Dienstag, 1. Januar 2013

Sodomiten oder Homosexuelle?

In einem Buch blätternd, das durchzulesen ich gerade nicht die Zeit habe, stoße ich — zugebenermaßen nicht zufällig, sondern nach Befragung des Registers — auf diese Stelle: „Michel Foucault and his followers have argued that the ‘homosexual’ is a modern invention, a mental construct of the last hundred years. This is, of course, true, of homosexuality as a ‘scientific’ or psychatric category. But it is a mistake to presume that earlier ages thought merely of sexual acts and not of persons. Medieval literature speaks not only of sodomy but also of ‘sodomites’, individuals who were a substantial, clear, and ominous presence. The fact that such beings were perceived from a theological rather than a psychological point of view did not make them any less real, or less threatening.“ (Louis Crompton: Homosexuality & Civilization, Cambridge/Ma. 2003, S. 174 f.)
So, so, es ist also ein Fehler, anzunehmen, frühere Zeiten hätten nur an sexuelle Handlungen und nicht an Personen gedacht. Aber wer begeht diesen Fehler oder hat ihn begangen? Mir ist nicht bekannt, dass Foucault oder irgendjemand, der sich dabei auf ihn berufen könnte, je geleugnet hätte, dass es eine mittelalterliche oder neuzeitliche Rede von „Sodomiten“ gab. Im Gegenteil, der Ausdruck „Sodomit“ kommt ja sogar ausdrücklich in jener zu Recht berühmten Formel vor: „Le sodomite était un relaps, l’homosexuel est maintenant une espèce.“
Dieser vielzitierte Satz steht am Ende eines Abschnittes, der es, weil er so wichtig ist, verdient, hier zur Gänze wiedergegeben zu werden: „Die Sodomie — so wie die alten zivilen oder kanonoschen Rechte sie kannten — war ein Typ von verborgenen Handlungen, deren Urheber nur als ihr Rechtssubjekt in Betracht kam. Der Homosexuelle des 19. Jahrhunderts ist zu einer Persönlichkeit geworden, die über eine Vergangenheit und eine Kindheit verfügt, einen Charakter, eine Lebensform, und schließlich eine Morphologie mit indiskreter Anatomie und möglicherweise rätselhafter Physiologie besitzt. Nichts von alledem, was er ist, entrinnt seiner Sexualität. Sie ist überall in ihm präsent; allen seinen Verhaltensweisen unterliegt sie als hinterhältiges und unbegrenzt wirksames Prinzip; schamlos steht sie ihm ins Gesicht und auf den Körper geschrieben, ein Geheimnis, das sich immerfort verrät. Sie ist ihm konsubstantiell, weniger als Gewohnheitssünde denn als Sondernatur. Man darf nicht vergessen, daß die psychologische, psychiatrische und medizinische Kategorie sich an dem Tage konstituiert hat, wo man sie (…) weniger nach einem Typ von sexuellen Beziehungen als nach einer bestimmten Qualität sexuellen Empfindens, einer bestimmten Weise der innerlichen Verkehrung des Männlichen und des Weiblichen charakterisiert hat. Als eine der Gestalten der Sexualität ist die Homosexualität aufgetaucht, als sie von der Praktik der Sodomie zu einer Art innerer Androgynie, einem Hermaphroditismus der Seele herabgedrückt worden ist. Der Sodomit war ein Gestrauchelter. der Homosexuelle ist eine Spezies.“ (Michel Foucault: Der Wille zum Wissen, übers. v. U. Raulff u.W. Seitter, Frankfurt a.M. 1977, S. 58)
Mit keinem Wort sagt Foucault hier (oder anderswo), dass der Sodomit „less real“ sei als der Homosexuelle. Allerdings ist seine Realität eben eine andere als die des Homosexuellen, sie wird anders verstanden und anders gelebt. Die Unterstellung, dass es „Foucault and his followers“ zufolge erst des modernen Konzepts einer „spezifischen Homosexualität“ (also der Homosexualität als Homosexuellsein der Homosexuellen) bedurfte, um nicht nur Taten, sondern auch Täter zu benennen, ist offenkundig falsch.

Selbstverständlich war auch in vormodernen Zeitenes nicht nur von Sodomie, sondern auch von Sodomitern die Rede, wie ja überhaupt nicht nur von Sünden, sondern auch von Sündern, nicht nur von Lastern, sondern auch von lasterhaften Menschen, nicht nur von Lüge, Diebstahl, Mord, sondern auch von Lügnern, Dieben, Mördern die Rede war. Die Frage ist freilich, wie das Verhältnis von Tat und Täter verstanden wird, ob also beispielsweise einer lügt, stiehlt oder mordet und dadurch zum Lügner, Dieb oder Mörder wird, oder ob er von vornherein als einer bestimmten Gruppe zugehörig gedacht wird, also einer von den Lügnern, Dieben oder Mördern ist, weshalb dann seine tatsächlichen Lügen, Diebstähle oder Morde nur noch Manifestationen eines auch ohne solche Handlungen latent schon zuvor vorhandenen und diese bedingenden Lügnerseins, Diebseins, Mörderseins darstellen.
Nun ist es dem an ständischer Gliederung orientierten Denken des Mittelalters gewiss nicht fremd, Personen, die immer wieder gleiche Handlung vollziehen, als Angehörige einer durch solche Handlungen qualifizierten Gruppe zu betrachten. Allerdings widerspräche es dem (trotz der augustinischen Gnadenlehre von der Kirche kontinuierlich bewahrten) Glauben von an die menschlichen Willensfreiheit, anzunehmen, jemand müsse sündigen. Er mag eine spezifische Neigung zum Bösen, also zu Sünde und Verbrechen haben, aber er könnte im Grunde auch anders, als dieser Neigung zu folgen.
Das Neue am modernen Konzept (für das wohl auch die protestantische Prädestinationslehre mit ihrer Leugnung der Willensfreiheit den Boden bereitet hat) ist aber gerade, dass Akte als Ausdruck und Verwirklichung eines zugrundeliegenden Seins verstanden werden. Mit anderen Worten: Der Sodomit ist ein solcher, weil er sodomitische Handlungen begeht; der Homosexuelle vollzieht homosexuelle Handlungen, weil er ein Homosexueller ist.
Dieses neue Verständnis ließe sich auch beschreiben als Übergang vom Konzept der typischen Homosexualität zum Konzept der spezifischen Homosexualität. Zu allen Zeiten, also auch im „Mittelalter“, war es selbstverständlich üblich, menschliche Verhaltensweisen als charakteristisch für bestimmte Menschentypen zu begreifen. (Vielleicht ist dies tatsächlich an den theologischen und literarischen Texten besser erkennbar als an den juristischen und medizinischen, auf die Foucault sich bezieht.) Man denke nur an die Charaktere des Geizigen, des Aufschneiders, des Heuchlers usw., die bis weit in die Neuzeit hinein wiedererkennbare Gestalten des Theaters waren, aber eben auch solche des Alltags. Oder man denke an Konstitutionstypen wie den Choleriker, den Sanguiniker, den Melancholiker. Keineswegs wurden also vor der Mitte des 19. Jahrhunderts nur Handlungen betrachtet und von diesen auf Urheber geschlossen, sondern es wurden durchaus auch wiedererkennbare Handlungsmuster als Merkmale von konstanten Typen verstanden.
In diesem Sinne mag auch der Sodomit je und je als Vertreter eines bestimmten Typus gefasst worden sein. Aber so typisch sein Verhalten auch scheinen mochte, es begründete keine „Spezies“; es war immer noch das Verhalten, das den Menschen charakterisierte, und nicht, wie beim Homosexuellen, das „innere Wesen“, das das Verhalten bestimmte. Was sich mit dem moderne Konzept veränderte, war also nicht, dass fortan nicht mehr Handlungen betrachtet wurden, sondern ein Sein analysiert, sondern dass das Verhältnis von Handlungen und Sein neu bestimmt wurde. Ein Sodomit zu sein hieß nichts weiter, als homosexuell zu handeln. Ein Homosexueller aber braucht gar nicht zu handeln, um homosexuell zu sein. Sein „wahres Sein“ zeigt sich nicht unbedingt in dem, was er tut, sondern in dem, was ihm von den Experten (also den Psychologen und Psychiatern) als Motiv seines Handelns zugeschrieben wird.
Der „Fehler“, von dem Louis Compton schreibt, existiert also nicht. Es ist sinnlos, „persons“ gegen „sexual acts“ ausspielen zu wollen, da es immer um beides, vor allem aber um das Verständnis ihres Verhältnisses geht. Es gibt also auch keinen Grund, gegen Foucaults brillante Formel zu polemisieren. Im Gegenteil, mit „Geschichte der Homosexualitäten“ befasste Fachhistoriker und historisch interessierte Laien sind gut beraten, sich am foucaldischen Diskontinuitätsdenken zu orientieren, wenn sie nicht Gefahr laufen wollen, überall Homosexuelle (im modernen Sinne) zu sehen, wo sich zum Beispiel allenfalls Sodomiten zeigen.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen