Sonntag, 24. März 2019

Der mystische Leib und sein Ballast

Die Kirche, also die Gesamtheit der Kirchenmitglieder, gilt (seit Paulus und Augustinus bis Pius XII. und dem Zweiten Vatikanischen Konzil) als der mystische Leib Christi. Wenn dem so ist, so muss man leider sagen, dass sich dieser Leib in keinem guten Zustand befindet. Er ist zwar nach außen hin umfangreicher denn je, hat aber in seinem Inneren viel zu viele Hohlräume, die mit nichts gefüllt sind als allenfalls heißer Luft. Er ist sozusagen ein Koloss aus Seifenblasen.
Was dabei, diesseits der Metaphern, das Problem ist, ist allgemein bekannt. Die Menschen wenden sich, wiewohl getauft, von der Kirche ab, teils treten sie (zivilrechtlich) aus, teils besuchen sie keine Gottesdienste mehr, empfangen keine Sakramente mehr und leben nicht mehr gemäß den Regeln, auf die sie nach offizieller Sicht der Kirche verpflichtet sind. Viele brauchen die Kirche, wenn überhaupt, nur für Hochzeit und Begräbnis, sie lassen zwar ihre Kinder taufen, aber erziehen sie nicht zu guten Katholiken, weil sie selbst keine sein wollen.
Launig spricht man von „Karteileichen“, also von Menschen, die zwar offiziell der katholischen Kirche angehören, aber am kirchlichen Leben nicht teilnehmen. Deren Zahl übersteigt in Europa die der aktiven Gläubigen bei weitem. Und das auch in den angeblich „katholischen Ländern“. Nur noch etwa zehn Prozent der Katholiken Deutschlands (und Österreichs) gehen regelmäßig zur Sonntagsmesse. In Spanien sind es etwa zwölf, in Irland, Italien, Portugal etwa 19 und in Polen knapp 38 Prozent. Und das, obwohl jeder Katholik, jede Katholikin verpflichtet ist, jeden Sonntag die heilige Messe zu besuchen!
Was aber tut die Kirche, um die Erfüllung dieser Pflicht durchzusetzen? Nichts. Es handelt sich um Vergehen ohne jegliche Sanktion. Wenn die Kirche aber schon nicht bereit ist, so einfache und für jeden leicht zu befolgende Vorschriften durchzusetzen wie die fünf Kirchengebote (jeden Sonntag Teilnahme an der Messe; an Fasttagen fasten und an Aschermittwoch und Karfreitag kein Fleisch essen; einmal im Jahr beichten; einmal im Jahr den eucharistischen Leib Christi empfange; die Kirche materiell unterstützen), wie soll sie dann auf der Einhaltung der göttlichen Gebote bestehen: nicht lügen, nicht stehlen, nicht morden, nicht ehebrechen usw. Wer sich im Kleinen als untreu erweist, ist es auch im Großen.
Genau das ist es, was am aktuellen Zustand der Kirche nicht stimmt. Nicht die „Kirchenaustritte“, nicht die „Karteileichen“, nicht der angeblich Priestermangel und schon gar nicht die „Missbrauchsskandale“ sind das entscheidende Problem der katholischen Kirche, sondern der erschreckende Umstand, dass sie sich selbst nicht ernst nimmt.
Glaubten die, die in der Kirche etwas zu sagen haben, wirklich an das, was sie verkündigen, würden sie nicht rasten und nicht ruhen, bis alle, die der Kirche angehören, gemäß der Verkündigung zu leben versuchten — oder die Gemeinschaft, die sie innerlich schon verlassen haben, auch äußerlich verlassen. Die Kirchenführung auf allen Ebenen und die Masse der wirklich Gläubigen könnte sich, nähmen sie sich und ihre Verpflichtung auf Christus ernst, nicht damit abfinden, dass es Menschen gibt, die zwar als Katholiken gezählt werden, aber schlechterdings keine sind. Nicht, dass die Kirche nur aus Heilgen bestehen muss, wir sind alle Sünder und Verstöße gegen Gebote wird es immer geben, aber anzuerkennen, dass die Gebote überhaupt gelten und dass man nach Heiligkeit streben sollte, wie unmöglich zu erreichen sie auch scheinen mag, das ist das Mindeste, was man verlangen darf. Genauer: verlangen muss.
Christus hat nicht gesagt: Überlegt euch bitte, ob ihr nicht vielleicht dies oder das tun wollt, wenn nicht, ist es natürlich auch okay, es handelt sich ja eher um Vorschläge, ihr könnt da ganz nach eurem Gewissen, euren Gewohnheiten oder Launen entscheiden. Sondern er sagte: Kehrt um! Tut Gottes Willen oder schmort auf ewig in der Hölle!
Die Nachfolger der Nachfolger Christi, die bischöflichen und priesterlichen Kleriker, aber auch die Laientheologen lassen in den allermeisten Fällen von dieser Klarheit und Schärfe nichts erkennen. Sie führen zwar mehr oder minder erbauliche Reden, aber wer soll davon auch nur ein Wort glauben, wenn dem keine Taten folgen? Es geht selbstverständlich nicht darum, dauernd mit der ewigen Verdammnis zu drohen, aber sehr wohl darum, im Denken, Sagen und sonstigen Handeln Recht und Unrecht zu unterscheiden und gegen das Unrecht mit gemeinschaftstiftenden Taten und nicht bloß mit unverbindlichen Worten vorzugehen.
Das Evangelium, das Christus verkündet und seinen Jüngern zur Verkündigung aufgetragen hat, ist radikal. Eine Kirche, die sich auf dieses Evangelium legitimerweise berufen will, muss darum auch radikal sein, nicht wischiwaschi, nicht angepasst, liberal, moderat, nachsichtig, wegschauend. Die Barmherzigkeit gilt dem Sünder, der Reue zeigt, nicht dem, der auf sein Leben abseits von Gott und Kirche auch noch stolz ist und mit seinen Verstößen gegen Gebote auch noch prahlt!
Fazit: Solange die Kirche sich nicht selbst ernst nimmt und endlich wieder Theorie und Praxis, Recht und Lebenswirklichkeit in Übereinstimmung bringt oder immerhin ehrlich zu bringen versucht, werden auch die meisten Menschen, innerhalb wie außerhalb ihrer Gemeinschaft, sie nicht ernst nehmen.
Es ist allerdings klar, warum die Kirche den toten Ballast, der ihren Leib beschwert und nahezu bewegungsunfähig macht, also die „Karteileichen“, nicht loszuwerden wagt. Aus seelsorgerischen Gründen und aus materiellen. Getauft sind die ungläubigen, aber nicht praktizierenden Katholiken ja, sie sündigen halt, was soll man da machen? Man soll das machen, was die Kirche von alters her gerade aus Sorge ums Seelenheil der Betroffenen getan hat: Den Sündern Kirchenstrafen auferlegen und sie ausschließen, bis diese verbüßt sind. Also keine Hochzeiten, Kindertaufen, Begräbnisse usw. für Menschen, die nicht regelmäßig die Messe besucht haben. Wer ostentativ nichts mit der Kirche zu tun haben will, dem muss die Kirche auch das dekorative Brimborium verweigern.
Würden nur noch die als Katholiken gezählt, die sich (sündig oder nicht) aktiv am kirchlichen Leben beteiligen, wäre allerdings die Katholikenzahl, vor allem in Europa, sehr viel geringer. Offensichtlich befürchtet die Kirchenführung, dann vom Staat weniger beachtet und unterstützt zu werden. Dort, wo zwangsweise „Kirchensteuern“ (Deutschland) oder „Kirchenbeiträge“ (Österreich) erhoben werden, geht’s auch ums Geld.
Tatsächlich könnte eine gesund geschrumpfte, nur noch aus Überzeugten und Teilnehmenden bestehende Kirche mühelos mit dem auskommen, was ihre Mitglieder ihr freiwillig überlassen. Vielleicht müssten allerdings einige betriebskostenintensive Gebäude aufgegeben werden. (In manchen Ländern sind die Kirchengebäude ohnehin schon verstaatlicht.) Na und? Es bedarf doch keiner prunkvollen Kathedrale, um Gott zu rühmen und zu loben; schon gar nicht, wenn sie längst mehr touristische als liturgische Besucher hat. Gott will, dass wir seinen Willen tun. Gold und Marmor sind ihm egal, die sind nur für die Menschen da, die sie zur größeren Ehre Gottes darbringen. Wenn deren Zahl aber zu gering ist, um Edelmetall und feine Mineralien finanzierbar machen, dann genügen notfalls auch Sack und Asche. Gott sieht ins Herz, nicht auf die Krawatte.

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