schalten und walten und sorgt auch im eigene Land nicht für die Einhaltung der grundlegenden verfassungsmäßigen Verpflichtungen. Sonst wären AfD und BSW längst verboten und CDU/CSU, FDP und die immer noch russlandverliebten Teile der SPD ständen kurz davor.
Es geht also im Kern gar nicht um abstrakte Begriffe wie „links“ und „rechts“, um die Rettung der Demokratie vor unerwünschtem Wahlverhalten und unverbindliche Demonstrationen für eine besser Welt. Es geht darum, die ganz konkreten Grundsätze des Grundgesetzes zu befolgen. Uneingeschränkt und mit Nachdruck. Der Rest ist dann einfach. (Bis man entdeckt, dass selbstverständlich auch kapitalistische Ausbeutung und Umweltzerstörung verfassungswidrig sind …)

Montag, 27. Januar 2025

Zum 27. Januar 2025

Heute wird also landauf, landab wieder Gedenken gemacht, dass die Schwarte kracht. Der Jahrestag der Befreiung des deutschen Vernichtungslagers Auschwitz ist ein verordneter Tag des Gedenkens an die millionenfache Entrechtung, Entwürdigung, Beraubung, Verschleppung, Folterung und Ermordung von Menschen mit der „Begründung“, sie seien Jüdinnen und Juden.
Ohne jeden Zweifel waren und sind die Verbrechen, deren Zusammenhang man mit Chiffren wie „Holocaust“ oder „Schoah“ zu benennen versucht, entsetzlich, menschenverachtend und ohne jede mögliche Rechtfertigung. Dass es sie gab, ist nicht nur historische Faktizität, sondern hat auch ethische, politische, metaphysische Dimensionen. Sich das Unvorstellbare vor Augen zu führen, gut darüber Bescheid zu wissen, das Leid zu betrauern und Grausamkeit und Gleichgültig zu verachten, dürfte für jeden, der auch nur ein Fünkchen menschlichen Anstands besitzt, eine nicht verhandelbare und unabschließbare Selbstverständlichkeit sein
Wie das aber kollektiv-institutionell zu verwirklichen ist, darüber kann man verschiedene Ansichten haben.
Das öffentliche Gedenken bei einschlägigen Veranstaltungen erschien mir immer schon fragwürdig. All die von staatstragendem Pathos triefenden Reden mit ihrer nachgereichten Traurigkeit und ihrer forsch zur Schau gestellter Empathie mit Toten (und deren vermeintlichen Erben) machen aus eine vorhersehbare Zirkusnummer namens „Vergangenheitsbewältigung“. Längst ist das Holocaust-Gedenken zum rhetorischen Ritual, zur abzuarbeitenden Politfolklore geworden, bedeutungschwer, aber inhaltsarm und folgenlos. Man nützt die Gelegenheit, sich am Grauen zu gruseln. Man suhlt sich in der Schuld der Früheren, um die eigene Überlegenheit umso unbefragter hinzustellen: Wir haben unsere Lektion gelernt. Wir sind nicht mehr so. Nie wieder!
Da wird man doch fragen dürfen: Äh, wieso das denn?
Heißt es wirklich, faulige Äpfel mit zerfressenen Birnen zu verrechnen, wenn man darüber nachdenkt, ob eine Gesellschaft, die besessen ist von angeblichen „(Im-)Migrationsproblemen“ und bei jedem sich bietendem Anlass sogleich nach Deportationen, Schließung der Grenzen für Unbefugte und Einschränkungen des Asylrechts und Staatsbürgerschaftsentzug ruft, wirklich so ganz anders als eine Gesellschaft, die bereit war hinzunehmen (und in teilen sogar sehr dafür war), Mitbürger zu Menschen zweiter Klasse zu degradieren, sie loszuwerden und ihr Schicksal mit Gleichgültigkeit, bürokratischer Effizienz oder gehorsamer Mordlust zu besiegeln?
Ist eine Gesellschaft, die das massenhaften Morden und Quälen und Erniedrigen von Palästinensern durch Israelis stillschweigenden hinnimmt (und heimlich unterstützt), jede allzu deutliche Kritik daran aber als „Antisemitismus“ zu diskreditieren, zu kriminalisieren und somit zum Verstummen zu bringen versucht, wirklich so anders als eine Gesellschaft, die selbst unmenschliche Verbrechen begeht?
Was hat all das Gedenken, Jahr für Jahr, bei unzähligen Gelegenheiten, was haben all die Reden, Symposien, Publikationen, Unterrichtseinheiten, Lagerbesuche, Tefaudokumentaionen und Spielfilme denn gebracht?
Diejenigen, die sich für ihren Staat ein „Existenzrecht“ aus den Verbrechen der Nazis herleiten, haben jedenfalls offensichtlich keine Probleme damit, sich ihrerseits brutal, grausam, unbarmherzig und unmenschlich gegenüber denen zu verhalten, die sie als nicht zu ihrer „Volksgemeinschaft“ gehörig betrachten. „Tod den Arabern!“ war schon seit langem eine Losung, die vom rechten Pöbel in Israel gebrüllt wurde, ohne dass sich die Unterstützer des Zionismus je daran gestört hätten.
Und in der BRD (oder Österreich)? Was hat all das Gedenken dort gebracht? Hätten die AfD (oder die FPÖ) noch mehr Stimmen und Stimmung ohne Jahrestage, Mahnreden, Gedenkfeiern, Stolpersteine und wiedererrichtete Synagogen? Wäre der Alltagsrassismus noch stärker?
Von den USA möchte ich an dieser Stelle aus Erschöpfung weitgehend schweigen dürfen. Dass Geschichtsvergessenheit, Dummheit, Ultrapatriotismus und böser Wille (zusammen mit der Gier mächtiger Lemuren) einen autoritären Clown zum zweiten Mal ins für die Welt gefährlichste politische Amt gespült haben, zeigt auch, wie sehr Wissen, Wissenkönnen und Wissenwollen auseinanderzutreten vermögen.
Darum: Ja zum geschichtlichen Wissen, zum Gedenken, zur Trauer, zur Verneinung der Unmenschlichkeit. Aber nicht in Formen, die die herrschenden Verhältnisse bekräftigen. Wer von den gegenwärtigen Verbrechen ― und den gegenwärtigen Verbrechern ― nicht offen reden will, braucht über die früheren Verbrechen nicht zu schwafeln. Das beleidigt die Opfer, die damaligen wie die heutigen, und alle, die auch heute gegen das Verbrechertum auftreten. 
 
Konstruktiver Vorschlag: Warum lässt man nicht Palästinenser und Uiguren und Rohingya und … den jeweiligen parlamentarischen Festakt zum 27. Januar gestalten?

Samstag, 25. Januar 2025

Halali

In einer von vielerlei Unrecht und ungerechtfertigter Ungleichheit geprägten Gesellschaft ist es nicht immer einfach, den Schwächsten zu finden, auf dem man, um von den Verursachern des Unrechts abzulenken, herumtrampeln kann. Im mittellosen Flüchtling, vorzugsweise traumatisiert oder psychisch krank, dürfte man ihn gefunden haben.

Das ist nicht neu und wird anscheinend so schnell nicht aus der Mode kommen. Früher waren die Feinde Kommunisten, seit deren Machtverlust (außerhalb Rotchinas usw.) sind es Terroristen. Am liebsten Islamisten. Der politische oder private Terrorist, der den Vorzug hat, Orientale zu sein, erlaubt eine viel bessere Einbindung rassistischer Ressentiments als der alte Antikommunismus. wenn er dann auch noch politisiert und religiös ist, gibt es einfach kein besseres Feindbild.
 
Der Ausländer als solcher ist unerwünscht. Er gehört einfach nicht hierher, sein Hergekommensein (seine Herkunft also) und sein Hiersein gehören sich nicht Wenn er das nicht einsieht, ist er gefährlich. 
 
Wenn ein entsetzliches Verbrechen von einem seelisch Kranken begangen wird, rechtfertigt das nicht die Tat, ändert aber etwas an der Verantwortung des Täters. Eine Gesellschaft, die auf Gewalt auf Grund von psychischer Störung mit dem Ruf nach Deportation und Grenzabriegelung reagiert, ist unmenschlich. Eine Gesellschaft, die nicht willens ist, ihre Verantwortung für die Hilfe von Hilfsbedürftigen, also auch Traumatisierten und Verstörten (seien sie auch Verbrecher oder gar Zugewanderte), wahrzunehmen, ist unmenschlich. Und dumm: Sie schadet sich selbst.
 
Noch das elaboriertes Konzept gesteuerter Migration (vor allem aber das Phantasieren über Remigration, Deportation, Selektion, Abweisung an der Grenze, Einschränkung von Grundrechten und dauernde „Verschärfungen“ bei der Entrechtung und Entwürdigung) ist nichts anderes als ein schlichtes AUSLÄNDER RAUS.

Warum bekommt man den Rassismus nicht aus den Herzen und Köpfen der Leute? Er nutzt ihnen nichts, er schadet ihnen. Er nutzt nur denen, die auch sie ausbeuten, die auch sie verdummen, die auch ihre Lebensgrundlagen beschädigen und zerstören.

Die Kommunisten sind schuld. Die Terroristen sind schuld. Seltsamerweise sind nie (außer für die üblichen Verdächtigen) die Kapitalisten schuld. Schuld sind am besten diese Fremden, die zu uns wollen, um uns alles wegzunehmen. Wer aber hat in dieser Welt eigentlich mehr Macht? Die „illegalen“ Arbeitsmigranten, die Asylsuchende, die Hungerleider oder nicht doch die Superreichen?

Leute (21)

X. beim Kochen zuzusehen (etwa, weil man dankenswerterweise bei ihr zum Essen eingeladen ist), ist keine Freude. Ihr Vorgehen hat meist etwas Terroristisches. Sie verfügt über einen genauen Plan, was wann zu tun ist, aber immer kommt ihr etwas dazwischen, ist anders, als erwartet, fehlt oder misslingt. Dauernd muss sie korrigierend eingreifen, um den Plan anzupassen, immer wieder wird improvisiert, muss mal eben zum Vorbereiteten noch bisher Unberücksichtigtes hinzugefügt werden. Sie ist dabei höchst konzentriert, vehement emsig, immer auf dem Sprung; und zugleich fahrig, willkürlich und unsicher. Wenn etwas, was sie gerade jetzt braucht, nicht so und nicht dort ist, wo und wie es ihrer Meinung nach sein sollte, wird sie ungehalten. Sehr ungehalten. Über fehlende Zutaten und unauffindbares Küchengerät kann sie sich furchtbar aufregen, dann droht alles zu scheitern, das Essen ist im Grunde schon verdorben, ihr jedenfalls verleidet. Die Welt ist dann schlecht und ihr Lebensgefährte sehr wahrscheinlich schuld, weil er irgendetwas weggeworfen oder zumindest falsch verstaut hat. Wenn das Gesuchte dann doch noch auftaucht, kommt es kommentarlos zum Einsatz. ― Übrigens ist das Essen schließlich meistens sehr gut.

Donnerstag, 16. Januar 2025

Aufgeschnappt (bei Pasolini)

La mia indipendeza, che è la mia forza, implica la mia solitudine, che è la mia debolezza.

Meine Unabhängigkeit, die meine Stärke ist, führt zu meiner Einsamkeit, die meine Schwäche ist.

Mittwoch, 15. Januar 2025

Charakterstudie (3)

Der dort kümmert sich nicht gern um Kleinigkeiten. Er sieht sich mehr fürs Große und Ganze zuständig. Einzelheiten interessieren ihn nur, wenn er sie symbolisch für einen größeren Zusammenhang nehmen kann. Er sieht oft Zusammenhänge, die andere nicht verstehen. Darin liegt seine Begabung. Die große Linie. Wer liest schon das Kleingedruckte? Er arbeitet keine detailierten Pläne aus. Er macht einfach und vertraut darauf, dass alles gut gehen wird. Muss es ja, er hat schließlich den Überblick. Er kann, was er kann, aber einer wie er kann sich nicht um alles kümmern. Kritische Nachfragen irritieren ihn, das ist kleingeistig. Er ist kein Erbsenzähler. Scheitern ist keine Option. Weil er aber doch immer wieder scheitert, macht er dafür den Mangel an Sinn für seine Außergewöhnlichkeit bei den anderen verantwortlich.

Dienstag, 14. Januar 2025

Charakterstudie (2)

Die dort hat immer viel zu tun. Das bewahrt sie davor, innehalten zu können und sich womöglich zu fragen, warum sie tut, was sie tut. Darüber denkt sie nie nach, und fragte man sie, wüsste sie nur zu sagen, dass sie eben tue, was nötig sei. Was ihr Spaß mache. Was das für eine komische Frage sei. Für sowas habe sie keine Zeit.

Charakterstudie (1)

Der dort genießt seine Freiheiten nicht. Sie bereiten ihm vielmehr Unbehagen. Er wüsste immer gern, was er zu tun hat, ohne sich entscheiden zu müssen. Zwar mag er es nicht, wenn man ihm etwas vorschreibt, da wird er oft bockig, aber er nähme gern hin, was einfach sein muss. So aber verweigert er sich vielem. Eben deshalb, weil er sich nicht entscheiden müssen möchte. Dann lieber verzichten. Dass er unglücklich ist, weil er sich nie für etwas entscheiden konnte, was ihn vielleicht glücklich gemacht hätte, weiß er selbst und gerade darum verabscheut er ja das Entscheidenmüssen. Keine Wahl zu haben, kommt ihm besser vor, als etwas zu wählen, womit es dann vermutlich doch nichts ist. So vergehen ihm die Tage seit vielen Jahren. Am Ende wird er tot sein, das immerhin ist unvermeidlich, tröstet ihn aber auch nicht.

Montag, 13. Januar 2025

Balken & Splitter (110)

AfD-Programm: Dummheit und Niedertracht.
 
BSW-Programm: Dummheit und Niedertracht.

Berichterstattung der öffentlich-rechtlichen Sender: Dummheit. Ich sage nicht Niedertracht. Ich unterstelle, dass aus dem ehrlichen Bemühen um die berüchtigte Ausgeglichenheit auch jenen Sendezeit eingeräumt wird, über deren Schweinereien man zwar ab und an berichtet, die aber viele Wähler und Wählerinnen haben, die ja eben auch Zuschauer und Zuschauerinnen sein könnten.
Man kann nur nicht beides haben: Sich der Demokratie und den Menschenrechten verpflichter fühlen und autoritären, rassistischen, landesverräterischen Kräften eine Bühne geben. Egal, wie viele die wählen.
Ich sage nicht, AfD und BSW würden nicht existieren, wenn man das Gesindel nicht immer wieder auf Gebührenkosten ausführlich zu Wort kommen hätte lassen (und immer noch lässt), aber ich bin überzeugt, dass die zwanghafte Normalisierungsstrategie der Berichterstattung (und die Spektakeltaktik der Talkshow-Einladungen) einen multiplikatorischen Effekt hatten und weiterhin haben werden.

Sonntag, 5. Januar 2025

Balken & Splitter (109)

Der Korrespondent, der in der „Tagesschau“ vom Scheitern der Koalitionsverhandlungen in Österreich berichtete, tat dies in einer Schalte aus Wien vor einem green screen, der die Neue Hofburg zeigt, also auch jenen Balkon, von dem aus Hitler 1938 den „Anschluss“ Österreichs an das kleindeutsche Reich verkündete (das dadurch dann zum großdeutschen wurde). Selbstverständlich nur ein Zufall. Aber gibt es Zufälle? Wohl nur für die Geschichtsvergessenen
 
Warum trifft sich der ÖVP-Parteivorstand (zur Kür eines interimistischen Führers) eigentlich im Bundeskanzleramt? Parteien sind private Vereinigungen, keine Staatsorgane. 

Wieso genau ist Kurz nicht im Knast? Sondern im Gespräch als neuer Parteiführer und Bundeskanzler? Was für ein verkommenes Land.
 
Nachtrag (6. Januar): Durfte inzwischen feststellen, dass der Hinter-Balkon-Hintergrund inzwischen Standard bei Kommentar-Schalten der „Tagesschau“ zu sein scheint. (Wissen ARD-Journalistinnen  beiderlei Geschlechts nicht, wo in der Hofburg Amtssitz des Bundespräsident ist? Dort jedenfalls nicht.) Zuletzt ist der Korrespondent vor dem Bild allerdings nach rechts gerückt.

Demokratischer Fatalismus

Mir doch egal, welche neoliberale Marionette gerade regiert. Gewiss, schlimmer geht’s immer, und jede Regierung kann, ob sie will oder nicht, großen Schaden anrichten. Das liegt im Wesen des Regierens. Besser wär’s nicht regiert zu werden, aber wem passiert das schon.
Nicht die Regierung ist in einer Demokratie das Problem, sondern die Teile der Bevölkerung, die diese Regierung herbeiführen, zulassen und ertragen. In Österreich breitet sich immer mehr eine Art Sekundärpopulismus aus, bei dem man die FPÖ vielleicht nicht direkt wählt, aber sagt: Na, dann soll der Kickl halt Bundeskanzler werden und zeigen, was er kann.
Diese Entzauberungshypothese mit der impliziten Bezauberungshoffnung ist fatal. Derlei hat ja bekanntlich 1933 auch schon gut geklappt. Lassen wir die Nazis mal regieren, die „Konservativen“ (heute: neoliberalen Reaktionäre) passen eh auf, so schlimm wird’s schon nicht werden. Und 1945 war dann plötzlich keiner mehr schuld am Desaster.
Die FPÖ wird von weniger als einem Drittel der Wahlberechtigten gewählt, Mehr als zwei Drittel wählen die FPÖ also nicht. Wie ergibt sich da ein Regierungauftrag, gar ein quasi natürlicher Regierungsanspruch.
Wie kann man ― mit Putin, Trump, Millei, Orbán, Fico usw. vor Augen ― eine Regierungsbeteiligung oder sogar Regierungsführung der Rechtpopulisten ernstlich in Betracht ziehen? Ist das der typisch österreichische Fatalismus: „Es kommt eh, wie’s kommt, und es kommt nichts Besseres nach“? Oder einfach maßlose Dummheit (was auch typisch österreichisch wäre)? Oder aber eben eine Sympathie mit dem Diabolischen, ein Liebäugeln mit Hass, Ressentiment, Rassismus, Soziopathie usw.?

Notiz über Poesie

Ein Gedicht darf alles, was es kann. Rühmen. Beobachten. Klagen. Langweilen. Erregen. Einen Nerv treffen. Einen Augenblick festhalten. Den Horizont erweitern, und sei es nur um zwei Millimeter. Fragen stellen. Antworten geben. Antworten verweigern. Mit der Sprache spielen. Sich verlieren. Bedeutendes sagen. Albern sein. Witzig sein. Rührend sein. Schön sein. Herausfordern. Überfordern. Sich empören. Zur Empörung aufrufen. Resignieren. Trauern. Wüten. Usw. Usf. Nur eines darf ein Gedicht nicht: poetisieren. Nämlich das hervortretende Ego des Poeten oder der Poetin mit Manierismen zu dekorieren versuchen. Die Selbstgefälligkeit, mit der viel zu viele ein paar Wörter in die Tastatur klopfen, verrät ihre Bedenkenlosigkeit und damit die Poesie. Ohne Formbewusstsein, ohne Anspruch auf bestmögliche Gestaltung kein wirkliches Gedicht. Alles kleinzuschreiben und Zeilen mehr oder minder willkürlich abzubrechen, simuliert zwar graphisch literarhistorische Errungenschaften, aber derlei macht bei weitem kein Gedicht aus. Derlei tut bloß so als ob. Solche mickrigen Machwerke, gerne verrätstelt und auch sonst unlesbar, sind das pseudo-avancierte Gegenstück zu den gereimten Gelegenheitsgedichten unterforderter Hausfrauen und launiger Geburtstagsgratulanten. Mit Poesie hat das so viel zu tun wie Uromas Häkeldeckchen oder Uropas Bierdeckelsammlung. Mancher Klospruch ist da poetischer. (Wenn die Leute heutzutage überhaupt noch zum Ausüben dieser alten Kunstform kommen und nicht auch beim Pissen und Kacken dauernd aufs Mobiltelephon starren müssen.)
Ein Gedicht darf, was es kann, es muss das aber auch wirklich können. Es muss den Anspruch zu verwirklichen versuchen, dass nur diese Form, die es hat, dem gerecht wird, was es sein soll. Form, nicht Stoff, Gestaltung, nicht Absicht und Meinung sind das Entscheidende. Vieles, was Gedicht genannt wird, ist nur poetisiertes Unvermögen, eine verbindliche Form zu finden.
Gottfried Benn war der Überzeugung, dass auch die bedeutendsten Dichter unter den vielen Hunderten von Gedichten, die sie schreiben, allenfalls eine Handvoll wirklich guter zu Stande bringen. Damit dürfte Benn durchaus Recht gehabt haben. Aber man darf daraus nicht folgern, dass man bloß sehr viele Texte schreiben müsse, um die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, dass irgendwann einmal ein gelungener darunter sei. Man kann, darf und soll als Dichter gewiss so viel schreiben, wie man muss oder will, aber keinesfalls ist immer alles, was einer so absondert, ein lesenswerter Text. Das Schreiben ist nötig, das Publizieren ist es nicht.
Ein Tischler, der Hunderte von Tischen tischlerte, von denen nur ein paar nicht wackeln, wäre ein schlechter Tischler und hätte wahrscheinlich seinen Beruf verfehlt. (Oder eine schlechte Ausbildung genossen.) Ein Dichter hingegen hat das Recht, ja die Pflicht, auch schlechte Gedichte zu schreiben ― er braucht sie ja nicht zu veröffentlichen! ―, um durch Versuch, Scheitern, neuen Versuch, besseres Scheitern usw. darauf hinzuarbeiten, auch einmal ein gutes zu schreiben.
Dichtung ist nicht gefühlsseliges Verseschmieden. (Wenn überhaupt noch jemand einen Begriff vom Unterschied von Vers und Zeile hat.) Inspiration, Geistesblitz, Sensibilität sind erlaubt, aber garantieren bei Weitem noch keine gelungene Gestaltung. Dichtung ist Handwerk, das auf jeden Fall, ein Können also, das man hat oder nicht hat, warum auch immer, aber dichterische Handwerkskunst muss, wenn nicht gedrechselter, gehäkelter, hingerotzter Kitsch und vorgefertigter Müll entstehen soll, immer aufs Neue erarbeitet werden. (Gewiss darf ein Schreibender sich Kunstgriffe beibringen. Mit immer denselben Methoden zu werkeln, wäre jedoch höchst unschicklicher Manierismus. Der Übergang zum Marinierten ist dann oft allzu leicht.) Das Material, das ein Dichter bei diesen seinen Selbstversuchen vergeudet, ist die unerschöpfliche, ewig nachwachsende Sprache, sein Handwerkszeug ist er selbst, und wenn er sich abnützt, dann ist das eben so. Gedichte müssen sein, Dichter aber sind sowieso hinfällig und sterblich.