Und dann war es endlich so weit. Das Gerät war vielfach in der Praxis erprobt worden und konnte serienmäßig in großer Stückzahl hergestellt werden, ja die Produktion hatte längst begonnen, die Lager waren bereits voll und alles logistisch Notwendige von der Auslieferung bis zur Einsetzung war vorbereitet. Es konnte jederzeit losgehen. Es brauchte nur noch die endgültige gesetzliche Regelung. Aber die durfte wohl kaum lange auf sich warten lassen.
Das Gerät hatte schließlich nur Vorteile. Weil es so winzig war, hatte es den Spitznamen das Körnchen bekommen. Seine Einsetzung war nur ein kleiner Eingriff, man spürte nichts, der menschliche Organismus vertrug es gut und es musste nie erneuert werden. Nach der Einführung, die wahlweise über die Nase oder die Augen geschehen konnte, begab es sich von selbst an die richtige Stelle im Gehirn, verband sich mit diesem und blieb, wo es war. Seine Energie gewann es aus denselben Strömen des Gehirns, die es steuerte.
Die Herstellung des Gerätes war zugegebenermaßen nicht ganz billig, schon wegen der hohen Lizenzkosten, aber da es sich nie abnutzte und pro Person nur ein Gerät benötigt wurde, war es doch insgesamt ein gutes Geschäft: neun Milliarden mal ein paar Tausend Dollar, das waren bloß ein paar Billionen Dollar, das konnte alle Nationalstaaten zusammen oder später der Weltstaat schon verkraften; denn selbstverständlich war die weltweite Einführung zweckmäßig, ja sachlich geboten, wenn das Körnchen seine volle Wirkung entfalten sollte.
Das Gerät, das offiziell Zerebalkybernetischer Regulator hieß, griff so in das Nervensystem ein, dass alle schlechten Gefühle wie Wut, Angst, Trauer und dergleichen, schon ausgeschaltet wurden, bevor sie auch nur aufkommen konnten. Wer das Körnchen in sich trug, war unfähig zu Hass und Aggression, er konnte einfach nichts Böses mehr tun. Er konnte auch nicht lügen, das Körnchen ließ jeden unweigerlich die Wahrheit sagen, wenn er von einer befugten Person mittels besonderer Geräte, die das Körnchen ihrerseits steuern konnten, befragt wurde. Befugt waren die Mitarbeiter von Universal Harmony and Brain Security, der Firma, die das Körnchen entwickelt hatte, es produzieren ließ und es im Auftrag der Behörden einsetzen und anwenden würde.
Die Entwicklung des Gerätes hatte Jahre gedauert, der heiß ersehnte Durchbruch lag noch nicht lange zurück. Nach den obligatorischen Tierversuchen war das Körnchen dann zuerst auf freiwilliger Basis bei verurteilten Straftätern ausprobiert worden, mit sensationellen Ergebnissen. Aus brutalen Mördern etwa wurden binnen kürzester Zeit umgängliche, freundliche, hilfsbereite Kerle, die gar nicht mehr verstehen konnten, warum sie ihre Verbrechen begangen und oft schon seit ihrer Kindheit ein Leben voller Gewalt geführt hatten. Auch verurteilte Wirtschaftskriminelle verwandelten sich mit dem Körnchen im Gehirn in Menschen mit gesundem moralischem Urteilsvermögen und einem erstaunlichen Mangel an Gier.
Tatsächlich aber ließ sich das Körnchen nicht nur zur Ausschaltung von Gefühlen und Gedanken und zur Löschung von Erinnerungen verwenden, sondern umgekehrt auch zur Erregung von Gefühlen, Vorgabe von Gedanken und Erzeugung von Erinnerungen. Wo es nötig war, etwa bei Naturkatastrophen oder bei Angriffen von außen, konnten sogar Aggressionen und die Bereitschaft zur Selbstaufopferung bewirkt werden. Durch das Körnchen würde endlich niemand mehr in seinem Denken, Fühlen und Handeln dem Zufall und der Willkür ausgeliefert sein, sondern jeder durfte sich nach rationalem Kalkül so gestalten lassen, wie es für alle am besten war. Der alte Traum der Menschheit von einem durch und durch guten, ehrlichen, hilfreichen, anständigen, fröhlichen Menschen, von einem friedlichen und produktiven Zusammenleben aller mit allen war kurz davor, Realität zu werden! Gab es etwas Wünschenswerteres? Nein, das konnte es gar nicht geben.
Das Körnchen hatte nach allem, was man wusste, nur Vorteile und keinerlei Nachteile. Ja, es gab eine Nebenwirkung. Aber nur eine unbedeutende. Man hatte nämlich bald sowohl bei Tieren als auch Menschen festgestellt, dass nach der Einsetzung des Körnchens binnen Wochen der Intelligenzquotient der Probanden rapide sank, bis er sich auf leicht unterdurchschnittlichem Niveau einpendelte. Allerdings fanden Wissenschaftler bald heraus, dass für sozialkonformes Verhalten ohnehin nur wenig Intelligenz nötig sei, während überdurchschnittliche Intelligenz in fast allen Fällen zu Asozialität führe, weil die Betroffenen sich für etwas Besseres als ihre Mitmenschen hielten. Weitere Nebenwirkungen waren nicht bekannt und völlig unwahrscheinlich.
Darum wurde das Körnchen vollen allen Seiten begrüßt. Es galt überall als die höchste Errungenschaft der Menschheit, als die technische Vollendung der Evolution, seine vollständige Ausbringung und Anwendung als das wichtigste Ereignis der Geschichte, als Beginn einer neuen, der endgültigen Stufe der Zivilisation.
Selbstverständlich hatte es anfangs auch Gegner gegeben, Wissenschaftler und Laien. Freilich stellte sich bald heraus, dass die zweifelnden Wissenschaftler allesamt Scharlatane oder Neider waren, die sich bloß wichtig machen wollten. Laien aber, die das Körnchen ablehnten oder zumindest Zweifel an seiner Sinnhaftigkeit anmeldeten, sogenannte Körnchenleugner, erwiesen sich bald als verwirrte und verhetzte Gegner jeglichen Fortschritts, als rückständige Stänkerer, zumeist esoterisch angehaucht und anfällig für Verschwörungstheorien, darunter nicht selten Rechtsextreme und Judenhasser. Von einer Kritik am Erfinder des Körnchens, Prof. Emmanuel Goldstein ― einst berühmt geworden mit seiner bahnbrechenden Schrift "The Theory and Practice of Nanorobotics", London 1984 ―, zum Glauben an die Protokollen der Weisen von Zion war es eben immer nur ein kleiner Schritt.
Mehrere Staaten hatten sich bereits gezwungen gesehen, Gesetze gegen antiwissenschaftliche Propaganda zu erlassen und sogar Körnchenleugnung explizit unter Strafe zu stellen. Dies war nötig geworden, um Unruhe in der Bevölkerung bis zu dem, was man umgangssprachlich die allgemeine Durchkörnung nannte, zu vermeiden. Sobald jeder sein Körnchen hatte, konnte es verständlicherweise zu keinen Unruhen mehr kommen.
Anfangs war an freiwillige Einsetzungen gedacht worden. Ohnehin musste ja jeder einsehen, wie vernünftig und segensreich das Körnchen war. Das sah nicht nur die Politik so, auch die Medien berichteten über fast nichts anderes als über die wunderbare Zukunft, die bevorstand, wenn alle endlich gekörnt wären. Dann aber hatte man durch Umfragen feststellen müssen, dass in der Bevölkerung gar nicht alle auch schon dieser Meinung waren, dass viele das Körnchen zwar nicht rundheraus ablehnten, aber selbst vorderhand nicht gekörnt werden wollten. Es war seltsamerweise wohl so, dass manche ihre Gefühle lieber nicht kontrolliert haben wollten, schon gar nicht durch ein kleines Gerät im Gehirn. Obwohl man alles tat, die Leute darüber aufzuklären, dass es nur zu ihrem Besten und zu dem der Allgemeinheit wäre, wenn sie sich kybernetisch entmündigen ließen, sank der Anteil Körnchenskeptiker nie unter 25 Prozent. Wissenschaftler aber hatten errechnet, dass erst ab einem Anteil von mehr als drei Vierteln der volle gesellschaftliche Effekt der zerebralkybernetischen Regulation eintrete.
Also musste man seitens der Politik umdenken. Wenn Freiwilligkeit und Vernunft im Widerspruch standen, dann musste eben Zwang angewandt werden. Das war nur vernünftig und moralisch einwandfrei, wie die Mitglieder von den Regierungen mancherorts eingesetzten Ethikkommissionen in sorgfältigen Gutachten nachwiesen, da ja nach der Einsetzung ohnehin alle der Einsetzung zustimmen würden. Allerdings erhoben nun ausgerechnet Juristen Einspruch. Gesetze, die die zwangsmäßige Einsetzung des Körnchens (außer in bestimmten Fällen erwiesener gemeingefährlicher Psychopathien) vorsahen, verstießen nach Meinung gewisser rechtsgelehrter gegen sämtliche bekannte Verfassungen, und zwar ausgerechnet gegen solche Bestimmungen, die als unabänderlich, weil vom Naturrecht vorgegeben galten, namentlich Bestimmungen über Menschenrechte.
An dem Punkt hakte es also. Aber es musste weitergehen. Das Körnchen war einsatzbereit. Es war ein Gebot der Vernunft, es rasch bei allen Menschen weltweit einzusetzen. Es war möglich und es war richtig, das zu tun, also sollte es getan werden. Fast alle führenden Politiker waren entschlossen, das Glück der Menschheit auch gegen antiquierte Gesetze durchzusetzen. Mehrere Philosophen hatten in zahlreichen Talkshows bewiesen, dass Naturrecht ohnehin nur ein Überbleibsel vergangener Zeiten war, als auch noch ein göttliches Recht angenommen wurde, das der menschlichen Gesetzgebung Schranken setzte. Wer aber glaubte heute schon noch an Gott? Wer das Körnchen hatte, brauchte keinen Gott mehr. Mit dem Körnchen würde vielmehr die ewige Seligkeit kommen, das Paradies auf Erden. Also musste es eingesetzt werden, koste es, was es wolle. Dafür würden die verantwortlichen Politiker schon sorgen. Die Geschichte würde ihnen Recht geben. ― In Goldsteins Labor und in der Chefetage der UHBS knallen die Sektkorken.
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