Dienstag, 29. Januar 2013

„Antisexistischer“ Rassismus

Es ist ja nun wirklich nicht so, dass ich mein bisschen Lebenszeit damit zu vergeuden pflege, dümmliche Quasselsendungen à la „Günther Jauch“ zu glotzen. Und doch finde ich es recht interessant, dass, wie ich dem Internet entnehme, am letzten Sonntag in besagter Sendung diese Sätze gefallen sind: „Wenn sich jeder so verhält, wie er möchte, dass man sich seiner Frau oder seiner Tochter gegenüber verhält, dann haben wir doch schon ne Menge gewonnen. Das gilt übrigens, wenn ich das noch mal sagen darf, das gilt natürlich auch für unsere Freunde mit Migrationshintergrund, die immer laut von Ehre sprechen und Respekt für sich einfordern, aber ihn grade, einige von ihnen jedenfalls, im Umgang mit Frauen vermissen lassen.“ Also sprach Thomas Osterkorn, einer der Chefredakteure des „Stern“.
Da frage ich mich doch: Wen mag Herr Osterkorn mit „unseren Freunden mit Migrationshintergrund“ meinen? Eingewanderte Österreicher (er selbst wurde in Linz an der Donau geboren) oder Finnen, Monegassen oder Sanmarinesen, Kanadier oder Neuseeländer? Wohl kaum. „Unsere Freunde“ ist offenkundig abschätzig gemeint, wie mancher ja auch gern jemanden „mein Freundchen“ nennt, der gewiss nicht sein kleiner Freund ist. Und „mit Migrationshintergrund“ soll wohl so viel bedeuten wie „orientalisch“.
Früher, als man’s noch sagen durfte — und Osterkorn gehört anscheinend zu denen, die immer wieder darum kämpfen müssen, etwas noch sagen zu dürfen —, sprach man von Ausländern und bezog sich damit nicht unbedingt auf die Staatsbürgerschaft, man sprach von Gastarbeitern und spielte damit nicht eigentlich auf ein Beschäftigungsverhältnis oder einen Aufenthaltsstatus an. Heute sagt man „Menschen mit Migrationshintergrund“ und will damit oft keineswegs auf Individual- oder Familiengeschichte als solche hinaus, sondern auf eine Herkunft von „da unten“, eine Herkunft, die weniger wert ist als andere Herkünfte, weil sie mit Rückständigkeit und Bedrohung konnotiert wird.
Typisch ist an Osterkorns Debattenbeitrag, dass sich dabei Antisexismus — für den ja gerade der „Stern“ sehr bekannt ist — ganz zwanglos mit Rassismus verbindet. Im Namen einer gerade für gut befundenen Sache treibt man sein übliches Geschäft. Alte Ressentiments werden in neueste Aufklärungen verpackt. Vom Chefredakteur eines Halbschmuddelbättchens mehr als solch leicht gehobenes Stammtischblabla zu erwarten, wäre ohnehin illusorisch gewesen. Dass aber niemand Osterkorns Geschwätz spontan widerspricht, könnte überraschen, wenn man solches Ignorieren nicht bereits als Standardreaktion in der Mitte der Gesellschaft voraussetzen müsste. Und so ein bisschen unwidersprochene Fremdenfeindlichkeit passt ja auf perverse Weise auch sehr gut zum Sendetermin, nämlich dem Abend des „Tages des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus“, an dem landauf und landab immer wieder gern ein „Nie wieder“ beschworen wurde.
Tagtäglich werden in Deutschland (und Österreich und …) Menschen wegen ihrer Herkunft, ihrer tatsächlich oder einer ihnen unterstellten, verächtlich gemacht und benachteiligt. Kulturelle Traditionen werden abgewertet, für unterentwickelt und unerwünscht erklärt. Setzen Diskriminierte dem ihre Begriffe von Würde und Anstand entgegen, werden sie erst recht verhöhnt oder gar als Gefährder westlicher Werte gebrandmarkt. (Die berüchtigten „Kopftuchmädchen“ etwa, die sich der Bordsteinschwalbenästhetik ihrer Geschlechtgenossinnen nicht anschließen möchten.)
Nun wird gewiss niemand wird behaupten wollen, Sexismus sei kein Problem. Und selbstverständlich hat sexistisches Verhalten Entstehungsbedingungen, die nicht bloß individuell divers, sondern soziokulturell geprägt sind. Keineswegs aber rechtfertigt angeblicher Antisexismus rassistische Unter- oder Obertöne. (Auch wenn der Kampf für Frauenrechte ebenso wie der für Menschenrechte im globalen Maßstab längst gerade von denen propagandistisch instrumentalisiert wird, die im Zweifelsfall jedes Recht mit Füßen treten. Man denke etwa daran, dass Afghanistan bekanntlich nur deshalb von den USA und ihren Verbündeten überfallen wurde, damit Mädchen zur Schule und Frauen ohne Burka auf die Straße gehen können.)
Sicherlich, Osterkorns Gerede ist für sich genommen unerheblich. Wer eine Zeitschrift macht wie den traditionell mit softpornographischen Mitteln arbeitenden „Stern“, ist als Kronzeuge gegen Sexismus so glaubwürdig, wie Samson aus der Sesamstraße es als Ernährungsberater wäre. Schlimm ist nur, dass dem Mann nach seinem xenophoben Statement niemand über den Mund gefahren zu sein scheint. Rassismus ist wohl so selbstverständlich, dass man ihn nicht einmal mehr bemerkt, vor allem nicht, wenn man gerade mit viel Wichtigerem befasst ist. Wie der Frage, wer wem wann warum das Tragen eines Dirndls empfehlen darf.

Sonntag, 27. Januar 2013

Sexismusvorwurf, Sexismusrealität

Was jemand getan hat, ist eine Sache. Was behauptet wird, dass er es getan habe, eine andere. Leider wird in der Öffentlichkeit das eine mit dem anderen oft umstandslos gleichgesetzt. Nun behaupte ich gar nicht, der und der habe das Behauptete nicht getan oder es sei ihm nicht zuzutrauen. Darum geht es gar nicht. Es geht darum, dass nicht einfach jeder Vorwurf schon deshalb als Tatsache gelten darf, weil er erhoben wird. Sonst droht Realitätsverlust.
Im Journalismus gelten zwar andere Regeln als im Justizwesen, in dem bekanntlich jeder als unschuldig zu gelten hat, bis seine Schuld bewiesen und gerichtlich festgestellt wurde. Aber auch bei Journalisten und Journalistinnen sollte es eigentlich üblich sein, Tatsachenbehauptungen zu belegen. Leider wird darauf gerne verzichtet.
Ob die anzügliche Bemerkung, die Frau Himmelreich Herrn Brüderle vorwirft, tatsächlich so geäußert wurde, wie sie es behauptet, können nur Himmelreich und Brüderle wissen — und womöglich sind sie, was den Wortlaut und seine Bedeutung betrifft, verschiedener Meinung. Korrekt wäre es, den Vorwurf Belästigung objektiv zu belegen, durch Zeugen bestätigen zu lassen und dem angeblichen Belästiger die Möglichkeit zu geben, sich zum Vorwurf zu äußern.
Stattdessen hat man beim „Stern“, für den Frau Himmelreich arbeitet, ein ganzes Jahr gewartet, bis man den angeblichen Vorfall publik machte. Für besonders dringlich befand die Redaktion die Sache also nicht, aber als jetzt, weil Brüderle auch sonst viel mediale Aufmerksamkeit bekam, die Gelegenheit günstig war, nutzte man sie, um öffentlichkeitswirksam ein bisschen Schmutzwäsche zu waschen. Wer solchen Journalismus mies nennt, drückt sich noch höflich aus.
Falls Herr Brüderle Frau Himmelreich belästigt hat, ist das übel. Übler finde ich die Politik der FDP. Für die sollte Herr Brüderle mehr als für anderes verachtet werden. Dass Frau Himmelreich sich nicht an Ort und Stelle gewehrt zu haben scheint, sondern sich ein Jahr später von ihrer Redaktion instrumentalisieren lässt, zeigt, wie verlogen der gesellschaftliche Umgang mit Sexismus tatsächlich ist.
Der Trittbrettfahrerinnen und Trittbrettfahrer sind bei dem Thema erwartungsgemäß viele. Alle wollen jetzt immer schon etwas über die Übergriffigkeit von Politikern gegenüber Journalistinnen gewusst haben. Ich meinerseits bezweifle gar nicht, dass all diese üblen Dinge, von den jetzt die Rede ist, stattgefunden haben oder stattfinden hätten können. Ich wundere mich nur, welche Themen wann Konjunktur haben und warum niemand wirklich grundsätzliche Fragen stellt.
Stattdessen werden Klischees von Männern als dauergeilen Böcken und Frauen als verfolgten Unschuldslämmchen durchgehechelt. Das gefällt, weil es dem Selbstbild beider Geschlechter entspricht. Männer als Aufreißer und Frauen als Aufzureißende. Aktivität und Passivität sind dabei verteilt, wie es dem heterosexuellen Modell entspricht.
Wesentlich ist dabei das Dogma, dass das männliche Verhalten nie und niemals Reaktion auf weibliches Verhalten ist. Männer sind Schweine, Frauen sind Heilige. So etwas wie Aufreizung gibt es einfach nicht. Frau Himmelreich hätte sogar im Dirndl an der Hotelbar sitzen und ihre Oberweite auf dem Tresen ausbreiten können, jede Bemerkung von Herrn Brüderle über ihre Körperlichkeit wäre trotzdem blanker Sexismus gewesen.
Sexismusvorwürfe, wie sie üblicherweise geäußert und als Sexismusrealität genommen werden, bestätigen die bestehenden Verhältnisse. Männer sind gewissenlose Täter, Frauen ohnmächtige Opfer. Dass auch Frauen aktiv diese Verhältnisse befördern, indem sie permanent thematisieren, ob sie von Männern attraktiv gefunden werden oder nicht und ob ihnen das Recht ist oder lästig, davon soll keine Rede sein. Sich zum Begehrensobjekt zu stilisieren, um über das Begehren des (heterosexuellen) Anderen zu verfügen, ist allerdings eine Machtposition, die Frauen nicht aufgeben wollen. Darum müssen Abwertung, Belästigung und Vergewaltigung als Möglichkeit immer aufrufbar bleiben. Darum gilt Vorgeworfenes bereits als erwiesene Tatsache. Nur so kann sexuelle Differenz immer wieder als Machtungleichgewicht inszeniert werden.
Kurzum, ich bestreite nicht, dass es sexistisches Verhalten gibt. Aber ich halte es für entscheidend, darauf zu achten, wer die Definitionsmacht darüber besitzt, was Sexismus ist. Männer haben diese Macht offensichtlich nicht, außer sie borgen sie sich von Frauen.

Notfallverhütung?

Notfallverhütung. Was für ein Wort! Ein Unwort. Zudem eine blanke Lüge. Verhütung, das klingt nach etwas, dass man tun kann, bevor etwas passiert, damit es nicht passiert. Man versucht zum Beispiel, Unfälle zu verhüten, durch Vorsicht und Vorkehrungen. Wenn ein Unfall bereits stattgefunden hat, kann man ihn nicht mehr verhüten, sondern nur mit seinen Folgen umgehen.
Dass man beim „normalen“ heterosexuellen Geschlechtsverkehr von Verhütung spricht, erschien mir immer schon eine ideologische Verzerrung. Andere Sprachen sind da ehrlicher: contraception, das ist wertneutral. Empfängnisverhütung hingegen macht aus dem Zusammentreffen von Samen- und Eizelle etwas, was zu „verhüten“ ist; man verhütet aber nichts Gutes.
Wie auch immer. Die sogenannte Notfallverhütung jedenfalls hat, wie Abtreibung überhaupt, nichts mit Empfängnisverhütung zu tun. So etwas wie
nachträgliche Verhütung gibt es nicht. Wenn ein Notfall bereits eingetreten ist, kommt jede Prävention zu spät. Darum ist der Ausdruck „Notfallverhütung“ falsch, verlogen, verharmlosend.
Sogenannte Verhütungsmittel sollen Empfängnis verhindern, also verunmöglichen, dass eine Eizelle von einer Samenzelle befruchtet wird. Dies trifft auch noch für jene „Pille danach“ zu, die ovulationshemmend wirken (den Eisprung unterbinden) und die Spermienbeweglichkeit hemmen soll; sofern sie aber auch nidationshemmend (die Einnistung unterbindend) wirkt, hat sie dieselbe Funktion wie die „Abtreibungspille“: Eine bereits befruchtete Eizelle soll sterben.
Wie man zu Abtreibung steht, ist eine Gewissensfrage. Keineswegs aber eine, die zu beantworten ausschließlich das Recht der Schwangeren ist. Ich persönlich halte Abtreibung für unerlaubte Kindstötung, umgangssprachlich: für Mord. Andere sehen das anders. Manche möchten das Urteil ganz den betroffenen Frauen überlassen. Mir ist allerdings kein anderer Fall bekannt, wo man meint, die Wertung einer Tat, die Folgen für andere hat, als erlaubt oder unerlaubt, dürfe ausschließlich vom Täter oder der Täterin vorgenommen werden.
Wie auch immer man also zu Abtreibung steht, wie auch immer man moralische Regeln und gesetzliche Vorschriften gestaltet sehen möchte, immer sollte man ehrlich und an den Tatsachen orientiert über die Dinge sprechen.
Der Ausdruck „Notfallverhütung“ leistet das Gegenteil. Er verschleiert.
Der Wunsch vergewaltigter Frauen, von ihrem Vergewaltiger nicht schwanger zu werden, ist durchaus
nachzuvollziehen. Aber das Rechtsverhältnis zwischen Täter und Opfer ist eines, das zwischen Mutter und Kind ein anderes. Vergewaltigung ist ein Verbrechen, aber was hat das mit der befruchteten Eizelle zu tun, die zu einem Kind heranwachsen kann? Soll ein mögliches Kind für das Verbrechen seines Vaters bestraft werden? Ist es, weil es in einem schuldhaften Akt gezeugt wurde, selber schuldig? Ist seine Leben unwert, noch bevor es auf der Welt ist?
Ich sehe das nicht so. Ich billige niemandem das Recht zu, über das Leben oder den Tod eines anderen Menschen zu entscheiden. Ich bin gegen die Todesstrafe, gegen Krieg, gegen Euthanasie. Ich bin auch gegen Abtreibung. Dass das nicht als „links“ gilt, ist mir wurscht. Gewissensentscheidungen dürfen sich weder an Etiketten noch am Zeitgeist orientieren. Darum lehne ich die Forderung nach einem Recht auf „Notfallverhütung“ entschieden ab.

Sonntag, 20. Januar 2013

Falsche Frage, ganz falsche Antwort

Ob Österreich weiterhin eine Wehrpflichtarmee oder in Zukunft ein Berufsarmee haben soll, ist die falsche Frage. Die richtige Frage lautet: Braucht Österreich überhaupt Streitkräfte? Und die Antwort kann nur lauten: Nein. Wenn also am heutigen Tag eine Volksabstimmung ergeben hat, dass eine Mehrheit der Abstimmenden für die Beibehaltung der Wehrpflicht ist, dann ist das unzweifelhaft die falsche Antwort auf die falsche Frage.
Mit Ausnahme Liechtensteins und der Schweiz sind alle Staaten um Österreich herum in der NATO. Liechtenstein hat seit 1866 kein Militär. Die Schweiz hat meines Wissens noch nie ein anderes Land überfallen und macht eigehntlich nicht den Eindruck, in absehbarer Zeit damit beginnen zu wollen. Und dass gegen die hochgerüstete und unter anderem über Atomwaffen verfügende NATO keine Gegenwehr möglich, wenn diese beschlösse, Österreich anzugreifen, steht wohl außer Frage.
Wozu also ein Bundesheer? Damit ein Teil der männlichen Bevölkerung weiterhin superlustige Anekdoten aus der Wehrdienstzeit erzählen kann, von Besäufnissen und lebensgefährlichen Beinaheunfällen, von ödem Kasernenalltag und aberwitziger Militärbürokratie? Damit Steuergelder für rostige Rüstungsgüter verpulvert werden? Damit bei Staatsbesuchen eine Blaskapelle spielt?
Österreich braucht keine Streitkräfte. Die Abschaffung der Wehrpflicht wäre ein Schritt in Richtung Entmilitarisierung der Gesellschaft gewesen. Dass heute eine große Mehrheit für die Beibehaltung gestimmt hat, zeigt, was das für Leute sind. Soldaten sind Mörder, schrieb Tucholsky. Was sind dann die, die alle tauglichen Staatsbürger zu Soldaten ausbilden lassen möchten? Auftraggeber. Also noch schlimmer.

Vermischte Meldungen (7)

Pola Kinski? Nie gehört. Anscheinend eine Schauspielerin, die ihre mehr als bescheidene Karriere damit aufzupeppen versucht hatte, dass sie (wie auch ihre Halbgeschwister) den Künstlernamen des Vaters übernommen hatte. Als Pola Nakszynski wäre sie wohl noch unbekannter geblieben denn als Pola Kinski, Tochter von Klaus Kinski. Jetzt, im zarten Alter von 60 Jahren, hat diese Pola K. in Sachen Vermarktung noch eins draufgesetzt, indem sie in ihrer jüngst erschienenen Autobiographie, die ansonsten wohl niemanden zu interessieren vermöchte, davon berichtet, dass ihr Vater sie, als sie ein Kind war, missbraucht habe. Heißa, da freuten sich die Schmutzblättchen und einschlägigen Fernquasselsendungen. Zu Lebzeiten schon war der genialisch-verrückt Kinski immer für einen Skandal gut, jetzt gibt’s halt mal wieder einen post mortem. Wäre das nicht ein pornographisches, sondern ein journalistisches Phänomen, müsste man ja eigentlich mal zwischendurch die Frage stellen: Stimmt denn das überhaupt, was Pola K. sagt? Doch derlei interessiert nicht. Die bloße Behauptung wird mit erwiesener Tatsache gleichgesetzt, und einmal mehr wird ein Missbrauchsvorwurf als Missbrauchsfall behandelt. Nun behaupte ich meinerseits ja gar nicht, dass ich es besser wüsste und dass Kinski kein Sex mit seiner Tochter hatte. (Seinen eigenen Angaben zu folge hatte er auch mit Mutter und Tochter gefickt.) Ich finde es nur bedenklich, dass so viele Medien aus lauter Sensationslust das Geschäft von Frau K. betreiben und ihr beim Verkauf ihres sicher nicht lesenswerten Buches helfen und dabei bedenkenlos jemanden als Verbrecher behandeln, der sich nicht verteidigen (oder selbst bezichtigen) kann, weil er seit über zwanzig Jahren tot ist.
                                                           

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Was denn nun? Erst wurde gemeldet, zwei in katholischer Trägerschaft befindliche Kölner Krankenhäuser hätten eine Vergewaltigte abgewiesen. Dann wurde gemeldet, sie hätten sie nicht abgewiesen, nur die Abtreibungspille verweigert. Schließlich einigte man sich irgendwie darauf, sie sei doch abgewiesen worden, weil man ihr die Abtreibungspille nicht habe geben wollen. Manche nannten das „unmenschlich“. Versucht man, den zuweilen reichlich wirren Berichten und Kommentaren — wenn es gegen die katholische Kirche geht, schnappen manche Journalisten über und die einfachsten Grundregeln der Recherche gelten für sie nicht mehr —, ein paar Fakten zu entnehmen, stellt es sich so dar. Eine junge Frau, die möglicherweise Opfer einer Vergewaltigung war, sollte auf Spuren einer solchen Straftat untersucht werden. Dazu wären die beiden Krankenhäuser in der Lage gewesen. Weil aber anscheinend befürchtet (oder aus gutem Grund angenommen) wurde, die Frau wolle über die Untersuchung hinaus „vorsorglich“ eine Abtreibungspille verabreicht bekommen, weigerte man sich. Ein Missverständnis, sagt man von Seiten des Krankenhausbetreibers jetzt. Das klingt plausibel. Jedenfalls handelt es sich offensichtlich nicht um etwas, was das Skandalisierungsgeschrei rechtfertigt, das aus einer möglicherweise Vergewaltigten eine Vergewaltigte macht, aus einer unterlassenen Untersuchung eine verweigerte Behandlung und aus chemischer Abtreibung eine „Pille danach“. Dass die katholische Kirche gegen Abtreibungen ist, ist ihr gutes Recht. Inwiefern die Umstände seiner Zeugung das Recht eines Menschen, nicht umgebracht zu werden, einschränken können sollen, kann auch ich nicht verstehen. Wenn es unmenschlich ist, ein ungeborenes Kind „vorsorglicherweise“ zu töten, weil sein Erzeuger möglicherweise (was eigentlich erst ein Gericht zu klären hätte) ein Straftäter ist, dann bin ich gerne auf der Seite der „Unmenschlichen“.

Montag, 7. Januar 2013

Dünnschiss und Wahn

Antireligiöse Ressentiments machen dumm. Diese alte Erfahrung bestätigt leider immer wieder auch der Blogger „Steven Milverton“, der es mit unschöner Regelmäßigkeit schafft, etwas Kluges und Richtiges zu schreiben, das er dann durch religionsfeindlichen Unsinn wieder durchkreuzt.
So zum Beispiel auch in dem Text „Das Beschneidungsgesetz“ (6. Januar 2013). Zu Recht erklärt „Steven Milverton“ dieses Gesetz, das er in voller Länge (sogar einschließlich der Unterschriften) zitiert, für Unrecht. Ein bisschen albern ist es freilich, wenn „Steven Milverton“ meint, wenn Deutschland ein Rechtsstaat wäre, müssten sich „die Abgeordneten, die dem Gesetz zugestimmt haben, die Regierungsmitglieder, die es unterzeichnet haben und der Bundespräsident, der es ausgefertigt und verkündet hat, wegen Beihilfe zur Körperverletzung, gegebenenfalls sogar schwerer Körperverletzung oder sogar wegen schwerer Körperverletzung mit Todesfolge vor Gericht verantworten“. „Steven Milverton“ ist offensichtlich kein Jurist und verwechselt seine private Paragraphendeutung mit verallgemeinerbarem Rechtsverständnis. Sinn des Beschneidungsgesetzes ist es ja gerade, von der Strafbarkeit von Körperverletzung eine bestimmte Ausnahme gelten zu lassen. Im Sinne einer politischen Polemik ist die Gleichung „Zustimmung zum Beschneidungsgesetz ist Körperverletzung“ jedoch halbwegs akzeptabel.
Der eindeutige Unsinn kommt im nächsten Absatz: „Wenn man mir noch Anfang des vergangenen Jahres gesagt hätte, in Deutschland würde irgendwann einmal die Scharia (oder anderes religiöses Machwerk) gelten, hätte ich das nicht für möglich gehalten, sollten doch gerade die Deutschen wissen, was ein Gottesstaat mit den Menschen macht — immerhin gab es das in Deutschland schon einmal. Gott hörte damals auf den Namen Adolf Hitler und ließ sich auch gerne Führer rufen. Bejubelt wurde er von katholischen wie evangelischen Christen gleichmaßen.“
Die Gleichsetzung von Nazismus und Religion ist so dumm, ungebildet und albern, das man nicht darüber diskutieren kann. Für solche Absurditäten ist wohl eher das psychiatrische Fach zuständig. (Man weiß ja, wo sein Religionshass beispielsweise Panizza hingeführt hat.)
Was aber die Geltung der Scharia (als angebliches Exempel eines „religiösen Machwerks“) betrifft, so zeigt „Steven Milverton“ hier einmal mehr sein Unwissen. Sein Ressentiment macht ihn dumm. Hätte er sich auch nur ein bisschen informiert, wüsste er, dass in Deutschland sehr wohl die Scharia gilt. Etwa im Erb- oder Eherecht. Die Anwendung von Rechtsvorschriften ist beschränkt, aber als Teil des Internationalen Privatrechts in gewissem Umfang verpflichtend. (Ich empfehle zu diesem Thema „Scharia in Deutschland“", einen einführenden Text von Mathias Rohde. Oder wenigsten diesen Zeitungsartikel: „Scharia hält Einzug in deutsche Gerichtssäle".)
Doch die gesellschaftliche Wirklichkeit interessiert „Steven Milverton“ nicht. Er will seine Vorurteile pflegen. „Man braucht sich nur auf religiösen Dünnschiss zu berufen und behaupten, man wisse was man tue. Tiere sind in Deutschland besser geschützt als Kinder. Ich halte es für einen Skandal. Mit diesem Gesetz wird klar denkenden Menschen die Möglichkeit abgeschnitten, gegen religiösen Wahn vorzugehen.“ Diesen Unsinn verzapft er, obwohl er den Wortlaut des Beschneidungsgesetzes selbst zitiert hat! Anscheinend hat er es nicht gelesen oder nicht verstanden. Im Gesetzestext ist nämlich mit keinem Wort von einer religiösen Motivation oder Rechtfertigung der Beschneidung die Rede. Die zentrale Bestimmung lautet: „Die Personensorge umfasst auch das Recht, in eine medizinisch nicht erforderliche Beschneidung des nicht einsichts- und urteilsfähigen männlichen Kindes einzuwilligen, wenn diese nach den Regeln der ärztlichen Kunst durchgeführt werden soll.“ Wo ist da der „religiöse Dünnschiss“, der „religiöse Wahn“? Offensichtlich nur im Kopf von „Steven Milverton“.
Gegen Beschneidung Unmündiger zu sein, ist richtig. Für sie wird oft, aber nicht allein, mit der Notwendigkeit argumentiert, durch sie eine Zugehörigkeit, insbesondere zum Judentum oder zum Islam, auszudrücken. Gerade die deutsche Beschneidungsdebatte, die sich auf den unsinnigen Gegensatz „Für das Beschneidungsrecht von Juden oder Gegen die Juden“ zuspitzte, gerade diese Debatte hat nämlich am Rande auch gezeigt, dass selbst nicht-religiöse und atheistische Juden ihre Söhne unbedingt beschneiden lassen wollen. Es geht also, darf man daraus schließen, primär um Gruppenzugehörigkeit und nicht um Religion.
„Steven Milverton“ ist ein Opfer seiner Vorurteile. Seine Ressentiments verstellen ihm den Blick, sein Hass beschädigt sein Urteilsvermögen. Das ist schade. Gewiss, auch andere schreiben, wenn es um Religiöses geht, viel dummes Zeug. Bei „Steven Milverton“ aber wird einem damit das halbwegs kluge Zeug, das er mitunter auch schreibt, verleidet.

Donnerstag, 3. Januar 2013

Heißt „konstruiert“ denn „inexistent“?

Das Internetportal „queer.de“ ist nicht gerade dafür bekannt, seine Nutzer mit intellektuellem Kram zu behelligen. Man befasst sich dort für gewöhnlich lieber mit Klatsch und Tratsch, mit lifestyle und mit einem etwas schrägen Blick aufs Politische. Umso überraschender war es, dass man am Silvestertag des Jahres 2012 Burkhard Scherer Gelegenheit gab, unter der Überschrift „Die Mehrheit ist hetero – wie queer sind wir?“ ein paar Gedankengänge aus dem Bereich dessen, was man Queer Theory nennt, in einfachen worten darzustellen. Die erwartbaren Reaktionen blieben nicht aus.
„Ich bezweifle, dass mittlere Vorlesungen dieser Art überhaupt ihre Leser finden werden, denn hier nervt allein schon mal die Textmenge, mit der im Grunde genommen nichts ausgedrückt wird, was nicht schon offenkundig wäre.“
„Queer-Quatsch (…) eine akademische Diskussion, die elitär geführt wird und für die Menschen keinen Nutzen hat. (…) Das ist nur ein affiger Murks, der einem akademischen Wolkenkuckusheim entspringt.“
„Ich gebe zu, nach der Hälfte des Textes nicht weitergelesen zu haben, weil langweilig, nichts neues, nichts fesselndes.“
„Dieser Artikel ist kaum lesbar (zu lang ) und fällt unter die Kategorie :unnötiges Geschwätz.“
Ins selbe Horn stieß auch „Adrian“ vom Blog „Gay West“: „ein unglaublich kompliziert geschriebener Beitrag (…), der wieder einmal versucht, aus Homosexualität eine Lebensweise, wenn nicht gar eine Revolution zu machen. (…) Der Beitrag eines/einer gewissen Dr. B. Scherer strotzt im folgenden geradezu von Klischees, Verallgemeinerungen und postmodernen Plattitüden.“ Und dann wird ausführlich zitiert, was „Adrian“ anscheinend nicht mit eigenen Wort wiedergeben kann.
Zwischendurch gelangt „Adrian“ zu erstaunlicher Einsicht: „Ich für meinen Teil, weiß dass ich in einer heterosexuellen Welt lebe. Den Grund hierfür sehe ich ganz simpel darin, dass die meisten Menschen heterosexuell sind.“ Auf den Gedanken, dass deshalb die meisten Menschen heterosexuell sind, weil sie in einer heterosexuellen Welt leben, kommt „Adrian“ selbstverständlich nicht. Solch kritische Erwägung hielte er wohl für „postmodern“.
„Denn was soll es eigentlich bedeuten, Hautfarbe, Klasse, Behinderungsstatus etc. in Frage zu stellen? Soll das heißen, sich hinzustellen und zu behaupten, man sei nicht weiß, sondern habe eine schwarze Hautfarbe? Man sei nicht untere Mittelklasse, sondern Bourgeoisie? Man sei nicht querschnittsgelähmt, sondern so wie alle anderen?“
Hier stellt sich jemand nun wirklich dumm. Eine Analyse der Weisen vorzunehmen, in denen Menschen nach Rasse, Klasse, Geschlecht usw. eingeteilt werden, bedeutet selbstverständlich nicht, die realitätsstiftende Macht dieser Einteilungen zu leugnen oder sie für durch rein verbale Umetikettierung veränderbar zu halten. Dass jemand querschnittgelähmt ist, ist eine medizinische Diagnose, dass er behindert ist, eine gesellschaftliche Veranstaltung.
Darum ist es Unsinn, wenn „Adrian“ behauptet: „Es mag zuweilen schmerzlich sein, aber eine Minderheit zu sein, ist so schlimm auch nicht. Individualität bedeutet, Unterschiede anzuerkennen und sie als Teil der Pluralität des Lebens zu akzeptieren. Aber zu versuchen, diese Unterschiede einzuebnen, diese als nichtexistent, als Konstruktion zu betrachten, halte ich in höchsten Maße für absurd. Ganz einfach, weil es der Lebensrealität widerspricht. Und weil Kategorien nützlich sein können.“
Der Kern des Missverständnisses besteht in der Gleichsetzung von „konstruiert“ und „inexistent“. Wäre dem so, wäre, wie viele glauben, jeder Sozialkonstruktivismus einfach nur lächerliches Hirngespinst. Es ist aber nicht dasselbe, die Weisen aufzuzeigen, wie etwas gesellschaftlich produziert wird, sich also als nicht naturwüchsig erweist, und zu behaupten, es existiere gar nicht. Der Eiffelturm in Paris ist mit Sicherheit nicht von selbst gewachsen, sondern eine Konstruktion. Existiert er deshalb nicht? Die deutsche Straßenverkehrsordnung oder der Nürnberger Christkindlesmarkt: Gibt es sie etwa von Natur aus? Oder wurden und werden sie von Menschen gemacht? Existieren sie deshalb nicht? Kurzum, nicht der Sozialkonstruktivismus ist lächerlich, sondern solche Kritik daran, die „konstruiert“ mit „inexistent“ gleichsetzt, als ob gerade das die sozialkonstruktivistische These wäre.
Auch mit den Einteilungen „Hautfarbe, Klasse, Behinderungsstatus etc“ verhält es sich so. Dass es von Menschen gemachte Zuschreibungen und Einteilungen sind, bedeutet nicht, dass es sie nicht gibt, dass sie nicht wirklich sind und Wirklichkeit bestimmen. Im Gegenteil, gerade dass sie gemacht werden, dass sie vollzogen werden müssen, um zu existieren, verleiht ihnen die Macht von Tatsachen. Die politische Folgerung, die sich aus sozialkonstruktivistischen Überlegungen ergeben kann, lautet allerdings: Was von Menschen gemacht ist, kann unter Umständen auch anders gemacht werden. Die Einteilungen, wie sie derzeit nach Rasse, Klasse, Geschlecht usw. vorgenommen werden, können auch anders oder gar nicht erfolgen.
Was daran „absurd“ sein soll, sehe ich nicht. Ich halte auch nichts davon, die „Pluralität des Lebens“ kritiklos hinzunehmen, statt Unrecht, das man als solches erkennt, zu benennen und nach Wegen der Veränderung zu suchen. „Lebensrealität“ ist, anders als Leute wie „Adrian“ gerne glauben (machen) möchten, nichts ein für alle mal Vorgegebenes, sondern etwas, das so oder so von allen aneinander gestaltet wird. Gewiss sind „Kategorien“ nützlich. aber wem nützen sie wann wie? Welche anderen Kategorien sind denkbar und lebbar? Welcher andere Nutzen kann aus anderen Kategorien gezogen werden? Fragen über Fragen, die man sich als theoriefeindlicher Tropf naturgemäß nicht stellen muss.

Dienstag, 1. Januar 2013

Sodomiten oder Homosexuelle?

In einem Buch blätternd, das durchzulesen ich gerade nicht die Zeit habe, stoße ich — zugebenermaßen nicht zufällig, sondern nach Befragung des Registers — auf diese Stelle: „Michel Foucault and his followers have argued that the ‘homosexual’ is a modern invention, a mental construct of the last hundred years. This is, of course, true, of homosexuality as a ‘scientific’ or psychatric category. But it is a mistake to presume that earlier ages thought merely of sexual acts and not of persons. Medieval literature speaks not only of sodomy but also of ‘sodomites’, individuals who were a substantial, clear, and ominous presence. The fact that such beings were perceived from a theological rather than a psychological point of view did not make them any less real, or less threatening.“ (Louis Crompton: Homosexuality & Civilization, Cambridge/Ma. 2003, S. 174 f.)
So, so, es ist also ein Fehler, anzunehmen, frühere Zeiten hätten nur an sexuelle Handlungen und nicht an Personen gedacht. Aber wer begeht diesen Fehler oder hat ihn begangen? Mir ist nicht bekannt, dass Foucault oder irgendjemand, der sich dabei auf ihn berufen könnte, je geleugnet hätte, dass es eine mittelalterliche oder neuzeitliche Rede von „Sodomiten“ gab. Im Gegenteil, der Ausdruck „Sodomit“ kommt ja sogar ausdrücklich in jener zu Recht berühmten Formel vor: „Le sodomite était un relaps, l’homosexuel est maintenant une espèce.“
Dieser vielzitierte Satz steht am Ende eines Abschnittes, der es, weil er so wichtig ist, verdient, hier zur Gänze wiedergegeben zu werden: „Die Sodomie — so wie die alten zivilen oder kanonoschen Rechte sie kannten — war ein Typ von verborgenen Handlungen, deren Urheber nur als ihr Rechtssubjekt in Betracht kam. Der Homosexuelle des 19. Jahrhunderts ist zu einer Persönlichkeit geworden, die über eine Vergangenheit und eine Kindheit verfügt, einen Charakter, eine Lebensform, und schließlich eine Morphologie mit indiskreter Anatomie und möglicherweise rätselhafter Physiologie besitzt. Nichts von alledem, was er ist, entrinnt seiner Sexualität. Sie ist überall in ihm präsent; allen seinen Verhaltensweisen unterliegt sie als hinterhältiges und unbegrenzt wirksames Prinzip; schamlos steht sie ihm ins Gesicht und auf den Körper geschrieben, ein Geheimnis, das sich immerfort verrät. Sie ist ihm konsubstantiell, weniger als Gewohnheitssünde denn als Sondernatur. Man darf nicht vergessen, daß die psychologische, psychiatrische und medizinische Kategorie sich an dem Tage konstituiert hat, wo man sie (…) weniger nach einem Typ von sexuellen Beziehungen als nach einer bestimmten Qualität sexuellen Empfindens, einer bestimmten Weise der innerlichen Verkehrung des Männlichen und des Weiblichen charakterisiert hat. Als eine der Gestalten der Sexualität ist die Homosexualität aufgetaucht, als sie von der Praktik der Sodomie zu einer Art innerer Androgynie, einem Hermaphroditismus der Seele herabgedrückt worden ist. Der Sodomit war ein Gestrauchelter. der Homosexuelle ist eine Spezies.“ (Michel Foucault: Der Wille zum Wissen, übers. v. U. Raulff u.W. Seitter, Frankfurt a.M. 1977, S. 58)
Mit keinem Wort sagt Foucault hier (oder anderswo), dass der Sodomit „less real“ sei als der Homosexuelle. Allerdings ist seine Realität eben eine andere als die des Homosexuellen, sie wird anders verstanden und anders gelebt. Die Unterstellung, dass es „Foucault and his followers“ zufolge erst des modernen Konzepts einer „spezifischen Homosexualität“ (also der Homosexualität als Homosexuellsein der Homosexuellen) bedurfte, um nicht nur Taten, sondern auch Täter zu benennen, ist offenkundig falsch.

Selbstverständlich war auch in vormodernen Zeitenes nicht nur von Sodomie, sondern auch von Sodomitern die Rede, wie ja überhaupt nicht nur von Sünden, sondern auch von Sündern, nicht nur von Lastern, sondern auch von lasterhaften Menschen, nicht nur von Lüge, Diebstahl, Mord, sondern auch von Lügnern, Dieben, Mördern die Rede war. Die Frage ist freilich, wie das Verhältnis von Tat und Täter verstanden wird, ob also beispielsweise einer lügt, stiehlt oder mordet und dadurch zum Lügner, Dieb oder Mörder wird, oder ob er von vornherein als einer bestimmten Gruppe zugehörig gedacht wird, also einer von den Lügnern, Dieben oder Mördern ist, weshalb dann seine tatsächlichen Lügen, Diebstähle oder Morde nur noch Manifestationen eines auch ohne solche Handlungen latent schon zuvor vorhandenen und diese bedingenden Lügnerseins, Diebseins, Mörderseins darstellen.
Nun ist es dem an ständischer Gliederung orientierten Denken des Mittelalters gewiss nicht fremd, Personen, die immer wieder gleiche Handlung vollziehen, als Angehörige einer durch solche Handlungen qualifizierten Gruppe zu betrachten. Allerdings widerspräche es dem (trotz der augustinischen Gnadenlehre von der Kirche kontinuierlich bewahrten) Glauben von an die menschlichen Willensfreiheit, anzunehmen, jemand müsse sündigen. Er mag eine spezifische Neigung zum Bösen, also zu Sünde und Verbrechen haben, aber er könnte im Grunde auch anders, als dieser Neigung zu folgen.
Das Neue am modernen Konzept (für das wohl auch die protestantische Prädestinationslehre mit ihrer Leugnung der Willensfreiheit den Boden bereitet hat) ist aber gerade, dass Akte als Ausdruck und Verwirklichung eines zugrundeliegenden Seins verstanden werden. Mit anderen Worten: Der Sodomit ist ein solcher, weil er sodomitische Handlungen begeht; der Homosexuelle vollzieht homosexuelle Handlungen, weil er ein Homosexueller ist.
Dieses neue Verständnis ließe sich auch beschreiben als Übergang vom Konzept der typischen Homosexualität zum Konzept der spezifischen Homosexualität. Zu allen Zeiten, also auch im „Mittelalter“, war es selbstverständlich üblich, menschliche Verhaltensweisen als charakteristisch für bestimmte Menschentypen zu begreifen. (Vielleicht ist dies tatsächlich an den theologischen und literarischen Texten besser erkennbar als an den juristischen und medizinischen, auf die Foucault sich bezieht.) Man denke nur an die Charaktere des Geizigen, des Aufschneiders, des Heuchlers usw., die bis weit in die Neuzeit hinein wiedererkennbare Gestalten des Theaters waren, aber eben auch solche des Alltags. Oder man denke an Konstitutionstypen wie den Choleriker, den Sanguiniker, den Melancholiker. Keineswegs wurden also vor der Mitte des 19. Jahrhunderts nur Handlungen betrachtet und von diesen auf Urheber geschlossen, sondern es wurden durchaus auch wiedererkennbare Handlungsmuster als Merkmale von konstanten Typen verstanden.
In diesem Sinne mag auch der Sodomit je und je als Vertreter eines bestimmten Typus gefasst worden sein. Aber so typisch sein Verhalten auch scheinen mochte, es begründete keine „Spezies“; es war immer noch das Verhalten, das den Menschen charakterisierte, und nicht, wie beim Homosexuellen, das „innere Wesen“, das das Verhalten bestimmte. Was sich mit dem moderne Konzept veränderte, war also nicht, dass fortan nicht mehr Handlungen betrachtet wurden, sondern ein Sein analysiert, sondern dass das Verhältnis von Handlungen und Sein neu bestimmt wurde. Ein Sodomit zu sein hieß nichts weiter, als homosexuell zu handeln. Ein Homosexueller aber braucht gar nicht zu handeln, um homosexuell zu sein. Sein „wahres Sein“ zeigt sich nicht unbedingt in dem, was er tut, sondern in dem, was ihm von den Experten (also den Psychologen und Psychiatern) als Motiv seines Handelns zugeschrieben wird.
Der „Fehler“, von dem Louis Compton schreibt, existiert also nicht. Es ist sinnlos, „persons“ gegen „sexual acts“ ausspielen zu wollen, da es immer um beides, vor allem aber um das Verständnis ihres Verhältnisses geht. Es gibt also auch keinen Grund, gegen Foucaults brillante Formel zu polemisieren. Im Gegenteil, mit „Geschichte der Homosexualitäten“ befasste Fachhistoriker und historisch interessierte Laien sind gut beraten, sich am foucaldischen Diskontinuitätsdenken zu orientieren, wenn sie nicht Gefahr laufen wollen, überall Homosexuelle (im modernen Sinne) zu sehen, wo sich zum Beispiel allenfalls Sodomiten zeigen.