Mittwoch, 19. Juni 2013

Frankfurter Rechenkunst

Rechnen müsste man können. Aber daran hapert’s oft in Deutschland, wie ich mir schon anderswo festzustellen erlaubt habe. Nicht einmal bei FAZ-online kommt man anscheinend mit Zahlen gut zurecht. In dem mit „Reich schon mit 3009 netto“ überschriebener Beitrag von Johannes Pennekamp und Manfred Schäfers vom 18. Juni heißt es: „Als Meinungsforscher zuletzt danach fragten, ob die Steuern für die Reichen erhöht werden sollten — so wie von SPD und Grünen gefordert — stimmen drei von vier Befragten zu. Man selbst fühlt sich offenbar nicht betroffen. Diese Vermutung könnte ein Trugschluss sein, legt eine neue Einkommensauswertung des arbeitgebernahen Instituts der Deutschen Wirtschaft (IW) nah. Demnach gehörte in Deutschland im Jahr 2010 schon Singles mit einem Nettoeinkommen von 3009 Euro im Monat zu den einkommensstärksten 10 Prozent der Bevölkerung. Ein Paar mit zwei Kindern fiel in das obere Einkommenszehntel, wenn es 6319 Euro netto im Monat zur Verfügung hatte.“
Noch mal nachrechnen. Drei von vier, das macht 75 Prozent. So viele wollen. heißt es, Steuererhöhungen für Reiche. (Wie viele davon sich selbst zu den Reichen zählen, wissen Pennekamp und Schäfers genauso wenig wie ich.) Nicht zu den reichsten zehn Prozent gehören offensichtlich 90 Prozent. Das sind demnach 15 Prozentpunkte mehr als die vorhin errechneten 75 Prozent, die Steuererhöhungen befürworten. Daraus ergibt sich nun rein rechnerisch gerade nicht, wie Pennekamp und Schäfers behaupten, dass einige der Reichen für sich höhere Steuern fordern (und zwar womöglich unwissentlich), sondern umgekehrt, dass bis zu einem Sechstel derer, die nicht zu den „happy few“ der reichsten zehn Prozent gehören, keine Reichensteuer will.
Damit kollabiert die zentrale These der beiden Rechenkünstler. Nicht manche der Reichen verkennen, dass erhöhte Reichenbesteuerung sie betrifft, sondern ein Teil der Nichtreichen will keine solche.
Andererseits mag es ja sein, dass jemand mit einem monatlichen Nettoeinkommen von 3.009 Euro (bei Paaren 6.319 Euro) sich selbst nicht für reich hält. Tatsächlich gibt es Reichere. aber eben auch Ärmere — und zwar 90 Prozent der Bevölkerung. Fürs persönliche Empfinden kommt es eben ganz darauf an, ob man sich beim Wohlstandsvergleich nach oben orientiert (Sportler, Filmstars, Politiker) oder nach unten (Hartz-IV-Empfänger).
Es mag also sein, dass mancher sich mit dreitausend Euro im Monat eher der „Mittelklasse“ zurechnet als den Reichen. Fakt ist, dass er statistisch zum oberen Zehntel gehört. Wenn jemand sein 3-Mille-Einkommen für relativ wenig hält, sollte sich klar machen, dass die allermeisten viel weniger haben, dass also schon die vermeintliche Mittelklasse gar keine solche ist, sondern eine höchst minoritäre Elite.
Doch davon abgesehen ist Steuerrecht üblicherweise keine Frage der subjektiven Einschätzung. Egal, dem FAZ-Artikel geht es wohl ohnehin bloß darum, Stimmung zu machen. Was, ich soll reich sein!, soll der wohlhabende Leser denken. Ich doch nicht. Reich sind ganz andere, die sollen was abgeben. Bevor mir jemand an mein Wohlverdientes geht, wähl ich lieber Mutti, die sorgt schon dafür, dass zwischen Reich und Arm merkbar unterschieden wird. Diese Rechnung nun freilich, fürchte ich, könnte tatsächlich aufgehen.

Sonntag, 16. Juni 2013

Vermischte Meldungen (10)

Titel einer Sendung des „Presseclubs“ der ARD: „Wasserwerfer, Tränengas und Gummigeschosse — Passt diese Türkei wirklich zu Europa?“ Gute Frage! Schon deshalb, weil sie die Antwort so leicht macht: Diese Türkei passt natürlich nicht mehr zu Europa, weil in Europa Wasserwerfer, Tränengas und Gummigeschosse niemals zum Einsatz kommen. Jene andere Türkei — Döner, Kopftuch und Antalya all inclusive — hatte hingegen noch sehr gut zu Europa gepasst, weshalb ja bekanntlich auch bis vor kurzem alle für einen raschen EU-Beitritt der Türkei waren.

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Noch ein Sendungstitel, diesmal von „Günther Jauch“: „Gemeinsam für die Flutopfer — ganz Deutschland hilft“. Ach wie schön. Patriotisches Pathos. Das Allerselbstverständlichste, dass nämlich Menschen einander in einer Notsituation helfen, wird in Deutschland zur überraschenden nationalen Leistung stilisiert. Das mag seinen Grund darin haben, dass es in Wahrheit um gesellschaftliche Solidarität schlecht bestellt ist. So berichtet das „Neue Deutschland“: „In den vom Hochwasser betroffenen Gebieten stehen Tausende vor dem Nichts. Oftmals ist die gesamte Wohnungseinrichtung hinüber. Da die Versicherungen oft nicht zahlen, wurden staatliche Nothilfeprogramme aufgelegt. Zudem spendeten zahlreiche Bundesbürger Geld oder Haushaltsgegenstände. Doch für Hartz-IV-Bezieher kann die Annahme dieser Hilfen fatale Folgen haben. Die Betroffenen riskieren, dass man ihnen die Hilfe auf die Hartz-IV-Leistungen anrechnet.“ Erst lässt man also Privatleute großherzig spenden und verspricht in laufende Kameras unbürokratische Hilfe. Und dann zieht man das Gespendete und Zugewendete vom Gnadenbrot wieder ab. So funktioniert der deutsche Sozialstaat. Die Jauch-Sendung ist übrigens eine Spendengala.

Dienstag, 11. Juni 2013

Aufgeschnappt (bei Dirck Linck)

Mich stört dieser entsetzliche Narzissmus der Schwestern. Seit der Teufel die elektronischen Medien erfand, ergießt sich Hassrede um Hassrede auf Arme, Sozialleistungsbezieher, Ausländer, Muslime, Sinti und Roma, Frauen, Asylbewerber, Linke, Straftäter und alles, was nicht auch doof und deutsch ist. Und keine Schwester formulierte denDen Appell“, um ihn dann auch noch ernsthaft mit vollem akademischem Titel zu unterzeichnen. Aber wehe, jemand findet, es sollte SIE besser nicht geben, UNS besser nicht geben. Da liegt der böse Verdacht nicht fern, dass nicht der Hass der Doofen stört, sondern die Tatsache, dass er uns gilt, obwohl WIR ihn (anders als die anderen?) nicht verdient haben. Wir wollen nicht bei den Gehassten sein. Beim Hassen sind WIR im Zweifel aber gern dabei.
Facebook-Kommentar

Montag, 10. Juni 2013

Offenes an die Verdeckten

Hallo National Securtity Agency (NSA) und all Ihr anderen Überwachungsbehörden in Übersee und sonstwo! Heute will ich es Euch einmal ganz einfach machen. Oder fast ganz einfach, denn übersetzen müsst Ihr Euch diesen Text schon selbst. Aber ansonsten möchte ich Euch etwas Arbeit ersparen und erkläre darum in aller Öffentlichkeit: Ich bin kein Mitglied einer terroristischen Vereinigung, war nie eines und habe eigentlich auch nicht vor, eines zu werden. Ich gebe zu, dass wundert mich zuweilen selbst. So, wie es in der Welt zugeht, muss man schon eine Menge Indolenz aufbringen, um nicht zum bewaffneten Kampf gegen das System, dessen Teil Ihr seid, übergehen zu wollen. Mir sagt freilich mein Verstand, dass Gewalt keine Lösung ist, sondern die Probleme nur verschiebt. Ich bin aber nicht nur überzeugter Pazifist, sondern auch ein konstitutioneller: Ich kann nicht anders. Nur einmal im Leben habe ich mich geprügelt, ich habe eine fundamentale Abneigung gegen Schusswaffen und außerdem eine hartnäckige Aversion gegen Lärm, dessen Erzeugung ja aber bei Schusswechseln, Bombenwürfen und Selbstmordattentaten wohl unvermeidlich ist. Ich komme also als Terrorist gar nicht in Frage. Aber bitte, fühlt Euch nicht zu sicher. Nicht jeder Amoklauf ist von langer Hand geplant und im Untergrund verschwindet manch einer schneller als ihr bis 911 zählen könnt. Andererseits, was kann ein kleiner, dicker, brillentragender Intellektueller wie ich schon viel anstellen? Fürchtet Euch lieber vor den Durchtrainierten mit den flachen Stirnen. So, ich hoffe, ich habe Euch genug Schlüsselwörter übermittelt, um Eure Daseinsberechtigung unter Beweis zu stellen. Über meine politischen Ansichten und sexuellen Vorlieben wisst Ihr ja dank Google, Facebook e tutti quanti ohnedies längst schon Bescheid. Und wenn Ihr die Leserbriefe und Kommentare zu meinen Artikeln und Postings ausgewertet habt, wisst Ihr auch nur zu gut, dass mich keiner ernst nimmt. Es gibt also keinen Grund, mich besonders im Auge zu behalten. Sollte sich daran doch noch etwas ändern, informiere ich Euch auf dem gewohnten Wege — als private Mitteilung an Dritte, von Euch widerrechtlich mitgelesen. Herzliche Grüße! Wenn Ihr mich auch grüßen lassen wollt, soll der nächste Beamte, der meinen Ausweis kontrolliert, zweimal blinzeln, während er sich am Ohrläppchen zupft.

Wider den Tugendterror des „Waldschlösschen-Appells“

Aber nein, nicht doch, dass ist doch keine Zensur, man will doch bloß, dass manche Dinge nicht mehr öffentlich gesagt werden dürfen. — Worum geht es? Einige „schwule und lesbische JournalistInnen und BloggerInnen“ haben unlängst den sogenannten „Waldschlösschen-Appell“ formuliert, mittels dessen sie sich dagegen wehren wollen, „dass Argumentationsmuster, die der Diffamierung der Identität Homosexueller dienen, weiterhin als ‘Debattenbeiträge’ oder ‘Meinungsäußerungen’ verharmlost werden“. Was diese geheimnisvolle „Identität Homosexueller“ eigentlich ist, wer derlei hat, haben will oder braucht, geht aus dem Appell leider nicht hervor. (Ich persönlich, falls es jemanden interessiert, komme seit jeher prima ohne homosexuelle Identität oder Identität als Homosexueller zurecht, weil mich Statuszuschreibung weniger interessieren als reale Praktiken, es mir also nicht aufs Schwulsein ankommt, sondern auf die Lust auf Männer und mit Männern.)
Damit aber nicht völlig im Unklaren bleibt, was es mit der „Diffamierung der Identität Homosexueller“ auf sich hat, werden im „Waldschlösschen-Appell“ ein paar Beispiele angeführt für „Aussagen“, die „Angriffe auf die Würde und die Menschenrechte Homosexueller“ sein sollen und die die Medien aus der Sicht der Appellierenden „nicht weiter als Teil des legitimen Meinungsspektrums bagatellisieren“ dürfen:
„Homosexualität sei widernatürlich. Homosexualität sei eine Entscheidung. Homosexualität sei heilbar. Heterosexuelle Jugendliche könnten zur Homosexualität verführt werden. Homosexualität sei eine Begünstigung für sexuellen Missbrauch. Die Gleichstellung homosexueller Partnerschaften sei eine Gefahr für die Gesellschaft (etwa, weil durch sie die weniger Kinder geboren werden würden).“
Das wäre geklärt. Und was soll jetzt geschehen? „Wir fordern Journalistinnen und Journalisten dazu auf, 1. solche Aussagen deutlich als diskriminierende Anfeindungen zu kennzeichnen und zu verurteilen (so wie es auch etwa bei rassistischen, sexistischen oder antisemitischen Anfeindungen geschieht) 2. Vertretern solcher Aussagen keine Plattformen zu bieten, so lange sie sich nicht klar von ihnen distanzieren 3. Homosexuelle in Beiträgen und Diskussionen nicht länger in die Situation zu bringen, sich für ihre sexuelle Orientierung rechtfertigen zu müssen.“
Was ich von all dem halte? Gar nichts. Wer Talkshows schaut, ist selber schuld. Fernsehkonsum ist nicht angeboren, sondern eine Entscheidung. Man kann auch um- oder abschalten. Wasser ist nass und in Talkshows wird Unsinn verzapft. In seiner freudigen Erregung, ein handfeste Diskriminierung entdeckt zu haben, ignoriert der „Waldschlösschen-Appell“ ostentativ, dass bestimmte einschlägige Quasselsendungen vom „Kontroversiellen“ leben. Je abseitiger eine Meinung ist, als desto unterhaltsamergilt sie und entsprechend freaklastig werden die Gesprächsrunden üblicherweise zusammengesetzt. Wären nämlich alle immer eines Sinnes — zum Beispiel: „Homosexuelle sind echt toll und müssen dringend heiraten“ —, gäb’s nichts zu diskutieren.
Der Vergleich mit Rassismus, Sexismus, Antisemitismus ist irrig. Bei diesen besteht ein ausgeprägter, wenn auch nicht lückenloser Konsens darüber, welche Art von Aussagen erlaubt und welche unerlaubt sind. Hinsichtlich Homosexualität besteht ein solcher Konsens nicht. Der „Waldschlösschen-Appell“ ist anscheinend Teil des Versuches, diesen Konsens zu simulieren und von oben her durchzusetzen. Aber einfach alle unerwünschten Äußerungen unter dem Etikett „Homophobie“ zusammenzufassen, um ein Gegenstück zu Rassismus, Sexismus, Antisemitismus zu haben, etwas, das sich niemand nachsagen lassen möchte, muss schon daran scheitern, dass niemand weiß, ob mit dem Ausdruck „Homophobie“ nun ein psychisches Problem, eine politische Einstellung oder eine theoretische Überzeugung bezeichnet werden soll. Oder einfach dummes Gerede.
Was genau macht denn eine Äußerung eigentlich zu einer diskriminierenden? Ist der Satz „Homosexualität ist nicht angeboren“ tatsächlich von derselben Art wie die Sätze „Afrikaner sind faul“, „Frauen sind dümmer als Männer“ oder „Die Juden sind unser Unglück?“. Oder doch eher etwas in Art von „Alle Chinesen sehen gleich aus“, „Männer wollen immer nur das Eine“ und „Juden sind Familienmenschen“. Wer legt eigentlich fest, welche Aussagen über wen ausgrenzend und herabsetzend und welche bloß falsch oder unzulässig verallgemeinernd sind? Kann man das in einem Regelwerk nachschlagen? Oder ist derlei nicht in beständiger Aushandlung begriffen? Müssen denn alle zurechnungsfähigen Menschen dieselben Wahrheiten für ausgemacht halten wie die Unterzeichnerinnen und Unterzeichner des „Waldschlösschen-Appells“?
Nein, müssen sie nicht. Ich für meinen Teil, falls das jemanden interessiert, gestatte mir da einmal mehr eine abweichende Meinung. Ich widerspreche dem Weltbild, das meiner Deutung nach dem „Waldschlösschen-Appell“ zu Grunde liegt und vertrete ein grundsätzlich andere Sicht der Dinge. Die Verfassern und Verfasserinnen des „Waldschlösschen-Appells“ verwechseln ihr eigenes Wissen mit dem, was andere für wahr halten müssen. Wissen ist aber immer mit Macht verschränkt (wie man spätestens seit Foucault weiß). Damit stellt sich für kritische Geister die Frage: Welches Wissen über Homosexualität ist denn nun Herrschaftswissen und dient der Bekräftigung bestehender Verhältnisse und welches ist Gegenwissen, das die herrschenden Selbstverständlichkeiten in Frage zu stellen erlaubt?
Darin immerhin gebe ich dem „Waldschlösschen-Appell“ Recht: Es gibt richtige und es gibt falsche Behauptungen über Homosexualität. Nur welche ist welche? Sollte das zu klären nicht eher Gegenstand als Vorbedingung von Diskussionen sein? Zumal der Umstand, dass eine Aussage falsch ist, meines Wissens noch nie ein Grund dafür war, dass sie in einer Debatte nicht vorgebracht werden durfte. Vernünftig wäre es, Falsches durch Richtiges zu widerlegen. Wer also Wissen hat, das in den Verlauf einer Debatte sinnvoll eingreift, sollte damit nicht hinterm Berg halten. Wenn ein Moderator oder eine Moderatorin sich als sachkundig erweist, geht das auch in Ordnung. Es scheint mir allerdings ein entscheidender Unterschied, ob jemand wirklich etwas besser weiß oder ob einem lediglich etwas nicht ins Weltbild passt.
Die oben zitierten Beispiele dafür, was als unzulässige Meinungsäußerung gelten soll, sind sehr gut gewählt. Vier von sechs angesprochenen Themen (Widernatürlichkeit, Erworbenheit, Heilbarkeit, Verführung) berührend die Frage, was Homosexualität eigentlich ist, zwei (Missbrauch, gesellschaftliche Desintegration), wozu sie angeblich führt. Sind diese Aussagen falsch, muss das Gegenteil stimmen, zusammen ergibt das eine Skizze eines bestimmten Homosexualitätsverständnisses. Demnach ist Homosexualität natürlich, ist keine Entscheidung, sondern wohl angeboren, sie kann darum nicht „weggemacht“ und man kann nicht zu ihr verführt werden, Homosexualität führt nicht zu sexuellem Missbrauch und die Homo-Ehe nicht zu Geburtenrückgang.
Was den letztgenannten Punkt betrifft, so stimme ich völlig zu:  Die rechtliche Gleichstellung homosexueller Partnerschaften ist bedauerlicherweise keine Gefahr für die Gesellschaft, ganz im Gegenteil, und es steht auch nicht zu hoffen, dass sie als Mittel gegen Überbevölkerung taugt.
Auch an die Heilbarkeit von Homosexualität glaube ich nicht. Man kann niemanden gesund machen, der nicht krank ist. Dass man aber Leute manipulieren kann, bis sie ein X für ein U halten, glaube ich durchaus. Insofern kann man sicher Männern, die eine gesunde Freude am Begehren anderer Männer hatten, diese Freude verleiden und ihnen einreden, sie würden es jetzt doch wieder lieber mit Frauen treiben. Ob man das „Heilung“ nennen kann, ist eine andere Frage.
Was nun die Natürlichkeit der Homosexualität betrifft, so habe ich es immer schon für einen Vorzug homosexueller Handlungen gehalten, dass sie traditionell als widernatürlich angesehen werden. Die Idee nämlich, es existiere „Mutter Natur“, die festlegt, was sein darf und was nicht, ist mir ein Gräuel. Gerade, wenn es so etwas gäbe, was übrigens nicht der Fall ist, müsste man dagegen sein. Denn anständig ist einzig und allein, das zu tun, was gut und richtig ist, und nicht das, was natürlich ist. Das angeblich Natürliche erweist sich stets noch als Projektion sozialer Normen aufs vermeintlich Außergesellschaftliche.
Ich bin also für Widernatürlichkeit. Und auch für „Verführung“? Nun, wenn es Wege gibt, junge Menschen vor dem Terror der Normalität zu bewahren, sie von der Zwangsheterosexualität zu erlösen, in die sie als Untertanen ihrer Zivilisation unweigerlich verstrickt sind, dann sollte man diese unbedingt beschreiten. Wenn man jemanden zu nachhaltiger Homosexualität führen kann, umso besser. Das ist eine ethische Verpflichtung. Nicht, weil die so vorm Übel Bewahrten gefälligst ihre „innere Wahrheit“ zu entdecken haben, zu der sie endlich stehen und die sie korrekt benennen müssen, sondern weil Homosexualität nicht nur nicht weniger wert ist als Heterosexualität, sondern sogar … — aber nein, das darf man sicher auch nicht sagen! Alles muss ja gleichberechtigt sein.
Was für ein unheilvolles Vorurteil! Meine eigenes ist da radikal abweichend: Homosexualität ist gut, Heterosexualität aber, weil erzwungen, schlecht. Von sich aus, also ohne die Gesellschaft und ihre Nötigung zu Natürlichkeit und Normalität, wäre selbstverständlich jeder „homosexuell“. Oder meinetwegen polymorph-pervers. Dass es überhaupt „Heterosexuelle“ gibt, ist ein Zeichen dafür, dass etwas schief läuft. Dagegen muss man, wenn man schon nicht viel machen kann, wenigstens mit Entschiedenheit sein! Stattdessen aber, bloß, um sich als Schwuler (oder als Lesbe) nicht mehr rechtfertigen zu müssen, gegegengeschlechtliche Neigungen für gleichwertig und als zu akzeptierende Spielart der Natur auszugeben, geht mir entschieden zu weit. Lieber rechtfertige ich mich, als anderen, die ich der Verfehlung zeihe, die Rechtfertigung zu ersparen.
Ebenso wenig bin ich einverstanden mit dem inflationären Unsinn des „Ich habe es mir nicht ausgesucht, ich bin so geboren“. Ja, sicher, völlig richtig: Jeder ist „so“ geboren, nämlich mit der Fähigkeit, homosexuell zu begehren. Die Frage ist und bleibt jedoch, warum (also durch welche Gnade oder welches Verdienst oder welchen Zufall) manche das Glück haben, diese Fähigkeit auch anzuwenden, während andere, weniger Begünstigte ihre Zuflucht zu unappetitlichen Ersatzhandlungen nehmen.
Wenn Homosexualität — nicht missverstanden als Homosexuellsein der Homosexuellen, sondern begriffen als im Prinzip jedem Menschen mögliches Begehren und entsprechender Vollzug von Mann zu Mann —, wenn also Homosexualität nicht mehr als etwas betrachtet werden darf (und in der Folge: nicht mehr werden kann), das nicht einfach unter Zwang geschieht, sondern je und je bestimmte Entscheidungen erfordert, dann hört Homosexualität nicht nur auf, etwas Politisches sein zu können, denn Politik setzt ja voraus, dass man so oder anders handeln kann, sondern Homosexualität hört dann auch auf, etwas zu sein, was man überhaupt irgendwie gestalten kann. Einen schwulen Lebensentwurf kann man sich dann abschminken.
Das alles aber kommt bestimmten Lesbenundschwulen und ihren heterosexuellen Hintermännern und Hinterfrauen sehr zupass. Sie wollen keine kreative Kultur des Schwulwerdens, sondern unbedingt ein immer schon fertiges Schwulsein, eine „Identität“ also, die man in Dokumente ein- und als Stammesabzeichen vor sich hertragen kann. Mit folgerichtiger Infamie faseln sie von den „Menschenrechte(n) Homosexueller“, als ob es nicht das Besondere von Menschenrechten wäre, jedem Menschen zuzukommen. Der Einzelne soll jedoch neuerdings Rechte nur noch als Angehöriger eines Paares („Homo-Ehe“) oder einer Gruppe („Wir LGBTI*“) haben. Ab mit den Homos in die Mitte der Gesellschaft, ins gut kontrollierbare Ghetto!
Damit kommt die heterokratische Gesellschaft der Verwirklichung ihres alten Traumes von der Auslöschung der Homosexualität so nahe wie möglich. Homosexualität als Homosexuellsein ist nämlich als Spezifik einer bloßen Minorität aus dem Allgemeinen, dem jedem Möglichen hinausdefiniert. Die Mehrheit bleibt davon verschont. Und unbelastet von kritischen Fragen können die Heterosexuellen fortan ihrem monströsen Treiben ungestört nachgehen.
Aber Homosexualität, die toleriert werden kann, ist es nicht wert, praktiziert zu werden! Integrierte Schwule sind ethisch und ästhetisch kastrierte Schwule! Mann müsste wieder … Man könnte immer noch … Man sollte endlich … Aber ach, was reg ich mich auf! Kritische Konzepte von Homosexualität sind einfach nicht mehr erwünscht.
Perverserweise sind die Letzten, die mit öffentlicher Resonanz noch am Widernatürlichen (anders gesagt: am der Ideologie der Natur gegenüber Kritischen) und Subersiven (anders gesagt: am die gesellschaftliche Normen und Werte in Frage Stellenden) der Homosexualität festhalten, diejenigen, die diese aus altbackenem Biblizismus und fortschrittsunwilligem Verfolgungswahn heraus ablehnen. Das verstößt aber gegen den von interessierter Seite geforderten Konsens. Man muss diesen Unverständigen darum den Mund verbieten! Sie stemmen sich dem Zeitgeist entgegen und das darf man nicht. Sonst gibt’s — zumindest rhetorisch — was aufs Maul.
Nein, Zensur ist das nicht. Immerhin herrscht ja Meinungsfreiheit. Jeder darf sagen, was er denkt, solange es mit dem herrschenden Weltbild übereinstimmt. In Umbruchsphasen wie dieser, in der die ideologische Hegemonie bezüglich des Homosexualitätsverständnisses umkämpft ist, muss man eben, bevor die Leute von selbst sagen, was gehört werden darf, ein bisschen helfen, indem man „kritische“ Journalistinnen und Journalisten auf Abweichler ansetzt, die unter brachenunüblicher Hintanstellung des quotenfördernden Unterhaltungswertes bizarrer Sondervoten und anhand der checklist der gerade gültigen Doktrinen korrigierend in Kontroversen eingreifen.
„Es geht nicht (…) darum, jemanden [sic] das Recht auf Meinungsäußerung zu verbieten. Jeder darf diese [sic] äußern, solange er sich im Rahmen der Gesetze bewegt (und jeder darf dafür entsprechend kritisiert werden). Vielmehr geht es darum, ob er dies in Talkshows als gleichberechtigte Meinung als eingeladener ‘Experte’ kuntun [sic] darf, ohne jegliche journalistische Einordnung.“ (Norbert Blech) Zweckmäßig wäre also vielleicht ein, nein, kein gelber Hut, sondern ein Insert „Nichtexperte“, sobald solch eine Unperson ins Bild kommt, und der einzublendende Warnhinweis „Journalistisch als diskriminierend eingeordnet“ nach jeder entsprechenden Wortmeldung. Und wer nach alldem immer noch unbelehrbar bleibt, wird einfach aus den Fernsehstudios und Zeitungsspalten verbannt.
Dann hätte die Tugend einmal mehr über das Laster gesiegt. Ein bisschen Nachdruck braucht es dazu freilich schon. Zur Not muss man sich an die Staatsmacht wenden, auf dass der Rahmen der Gesetze neu justiert werde. Die Freiheit der Andersdenkenden bleibt davon unberührt, sie dürfen sie bloß nicht mehr ausüben. Nein, nein, so ein bisschen Tugendterror ist doch nichts Schlimmes. Das alles dient doch nur dazu, Würde und Menschenrechte zu verteidigen. Krieg ist Frieden! Freiheit ist Sklaverei! Unwissenheit ist Stärke! Zensur ist Pressefreiheit!

Samstag, 8. Juni 2013

Gottkritisch

Im Zusammenhang mit dem läppischen Kebekus-Video, dessen Austrahlung selbst dem Westdeutschen Rundfunk zu blöd war (der doch sonst mit der Ausrede, es sei Satire, viel Niveauloses sendet), hat das Internetportal „Perlentaucher“ den Ausdruck „gottkritisch“ verwendet. Ich weiß nicht, wer sich dieses Wort ausgedacht hat, aber es hat das Zeug dazu, zu den dümmsten Wörtern der deutschen Sprache gezählt zu werden.
„Gottkritisch“, was soll das denn heißen? Ich verstände es ja, ohne zuzustimmen, wenn man das pseudolustige Filmchen als kirchenkritisch oder religionskritisch bezeichnete. Es ist das zwar nicht, sondern eine mit populärem Gedudel aufgemotzte Aneinanderreihung von Klischees aus der antiklerikalen Mottenkiste, aber hier hätte ein falscher Begriff immerhin für sich genommen noch einen Inhalt.
Das Wort „gottkritisch“ hat den nicht. Wie auch? Wenn man der Meinung ist, Gott existiere nicht, gibt es auch nichts an Gott zu kritisieren. (Allenfalls an Vorstellungen von Gott, aber dann müsste es ja „gottesbildkritisch“ heißen.) Oder aber man glaubt an Gott, dann gibt es erst recht nichts zu kritisieren, denn seit wann hätte Gott sich gegenüber Gläubigen zu verantworten statt umgekehrt?
Kurzum, „gottkritisch“ ist eine Vokabel für ignorante und selbstgefällige Atheisten, die meinen, ihren sehr beschränkten Intellekt und ihre ethische Verkommenheit zum Maßstab nehmen zu dürfen für alles und jedes, einschließlich jenes Wesens, dessen für so viele andere offenbares Dasein zwanghaft abzulehnen ihnen großes Vergnügen bereitet.
Das Wort ist so dumm, dass ihm wohl noch eine große Karriere bevorsteht. Es verkörpert perfekt den Zeitgeist, der Kritik und Ressentiment nicht unterscheiden kann, und für Aufgeklärtheit hält, was bloß das gerade herrschende Vorurteil ist. Wer etwas (oder gar sich selbst) „gottkritisch“ nennt, kann nichts falsch machen, er signalisiert, dass ihm sein kontingentes Ego über alles geht und klinkt sich damit ein in die systemstabilisierende Arroganz, die alles verachtet, was sich der konsumistischen Konformität entzieht. Wie zum Beispiel die Ehrfurcht vor Heiligem.

Donnerstag, 6. Juni 2013

Homoehegattensplittingurteil

Nicht nur, dass die „Homo-Ehe“ (in welcher Ausformung auch immer) ein gesellschaftspolitisch durch und durch reaktionäres Projekt ist, nein, sie ist unverkennbar auch Ausdruck bourgeoisen Profitstrebens. Ein solches geht selbstverständlich auf jemandes Kosten. So zum Beispiel beim „Ehegattensplitting“, einem ungerechten Detail des deutschen Einkommenssteuerrechts, das Eheleute — und, nach einem jüngst ergangen Urteil des Bundesverfassungsgerichts, auch eingetragene Lebenspartner — begünstigt. Warum aber sollen eigentlich Unverheiratete prinzipiell mehr Steuern zahlen als Verheiratete und Verpartnerte? Da bereichern sich die Falschen!
Fälschlicherweise halten viele Schwule (und Lesben?) oder zumindest deren medial vermerkbare Vertreter das genannte höchstgerichtliche Urteil zur Gleichstellung von Ehe und Eingetragener Lebenspartnerschaft für einen begrüßenswerten Fortschritt. Das ist nicht der Fall. Es gibt eigentlich nur dann Grund zum Jubeln, wenn man am Homoegehegattensplittung verdient. Oder nicht durchschaut, dass man selbst dabei draufzahlt …
Was die meisten Schwulen (und Lesben) nämlich in Wahrheit tun. Hier ein paar Zahlen. In Deutschland gibt es bei einer Einwohnerzahl von 80,2 Mio. etwa 36 Mio. Verheiratete, aber nur 68.000 Verpartnerte. Zieht man ein Fünftel der Bevölkerung für die Unter-20-Jährigen ab, machen die Eheleute etwa 56 Prozent der erwachsenen Bevölkerung aus, Verpartnerte hingegen nur etwa ein (gerundetes) Tausendstel. Nun kann man den Anteil der (wie auch immer zu definierenden) Schwulen und Lesben veranschlagen, wie hoch man möchte: Sagt man: ein Prozent, dann machen die Verpartnerten ein Zehntel aus; sagt man drei Prozent, fünf Prozent oder noch mehr, sind es entsprechend noch sehr viel weniger.
Die Verpartnerten bilden also nicht nur in der Gesamtgesellschaft eine nahezu verschwindende Minderheit, sondern auch unter den Schwulen und Lesben (wobei Frauen noch seltener eingetragen-verpartnert sind als Männer) sind sie eine sehr überschaubare, nämlich deutlich minoritäre Gruppe.
Was nun die Steuerausfälle betrifft, die durch das Homoehegattensplittung auf den Staat zukommen, so sind diese angesichts von bloß 34.000 Eingetragenen Lebenspartnerschaften völlig unbedeutend. Da kann man sich seitens der Finanbehörden also schon mal großzügig zeigen. Ums Geld ging’s ja auch nie. Vielmehr war der unmutige Widerstand der „Konservativen“ gegen die Ausdehnung des Splittings von Verheirateten auch auf Verpartnerte rein symbolisch, er bediente einfach ein paar Ressentiments. Das war als typische Muttipolitik nicht ungeschickt gemacht. Denn indem man sich vom Verfasungsgericht zwingen lässt, das umzusetzen, was ohnehin die meisten für recht und billig halten, kann man die Erwartungen sowohl der dumpfkonservativen Unaufgeschlossenen wie auch der scheinliberal Bereitwilligen befriedigen. Und über das grundsätzliche Unrecht, verheiratete (und eben auch registrierte) Paare gegenüber unregistrierten Paaren und Alleinstehenden zu bevorzugen, muss dann weiterhin nicht geredet werden.
Das sollte es aber. Besonders, wenn es um Schwule und Lesben geht. Denn ist es schon ungerecht, dass die Unverheirateten statistisch gesehen die Verheirateten finanzieren — weil diese einen geringeren Einkommensanteil abführen müssen als jene —, so geht es, betrachtet man nur die, für die das Institut der Eingetragenen Lebenspartnerschaft geschaffen wurde, also die homosexuellen Männer und Frauen, offensichtlich noch zigmal ungerechter zu. Man rechne nach: Mindestens 90 Prozent der erwachsenen Schwulen und Lesben profitieren nicht vom Homoehegattensplitting!
Wer nun über solche „Gleichstellung“ jubelt, hat nichts kapiert. Oder kann nicht rechnen. Oder beides. Unter dem Deckmantel der „Gleichberechtigung“ wird Unrecht zu Recht erklärt und werden Privilegien „ausgedehnt“. Aber dazu ist der Staat ja da: Dafür zu sorgen, dass die Reichen reich bleiben und noch reicher werden und dass die Übrigen das Ganze bezahlen.

Montag, 3. Juni 2013

Richtig pervers

„In den frühen 50er Jahren, meine Damen und Herren, wurde noch ernsthaft darüber diskutiert, wie sehr das Rückenmark durch Onanie geschädigt wird, ob es den weiblichen Orgasmus wirklich geben kann und inwiefern die Krankheit ‘Schwul’ ansteckend sei. Die sogenannte Sexuelle Revolution war also eigentlich dringend vonnöten. Leider geriet in der Hitze der 68er manches durcheinander. Die Befreiung geriet nur allzu leicht zur Nötigung. ‘wer zweimal mit der gleichen pennt, gehört schon zum Establishment.’ - das war nur die harmlosere Variante. Richtig pervers wurde es, als später Kinderschänder daran gingen, den Zeitgeist der Enttabuisierung für ihre Zwecke zu benutzen, auch politisch, wie die Grünen ja gerade aufzuarbeiten versuchen.“ (Beim Zappen gehört: Dieter Moor, Anmoderation eines ttt-Beitrags.)
Ich staune immer wieder darüber, mit welcher Selbstverständlichkeit Leute, die explizit um die historische Relativierbarkeit von Überzeugungen wissen (die damals — wir heute), ihre eigenen gegenwärtigen Überzeugungen für der Weisheit allerletzten Schluss halten. Sie relativieren eben nur in eine Richtung: früher war man noch nicht so weit, heute wissen wir es besser. Dass auf das Heute womöglich ein Morgen folgt und dass das, was heute nicht bezweifelt werden darf, dann womöglich als unvorstellbarer Blödsinn gilt, während anderes, was heute ausgeschlossen ist, vielleicht zur Selbstverständlichkeit wird, ist für sie anscheinend undenkbar. So kann man in aller Unschuld altertümliche Vokabeln wie „pervers“ und „Kinderschänder“ verwenden wie andere früher recht unproblematisch von „Rückenmarksschwund“ und „gleichgeschlechtlicher Unzucht“ redeten. Wie gesagt, ich staune. Immer wieder.

Sonntag, 2. Juni 2013

Deutschlands Verzählungen

Ene mene mink mank pink pank,
ene mene acke backe eia peia weg.
(Berliner Abzählreim)

Deutsche pflegen sich als Nationaleigenschaften gern Ordnungssinn, Sauberkeit und Gründlichkeit beizulegen. Mag ja alles sein (ich hab’ da auch andere Erfahrungen), aber mit dem Rechnen hapert’s offensichtlich. Nein, ich will nicht auf die PISA-Studie hinaus, nicht auf die Kosten der Elbphilharmonie oder des Stuttgarter Hauptbahnhofs und auch nicht auf den Eröffnungstermin des Flughafens „Willy Brandt“. Ich will in der jüngsten Wunde bohren.
Zeit für ein Schiller-Zitat:  „Er zählt die Häupter seiner Lieben. Und sieh! es fehlt kein teures Haupt!“ Doch der Dichter irrt. Zumindest wenn „er“ der deutsche Staat ist und die Häupterzählung der Mikrozensus 2011. Dann fehlt da nämlich, gegenüber den vorausgegangen Schätzungen, sehr wohl so manches Haupt, ob es einem nun teuer ist oder nicht.
Nun gut, so richtig dramatisch ist eine Differenz von nicht einmal zwei Prozent eigentlich nicht. 80,2 statt 81,7 Millionen Einwohner. Kein Grund von Schrumpfung zu konfabulieren. Zum Vergleich: In den 50er Jahren des vorigen Jahrhunderts hatten Ost- und Westdeutschland zusammen zehn Millionen weniger Einwohner — und wirkten nicht gerade entvölkert; das kleindeutsche Reich (also heutige BRD plus Pommern, Schlesien, Ost- und Westpreußen) hatte nur 40 bis 65 Millionen Einwohner; und selbst das „großdeutsche“ Reich (inklusive Österreich und „Sudentenland“) schaffte 1939 (also vor dem Auswanderungsstopp und der Eroberung weiterer Gebiete) gerade mal 79,4 Millionen.
Zu wenig Deutsche gibt es also nicht. (Und mancher meint, zu wenige könne es gar nicht geben. Ich kommentiere das hier nicht.) Zumal der Mikronzensus die offizielle Schätzung vor allem bei den nichtdeutschen Staatsbürgern korrigierte: statt 7,3 Millionen gibt es wohl nur 6,2 Millionen davon in Deutschland. Von der Differenz zwischen Schätzung und Mikrozensus entfallen also fast drei Viertel auf Ausländer. Weniger Deutsche? Leider nein. (Vielleicht sind die fehlenden 400.000 Deutschen gerade alle auf Malle. Oder sie studieren Medizin in Österreich.)
Besonders verschätzt hat man sich übrigens ausgerechnet in Berlin. Die sich selbst gern als „pulsierende Metropole“ bezeichnende Stadt kommt nach dem Mikrozensus bloß auf 3.326.002 Einwohner statt auf die zuvor angenommenen dreieinhalb Millionen oder noch mehr. Über fünf Prozent Differenz! Da stehen jetzt wohl Rückzahlungen beim Länderfinanzausgleich an … Ob bewusst geschummelt wurde oder man sich einfach überschätzt hatte, ist schwer zu sagen.
Bemerkenswert ist jedenfalls, dass die neue amtliche Einwohnerzahl Berlins (Stichtag 9. Mai 2011) sogar unter der Schätzung für das Jahr 2001 liegt, um immerhin über 160.000. Berlin wäre also geschrumpft (um fast zwei Prozent). Allerdings hätte Berlin selbst dann, wenn man nicht die Mikrozensuszahl, sondern die Phantasiezahl 3.501.872 der Stadtregierung zu Grunde legt, seit 2001 nur ein Wachstum von 3,35 Prozent geschafft. Zum Vergleich: Im selben Zeitraum wuchs Wien — das man schwerlich „pulsierend“ nennen wird — von 1.550.123 Einwohnern auf 1.726.255, also um beachtliche 11,36 Prozent.
Aber was soll’s. Auf die Größe (oder das Wachstum) kommt’s nicht an. Bagdad hat 5,4 Millionen Einwohner, gilt aber (dem Quality of Life Ranking der Firma Mercer 2012 zu Folge) als die am wenigstens lebenswerte Metropole der Welt. Berlin erreicht immerhin Rang 16. Und Wien übrigens Platz eins.