Freitag, 23. September 2022

Helmut Kronstetter: Rezension von Stefan Broniowskis „Romans Erzählungen“

Dieser Roman ist misslungen. Falls man überhaupt von einem Roman sprechen kann, also einem Beitrag zur narrativen Belletristik. Oder handelt es sich lediglich um eine lose und wirre Aneinanderreihung von Sätzen? Aber der Verfasser hat seinem Text die Bezeichnung „Roman“ gegeben, also belassen wir es fürs Erste dabei.
Ob ein literarischer Text gelungen oder misslungen ist, bemisst sich selbstverständlich zunächst und vor allem an seinen eigenen Ansprüchen und daran, ob und wie er diesen gerecht wird. Welches die Ansprüche des vorliegenden Textes sein könnten, bleibt unerfindlich. Die herkömmlichen Ansprüche eines Romans scheinen es jedenfalls nicht zu sein, es soll offensichtlich nicht eine Geschichte (oder auch mehrere) erzählt werden, von irgendeinem Anfang zu irgendeinem Ende, mit Haupt- und Nebensträngen des Erzählens, mit Haupt- und Nebenfiguren, mit mehr oder minder anschaulichen Beschreibungen und anregenden Gedanken.
Schon der Titel des Textes ist fragwürdig. „Romans Erzählungen“ ― soll das heißen, dass jemand namens Roman erzählt (hat), oder aber, dass ein literarisches Werk erzählt (wird) oder aus Erzählungen besteht? Soll also die erste oder die zweite Silbe von „Roman“ betont werden? Der Verfasser scheint beides für möglich zu halten und nichts von beidem zu bestätigen. Oder sogar beides. Fast scheint es überflüssig zu erwähnen, dass im ganzen Roman keine Figur namens Roman vorkommt, außer an der einen Stelle, an der erwähnt wird, dass im ganzen Roman an keiner Stelle eine Figur namens Roman vorkommt …
Die sichtbare Gliederung des umfangreichen Textes ist ausgesprochen bizarr: 153 Kapitel mit, man kann es nachzählen, insgesamt 969 Abschnitten. Dabei dürfte irgendeine Zahlensymbolik eine Rolle spielen, auch wenn man ohne weitere Hinweise (die es nicht gibt) nicht erraten kann, welche. Die Abschnitte sind von unterschiedlicher Länge und also auch die Kapitel. Kaum einmal haben zwei aufeinander folgende Abschnitte etwas miteinander zu tun, die Gliederung in Kapitel scheint zudem willkürlich. Sowohl die Verteilung der Figuren, der Erzählweisen und der Themen und Motive scheint zwar irgendeiner vorab ausgeklügelt Ordnung zu erfolgen, aber es bleibt beim besten Willen völlig unerkennbar, welcher. Der Verfasser dürfte es darauf angelegt zu haben, durch gewisse formale und inhaltliche Festlegungen möglichst große Unordnung zu erzeugen. Das immerhin ist ihm recht gut gelungen.
Der Stil, die Sprache, die Machart des Textes sind mehr oder minder gleichförmig. Eher schlicht als elaboriert, eher grau als vielfarbig. Die eingestreuten Darstellungen sexueller Handlungen zum Beispiel, allesamt übrigens solcher zwischen Männern, sind weit entfernt davon, pornographisch zu sein, dafür sind sie zu wenig erregend, zu wenig plastisch, zu wenig an die Affekte des Leser appellierend; und das gilt mutatis mutandis für alle übrigen Textstücke auch: Es wird nicht unmittelbar die Vorstellungs- und Einbildungskraft oder das Einfühlungsvermögen des Lesers angesprochen, sondern lediglich an den Intellekt appelliert. Die Texte schwanken dabei zwischen Ironie und Naivität, ohne dass die eine von der anderen immer zu unterscheiden wäre.
Nebenbei: Was der Sinn besagter „Sexszenen“ sein soll, bleibt völlig offen. Sie stehen wie Fremdkörper zwischen den Textstücken. Ein Zusammenhang mit anderem Erzählten lässt sich nahezu nie herstellen. Und wenn doch, lässt sich kaum sagen, worin er bestehen und was er zum Ganzen beitragen soll. Geht es um Sagbarkeit und Unsagbarkeit? Die Ausstellung von Intimität, um sie umso besser hinter Wörtern zu verbergen? Die Darbietung reiner Akte, die ansonsten nichts mit dem Roman zu tun haben?
Jedenfalls trägt der Sex zur Romanhandlung nichts bei. Wie auch? Es gibt ja gar keine wirkliche Handlung des Romans, auch wenn sich etwa anhand wiederkehrender Figuren gewisse Handlungsstränge abzeichnen; geht man dem freilich im Detail nach, erkennt man allerhand Lücken und Widersprüche. Man könnte auch von einem Durcheinander schier unzähliger Erzählungen sprechen, die oft irgendwo anfangen, ohne irgendwo zu enden. Oder die enden, ohne je richtig begonnen zu haben. Im Roman selbst ist von Romanen die Rede, die, wenn man es richtig versteht, Teile des Ganzen sind; vielleicht handelt es um mehr oder minder nicht zu Ende gebrachte Texte des Verfassers, die er hier sozusagen einer Resteverwertung zugeführt hat. Dagegen wäre für sich genommen nichts einzuwenden. Nur dass die Reste, wenn es denn welche sind, zu nichts Halbem und nichts Ganzem verarbeitet wurden, sondern nahezu beliebige Einlagen in der trüben Suppe des Gesamtromans bilden.
Es gibt keine Handlung des Romans, so könnte man es also auch formulieren, weil es zu viele gibt. Ein Junge verliebt sich in einen anderen, ein älterer Mann in einen jüngeren, der ihm aber merkwürdig fern bleibt, einer unternimmt Reisen mit einem seltsamen Wissenschaftler, ein anderer mit einem nicht weniger seltsamen osteuropäischen Aristokraten, zwei phantastischen Gestalten, wie sie im Buche stehen, ein weiterer gerät in allerhand seltsame Situationen, die ihn einem Geheimnis auf der Spur sein lassen, vier junge Ratten erleben diverse Abenteuer und werden zu Helden, einer findet sich in einer fremden Welt wieder, bestaunt deren Andersheit und besteht einen großen Kampf. So weit so banal. Man meint, irgendetwas davon schon gelesen zu haben, nur besser, weil eindrucksvoller und mitreißender erzählt. Und vor allem vollständig ausgeführt und nicht so bruchstückhaft, lückenhaft, ungereimt.
Aber um seine Geschichten, und neben den eben erwähnten gibt es noch jede Menge anderer, schert sich der Roman nicht eben viel. Er kümmert sich sozusagen ausschließlich um sich selbst. Wenn es in diesem Text überhaupt ein durchgehaltenes Thema gibt, dann ist das das Schreiben als solches und das Schreiben von Romanen im allgemeinen und des vorliegenden Romanes im besonderen. Der Ort dafür ist vorzugsweise irgendein Kaffeehaus. Man könnte sich vorstellen, einer habe über längere Zeit nichts anders getan, als alles aufzuschreiben, was ihm, im Café sitzend, durch den Kopf ging, wozu dann eben nicht zuletzt das Nachdenken über das Schreiben und das Nachdenken über das Nachdenken gehört hat …
Der Verfasser interessiert sich nicht im mindesten für die Figuren, die er vorkommen lässt. Keine von ihnen wird anschaulich, zumal kaum eine überhaupt auch nur beschrieben oder charakterisierend vorgestellt wird. Die meisten haben mehr oder minder dieselbe Sprechweise, die die Schreibweise ihres Erfinders sein dürfte. Der damit seine Figuren einfach zu austauschbaren Sprachrohren dessen macht, was er zufällig gerade sagen will. Darum sind es lauter Papiertiger und Pappkameraden, keine Vorführungen von Menschen aus Fleisch und Blut ― aber das auch das sagt eine von ihnen, wenn der Rezensent sich richtig erinnert, an irgendeiner Stelle ganz ähnlich schon selbst.
Der Roman ist nicht welthaltig, weil die einzige Wirklichkeit, die er zu kennen scheint, die des Gespräches ist, wohl eines Selbstgespräches mit verteilten Rollen, eines Gespräches, in dem es nur um das Sprechen und Gesprochenhaben als solches geht. Zwar werden im Roman viele Orte erwähnt, allerhand europäische Städte werden als fast austauschbare Schauplätze herumgereicht, aber im Grunde verlässt das Erzählen nie den Kaffeehaustisch, an dem es sich so gemütlich sitzen und über Gott und die Welt philosophieren lässt.
Ein Philosophieren und Theologisieren, nebenbei bemerkt, das dem Rest des Textes mehr oder minder willkürlich untergeschoben wird und sich allzu häufig nicht organisch mit ihm verbindet. Was allerdings für andere Textsorten, die in diesem, sit venia verbo, Sauhaufen von einem Roman vorkommen, ebenfalls gesagt werden muss.
Kurzum, es gibt schon deshalb keine Handlung und kein Thema des Romans, weil es im strengen Sinne keinen Roman gibt. Nichts rundet sich, weniges verknüpft sich, es gibt Andeutungen von Zusammenhängen, aber das können auch falsche oder zumindest verwischte Spuren sein und nichts kommt zu einem befriedigenden Abschluss. Dazwischen taucht allerhand erratisches Material auf, von dem schwer zu sagen ist, welche Funktion es hat, wenn es denn überhaupt eine haben soll. Nämlich eine andere als die, gewollt funktionslos zu sein.
Gegenstand des Romans, könnte man großzügigerweise sagen, ist das Stattfinden des Romans selbst. Soll man dieses Spiel der Selbstreferenzialität als postmodern deuten? Oder als postpostmodern? Gar postpostpostmodern? Handelt es sich um ein Erzählen und Nichterzählen um des Nichterzählens und Erzählens willen? Aber was soll das? Warum schreibt man derlei? Nur, um es geschrieben zu haben? Doch warum und wozu soll jemand das lesen?
Je mehr man sich in solche Fragen verstrickt lässt, desto mehr scheint man sich in den Roman selbst zu verstricken. Als ob der Rezensent auch nur eine weitere Figur des Textes wäre, wie es schon der Verfasser und der Leser ausdrücklich sind, ja sogar die Erzählung selbst tritt in der „Romans Erzählungen“ als Figur auf. Wenn diese blutleeren Gedankenspiele genau das waren, worauf der Verfasser hinauswollte, dann ist es ihm gelungen. Sein Roman ist, grobianisch gesprochen, eine einzige Hirnwichserei, ein intellektualistischer Amoklauf, ein Unterlaufen literarischer Normen und Konventionen auf gar nicht so hohem Niveau. Im Ansatz, wie man wird zugeben müssen, nicht unbedingt neu, dafür in der Ausführung erstaunlich kunstlos. So gesehen wären die Ansprüche, die der vorliegende Text für sich formulieren könnte, vollkommen erfüllt und der Roman durch und durch gelungen
 
Helmut Kronstetter ist ein Pseudonym Stefan Broniowskis. Den Roman „Romans Erzählungen“ gibt es allerdings wirklich.

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