Samstag, 17. Februar 2024

Wir denken nicht, uns gibt es nicht

„Wie kann ein Philosoph, der im Jahr 1724 geboren wurde, unser Denken heute maßgeblich beeinflussen?“ Ich verstehe die Frage nicht. Was hat das Geburtsjahr eines Philosophen mit seinem Einfluss zu tun? Muss einer denn in etwa in unserem Alter sein, um uns und unsere Lage verstehen zu können? Weil wir so besonders sind?
Wer sind überhaupt wir? Und was soll „unser Denken sein“? Haben „wir“ alle bloß ein Denken, denken wir alle auf dieselbe Weise, kommt bei uns beim Denken immer dasselbe heraus?
Ich weiß schon, dass die Neigung, das Derzeitige über alles Frühere zu stellen, bestimmend ist. Dass die Angewohnheit, Menschen in Generationen und Epochen einzuteilen und gegen einander abzuschließen, heutzutage vorherrscht. Und dass diffuse Kollektive regelmäßig durch die unübersichtliche Vorstellungswelt nicht erst meiner Zeitgenossen geistern.
Aber einem halbwegs klar denkenden, halbwegs gebildeten Menschen kann doch nicht verborgen geblieben sein, dass zu keiner Zeit alle Menschen (nicht einmal die einer Gesellschaft) alle dasselbe auf dieselbe Weise dachten und dass Philosophie ein unabschließbarer Prozess ist, in dem es Moden und Konjunkturen geben mag, indem aber ein Autor oder, richtiger, seine Texte, wenn sie je etwas zu sagen hatten, immer und so auch „heute“ noch etwas zu sagen haben, dass aber das Urteil darüber, ob dem so ist und worin das Gesagte besteht und was es wem bedeutet, immer nur Teil besagten Prozesses sein kann, also ein im Wesentlichen unabschließbares Unternehmen, bei dem das Frühere sich schwerlich als endgültig erledigt und das Aktuelle sich schon morgen als überholt erweisen kann.
Nur wo eigentlich gar nicht mehr gedacht, sondern Philosophie nur noch simuliert wird, wo Philosophaster kommerziell orientierte Spektakel anbieten, gibt es so etwas wie ein „Wir denken“ und ein „Uns beeinflusst“. Gewiss, man kann Archäologie der Gegenwart betreiben, um herauszufinden, warum die, die heute denken, so denken, wie sie denken, und aufzeigen, dass sie auch anders denken könnten, weil ja auch früher schon anders gedacht wurde. Aber dabei darf man analytische Konstruktionen nicht zu überzeitlichen Popanzen aufblasen und sollte stets gewärtig sein, dass heute schon morgen gestern sein wird.
Wenn einer zu seiner Zeit so und so gedacht hat, weil das zu den Bedingungen seiner Zeit passte, dann ist dieses Denken, sofern die Bedingungen gleich oder ähnlich geblieben sind, im selben Maße immer noch zeitgenössisch. Ob das gut oder schlecht ist, ist eine andere Frage. Wer 1724 geboren wurde, mag eine mit dem Kapitalismus seiner Zeit kompatible Philosophie vorgelegt haben. Da der Kapitalismus immer noch besteht, sich im Wandel gleich bleibend und sein Prinzip ― Profit über alles ― stets bewahrend und durchsetzend, wird besagte Philosophie, zumal wenn das damals bloß Zeitbedingte ins heute bloß Zeitbedingte übersetzt wird, noch mehr oder minder passend sein. Wenn einer aber 1724 geboren worden war und sich zum entschiedenen Gegner von profitwirtschaftlicher Ausbeutung, Zerstörung und Verdummung ausgebildet hatte, wird er schon damals erfolglos und unbekannt gewesen sein und seine Schriften, so noch zugänglich, werden auch heute nur die beeinflussen können, die seine Gegnerschaft teilen wollen.
Wir denken nicht. Uns gibt es gar nicht. Die Leute werden zu allen Zeiten von dem beeinflusst, was sie für ihre Zeit halten, wie auch von dem, was weit über ihre Zeit hinausgeht. Darüber kann man mal nachdenken. Aber darüber nachzudenken, ob „ein Philosoph, der im Jahr 1724 geboren wurde, unser Denken heute maßgeblich beeinflussen“ kann, ist völlig sinnlos.

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