Sonntag, 24. Juli 2022

Abschied von der Homosexualität

Wahrscheinlich bin ich einfach zu alt. Ich kann mich noch an Zeiten erinnern, in denen es unter politisch bewussten Schwulen als unterdrückerische Unverschämtheit galt, wenn nach Ursachen für Homosexualität gefragt wurde. Heute, wo es keine Schwulen und keine Homosexualität mehr gibt, sondern nur noch „queere Menschen“ (und die je länger desto mehr ins Reich der Fabel gehörenden heterosexuellen Cismänner und Cisfrauen), brauchen solche Fragen gar nicht mehr gestellt zu werden, weil in jedem Fall vorab entschieden ist: I’m born this way. Wo das überhaupt noch reflektiert wird, gilt das Dogma: Es liegt alles am Gehirn.
Der Zerebralismus (also die Reduktion des Menschen auf „sein“ Gehirn) ist in Zeiten wie diesen die populäre Erklärung für alles. Offensichtlich gibt es jetzt ― nach Jahrzehnten feministischer Gegenbehauptung ― doch wieder männliche und weibliche Gehirne, die allerdings in falschen Körpern stecken können (m. in w., w. in m.); wobei es etwas rätselhaft bleibt, wie dieselbe genetische Ausstattung das Hirn und den Restkörper verschieden vergeschlechtlichen kann … Jedenfalls sind anscheinend manche Gehirne auch „inter“ und es muss wohl auch hetero-, bi- und homosexuelle Hirne geben.
Der Zerebralismus ist die biologistische Variante des Calvinismus (was sich aus der US-amerikanischen Herkunft des Queer-Geschwätzes erklärt). So wie in der protestantischen Häresie die Menschen zu Himmel oder Hölle vorherbestimmt sind, ihre Taten also aus ihrem Sein folgen ― während nach katholischer Lehre die Handlungen eines Menschen diesen zum Heiligen oder zum Sünder machen, also das Tun und Lassen das Sein bestimmt, nicht umgekehrt ―, so wurde im Zuge der konzeptuellen Amerikanisierung schließlich Homosexualität nicht mehr als homosexuelle Aktivität (also Sex von Männern mit Männern) bestimmt, sondern als Homosexuellsein der Homosexuellen quasi naturalisiert ― was etwaige homosexuelle Handlungen und Wünsche von Nichthomosexuellen als unnatürliche Verfehlungen erscheinen lassen muss; es sei denn, man behilft sich mit der reichlich verwaschenen Kategorie der „Bisexuellen“ (wobei Bisexualität nicht mehr, wie früher, eine prinzipielle Offenheit jedes Menschen meint, sondern ein bestimmtes Sein bestimmter Menschen). Von einer „homosexuellen Phase“ (in der Jungend) oder einer „Nothomosexualität“ (Gefängnis, Militär) ist schon lange keine Rede mehr. Wer es mit Personen gleichen Geschlechts treibt oder treiben will, soll gefälligst zu seiner inneren Wahrheit stehen und sich outen. Wer Schwules treibt, ist eben schwul, basta.
Nur dass es eigentlich längst gar keine Schwulen mehr gibt. Lediglich den Buchstaben G in der trüben Brühe der LGBTICQsternchen-Buchstabensuppe. Früher sollte „queer“ etwas bezeichnen, was irritierend außerhalb der Norm steht, etwas kategorial nicht Fassbares und Nichtidentes. Heute ist „queer“ zum identifizierenden Attribut und essenziellen Kollektivnamen für Angehörige einer „community“ geworden, die angeblich homo (L und G), bi (B), trans (T), inter (I), neugierig (C), queer (Q) und alles mögliche andere (Asteriskus) umfasst, also bloß nicht die (siehe oben) cis und hetero Fabelwesen, aber vielleicht sogar die. Ich weiß nicht, ob es diese Gemeinschaft/Gemeinde (das englische Wort ist uneindeutig) außerhalb des politischen Imaginären selbsternannter Avantgarden wirklich gibt, ich gehöre ihr jedenfalls nicht an. Ich bin ein Mann, der auf Männer steht, all die anderen Phänomen haben mit mir genauso wenig zu tun wie klassische Heterosexualität. Aber damit bin ich vermutlich zum Aussterben verurteilt wie ein Dinosaurier.
Auf der Höhe der Zeit, auf der ich nicht bin, ist freilich alles gerade ein bisschen kompliziert. Zwar scheinen die in „queer“ zusammengefassten Begriff wie „schwul“ (Mann mit Mann), „lesbisch“ (Frau mit Frau), , „trans“ (Mann zu Frau, Frau zu Mann), „inter“ (mit männlichen und weiblichen Geschlechtsmerkmalen) relativ stabil die gute alte Zweigeschlechtlichkeit vorauszusetzen ― wie könnte sonst zum Beispiel ein im falschen, nämlich weiblichen Körper geborene Person „in Wahrheit“ ein Mann sein? ―, aber tatsächlich ist, so die neueste Dogmatik, alles doch wieder anders, es gibt gar keine festgelegten Geschlechter (außer als repressive soziokulturelle Normativität) oder es gibt beliebig viele davon. Alles fließt, hat man beschlossen, oder doch immerhin manches oder wenigsten einiges, und Genderfluidität und die sich scharf von Binarität abgrenzende Nicht-Binarität sind in diesem neuesten Süppchen en vogue.
Etwas mysteriös bleibt, wie ein solches diverse Identitäten stiftendes Fließen irgendwelche Gemeinsamkeiten konstituieren und abgesehen von Paraden und anderen Partys ausleben lassen kann. Zumal das, was früher einmal politische Bewegung sein wollte, anfangs noch ausdrücklich etwas mit Begehren und Sexualakten zu tun hatte, aber längst niemand mehr auf „bloß Sexuelles“ festgelegt werden will. Praktizierte Sexualität ist wieder unpolitisch geworden und eher Thema von Pornographie, Versandhandel und Ratgeberformaten. Je bunter und vielfältiger hingegen das öffentliche Auftreten der „community“, desto asexueller. Das ist auch kein Wunder: Einerseits beansprucht man, genau so spießbürgerlich zu sein wie die immer noch als Mehrheit fabulierten geschlechtsstabilen Heterosexuellen, mit einvernehmlichem Erwachsenensex, „Ehe für alle“, angeschafftem Kind und Bausparvertrag. Andererseits ist die mehr oder minder schrille Tunte immer noch die populärste Repräsentation der systemimmanenten Abweichung. Dieses Paradoxon von Grau und schreiend Bunt verkörpert „queer“ heutzutage perfekt.
Was aber hat ein Mann, der auf Männer steht, mit Frauen, die auf Frauen stehen, zu tun, außer dem Formalismus in der Formulierung „gleiches Geschlecht“? Was mit einem Mann, der früher mal eine Frau war (nein, immer schon eine war!), oder einer Frau, die früher mal usw.? Was mit Zwittern, die nicht mehr so heißen dürfen? Was mit Nichtbinären, Genderfluiden und Asexuellen? Eigentlich nichts. Aber das darf er nicht allzu laut sagen, weil er damit hinter „queer“ zurückfällt.
So oder so: Ein altes Problem ist gelöst, um nicht zu sagen: liquidiert. Der ewige Skandal, dass Männer Männer begehren und es mit ihnen treiben könnten, eine Zeit lang unter dem Titel „Homosexualität“ (früher Sodomie, Päderastie usw.) abgehandelt, ist definitiv beseitigt. Erstens gibt es streng genommen gar keine Männer mehr. Und wenn zweitens doch, sind sie (zerebral) Frauen oder zumindest irgendwie weiblich oder weder noch oder auf jeden Fall nicht mehr eindeutig. Einerseits gibt es ein wahres Geschlecht (alles andere wäre respektlos gegenüber Menschen im oder nach dem Transitionsprozess) und das Gehirn sagt, welches. Andererseits gibt es gar kein richtiges Geschlecht (sexus), sondern ganz viele davon oder etwas Uneindeutiges und Flüssiges, das sagt vermutlich auch das Gehirn in seiner Diskussion mit Hormonen, Genen, Geschlechtszellen, und ansonsten gibt es nur ein soziales und kulturelles Geschlecht (genus), das einerseits willkürlich festgelegt ist, andererseits von nahezu natürlicher Verbindlichkeit ― sonst müssten ja zum Beispiel Männer, die eigentlich Frauen, und Frauen, die eigentlich Männer sind, im Zuge der Angleichung an ihr „wahre Geschlecht“ die Genus-Normen nicht üblicherweise so penibel einhalten.
Ein Mann, der auf Männer steht, ist gleich doppelt antiquiert und zudem etwas bedenklich, da Männlichkeit eigentlich nur noch als toxische vorkommt. Er ist aus der Mode. Vermutlich trauert er dem Patriarchat nach. Seine „Steckverbindung“ ist nur noch eine von vielen und in ihrer Altbackenheit ein bisschen lächerlich. Wer hingegen auf der Höhe der Zeit ist, weiß, dass es viele Geschlechter und viele Verbindungen gibt. Und das, obwohl man (siehe oben) trotz allen Geredes und aller Sprachregelungen aus der Zweigeschlechtlichkeit nicht wirklich herausgekommen ist. Noch immer wird man nämlich, wenn man (außerhalb gewisser inszenierter Sonderfallzonen) Menschen begegnet, in jedem Fall eine Zuordnung zu einem der beiden Geschlechter vornehmen können und, unter Anwendung weiterer Kategorien der Attraktivität, sein zumindest potenzielles Begehren daran orientieren. Es ist eben einfach nicht wahr, dass Selbstverhältnis und Vorlieben beliebig sind und so formbar und steuerbar wie anderes Konsumverhalten auch. Es gibt immer noch Männer und immer noch werden Männer von Männern begehrt.
Allerdings hat die modische „Verqueerung“ dessen, was einmal Homosexualität war ― mannmännliches Begehren, mannmännliche Lust und Liebe ―, zur natürlichen Variante innerhalb eines in Regenbogenfarben schillernden Spektrums von Identitäten die Homosexualität um ihren Skandal gebracht. Sie ist nichts Besonderes mehr. Und damit, wie fast alles andere Sexuelle auch (außer Pädophilie, Inzest und Kannibalismus), wurde sie auch um ihr emanzipatorisches oder gar revolutionäres Potenzial geprellt. Wo es nur noch darum geht, partikuläre Anpassungsbedürfnisse und Normalisierungsphantasien als Sonderrechte durchzusetzen ― und nicht mehr um das, was einmal als Emanzipation galt: Rechte und Pflichten unabhängig von Identität und Orientierung zu haben ―, ist Gesellschaftskritik jenseits der Integration postperverser Normabweichungen in die bestehenden Verhältnisse gar nicht mehr vorstellbar. Es soll alles bleiben, wie es ist, man will bloß ungestört ein Teil davon sein. Darum soll bei passender Gelegenheit die Regenbogenflagge allüberall gehisst werden, vorzugsweise auf Gebäuden der Staatsmacht. Kommen Staat und Mehrheitsgesellschaft dem, was die medienaffinen Avangardisten als Interessen der Mitglieder der „community“ definieren, entgegen, gibt es keinen Grund mehr, gesellschaftliche Missstände, gar gesellschaftliches Unrecht zu kritisieren, weder lokal noch global, zumindest nicht aus der Sicht eines grundsätzlich anderen, unangepassten, unvereinnahmbaren Begehrens. ― Wer also trotz des hegemonialen Projekts der Fluidität (politisch-ökonomisch gesprochen: der totalen Warenförmigkeit und der kontrollierten Verfügbarkeit) immer noch darauf besteht, ein Mann zu sein, der auf Männer steht, ist überflüssig und wird verschwinden wie ein Schneemann in der Mikrowelle.

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