Dienstag, 28. Januar 2025

Grundgesetz: Wahrheit oder Pflicht

„Die Würde des Menschen ist unantastbar“, lautet der erste Satz des deutschen Grundgesetzes (also der seit langem gar nicht mehr provisorischen, sondern längst definitiven Verfassung der BRD). Und dieser wirklich sehr schöne Text geht weiter: „Sie [die Menschenwürde] zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Das ist reine Poesie. Schlicht, ergreifend, präzise und verbindlich. Ähnlich wird im zweiten Absatz desselben Artikels klargestellt: „Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.“ Große Worte, wirklich eindrucksvoll und geradezu erhaben.
Schon im nächsten Artikel, im zweiten Absatz, heißt es: „Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich.“ Dann folgt freilich ein Zusatz: „In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden.“
Der dritte Absatz des dritten Artikels besagt: „Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden.“
Diese knappen und doch so gehaltvollen Texte gehören für mich zum Besten, was je in deutscher Sprache formuliert wurde. Zu Recht werden sie oft zitiert, und sie wären es wert, häufig gesungen, gelegentlich in Stein gemeißelt und vor allem allseits beherzigt zu werden.
Doch ein Verfassungstext ist das eine. Die Realität etwas anderes.
Wenn die Würde des Menschen ― besser: der Menschen ― wirklich unantastbar wäre (und sie zu achten und zu schützen tatsächlich Wille und Praxis der Legislative, Exekutive und Judikative wäre), wieso gibt es dann in der insgesamt so reichen Gesellschaft der BRD Menschen, die auf der Straße leben müssen? Wieso Menschen, die um kostenlose Lebensmittel anstehen müssen? Wieso Menschen, die kein Geld haben, um ihren Kindern ein Frühstück zu machen oder neue Schuhe oder irgendein läppisches Spielzeug zu kaufen? Wieso gibt es Menschen, denen von Amtswegen vorgeschrieben wird, wie viel Wohnraum sie nutzen dürfen (und das Zuviel einer zu großen Wohnung wird gesperrt)? Wieso gibt es Menschen, die nicht krankenversichert und darum auf wohltätiges ärztliche und pflegerische Wohltäter angewiesen sind?
Und so weiter und so fort. Ist nicht ganz offensichtlich, dass ein lückenhafter, zuweilen sogar böswilliger und erniedrigender „Sozialstaat“ mit der verpflichtenden Achtung der Menschenwürde unvereinbar ist?
Dasselbe gilt für den Umgang mit Migration. Zugewanderte und Zuwanderungswillige vor allem und zum Teil ausschließlich als Bedrohung, Last, Problem und Gegenstand bürokratischer Steuerung zu betrachten und zu behandeln ist unwürdig. Wenn Bevorzugung oder Benachteiligung auf Grund von Abstammung, Rasse, Sprache, Heimat, Herkunft verboten sind, dann muss dasselbe Staatsbürgerrecht für alle gelten (und zwischen Deutschen von Geburt und solchen durch Einbürgerung darf nicht unterschieden werden), dann ist die Forderung nach Abschiebung krimineller Ausländer verfassungswidrig (Inländer werden auch nicht abgeschoben) und schon der Zwang zu Sprachkursen ist unzulässig, da ja beispielsweise Schwaben und Sachsen auch keine besuchen müssen (obwohl man als mit Hochdeutsch Sozialisierter deren Gebrabbel oft nicht besser verstehen kann als Arabisch, Paschto oder irgendwas Afrikanisches). Würden Zugewanderte als selbständige, gleichberechtigte, entscheidungsfähige Mitmenschen betrachtet, deren Wünsche und Bedürfnisse selbstverständlich nicht weniger zählen als die von Einheimischen, müssten Integration und Wandel ganz anders diskutiert und praktiziert werden, als es der Fall ist. Nur das aber wäre mit dem Grundgesetz vereinbar.
Die Achtung der Menschenrechte von „Menschen mit Herkunft“ ist also gar keine Frage eines so oder so zu gestaltenden Asylrechts (oder anderer Schutzbestimmungen, die zum Teil völkerrechtlich verbindlich sind), sondern unmittelbar geltendes und nicht verhandelbares Verfassungsrecht.
Das Grundgesetz gilt für die BRD. Aber es verpflichtet deren staatliche Institutionen ausdrücklich in jedem Fall, also auch deren Tun und Lassen im Verhältnis zu Ereignissen und Zuständen außerhalb der BRD.
Wenn jeder Mensch ein Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit hat, wie können deutsche Politik, deutsche Medien, deutsche Zivilgesellschaft dann die Verbrechen des Staats Israel ignorieren, verharmlosen, rechtfertigen, zulassen und sogar unterstützen? Sind die die Bewohner des „Gazastreifens“ und des „Westjordanland“ keine Menschen? Haben sie kein Recht auf Leben? Darf man sie nach Lust und Laune beschießen und bombardieren? Wenn sie (einschließlich der Kinder) alle Verbrecher („Terroristen“) sind, müssten sie dann nicht vor Gericht gestellt werden? Wenn sie (einschließlich der Kinder) alle Kriegsgegner sind, müssten dann nicht die völkerrechtlich verbindlichen Regeln angewandt werden? Wieso darf man Menschen einfach umbringen, weil man das zum politischen Ziel („Death the Arabs“) erklärt hat?
Wenn unantastbare Würde und Recht auf Leben mehr als Worthülsen wären, dann dürfte die BRD nicht an der Seite Israels stehen, das seit seiner Gründung (und schon davor) unausgesetzt Menschenrechte, Völkerrecht und simplen menschlichen Anstand verletzt, sogar verletzen muss, weil seine Konzeption als ethnisch reiner Staat von Anfang an auf nichts anderes als auf Rassismus, Mord und Zerstörung hinauslaufen konnte. Die BRD müsste sich stattdessen auf Grund ihre selbstformulierten verfassungsmäßigen Verpflichtung ohne Wenn und Aber auf die Seite der Palästinenser stellen.
Wie im Übrigen auch auf die Seite all der anderen Erniedrigten und Unterdrückten überall auf der Welt, deren Würde mit Füßen getreten wird und deren Recht auf Leben und Unversehrtheit keinen Pfifferling wert ist. Von wegen „Frieden und Gerechtigkeit in der Welt.“ Stattdessen kooperiert man politisch und ökonomisch mit allen möglichen verbrecherischen Regimes, lässt transnationale Konzerne schalten und walten und sorgt auch im eigene Land nicht für die Einhaltung der grundlegenden verfassungsmäßigen Verpflichtungen. Sonst wären AfD und BSW längst verboten und CDU/CSU, FDP und die immer noch russlandverliebten Teile der SPD ständen kurz davor.
Es geht also im Kern gar nicht um abstrakte Begriffe wie „links“ und „rechts“, um die Rettung der Demokratie vor unerwünschtem Wahlverhalten und unverbindliche Demonstrationen für eine besser Welt. Es geht darum, die ganz konkreten Grundsätze des Grundgesetzes zu befolgen. Uneingeschränkt und mit Nachdruck. Der Rest ist dann einfach. (Bis man entdeckt, dass selbstverständlich auch kapitalistische Ausbeutung und Umweltzerstörung verfassungswidrig sind …)

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen