Freitag, 31. Juli 2020

Zur Paradoxie der schriftstellerischen Existenz

für Raimund Bahr
 
Das Schreiben ist ein paradoxes Geschäft. Einerseits ist man dabei notwendig allein. Denn gemeinsam einen Text zu verfassen, mag Paaren gelingen (den Gebrüdern Grimm, Marx und Engels, Adorno und Horkheimer, Fruttero & Lucentini) oder auch ein läppisches Gesellschaftsspiel abgeben. Für gewöhnlich aber ist der Schreibakt, auch schon das Ausdenken eines Textes, eine recht einsame Tätigkeit. Auf der anderen Seite kann man ja überhaupt nur schreiben, weil es Schrift und Sprache gibt (die man nicht erfunden hat), und man tut es, weil man längst Erfahrungen mit Belletristik oder Philosophie oder dergleichen hat, weil es also, anders gesagt, Menschen gibt, die auch schreiben und geschrieben haben und die lesen werden. Manche Autoren heben hervor, sie dächten beim Schreiben an keinen Leser; explizit mag das richtig sein, implizit ist jedes sprachliche Ereignis, das man produziert, adressiert, sonst wäre es ja gar nicht lesbar, wäre es grundsätzlich nicht verständlich. Einerseits also die notwendige Einsamkeit des Schreibens, andererseits die notwendige Verwiesenheit auf andere, solche, die man gelesen hat, und solche, die einen lesen werden (oder es könnten): Ohne jene kein Text, ohne diese keine Literatur. Voilà, das Paradoxon der schriftstellerischen Existenz.
Fast jeder, der irgendwann zu schreiben beginnt, der das Schreiben gar mehr oder minder zum Beruf machen möchte, bringt wohl den Kinderglauben mit, man müsse nur gut schreiben und Richtiges sagen, die Leute würden das dann schon irgendwann merken, und schließlich werde man mit dem, was man wolle und könne und mache, auch erfolgreich sein. Die Lebenserfahrung widerlegt freilich diese Illusion. Im Gegenteil, die Erfahrung lehrt, dass erwiesene Begabung und erhoffte Relevanz nicht genügen, dass sich also nicht keineswegs das durchsetzt, was man für gut gedacht und gut gemacht hält, für wichtig und richtig. Sondern Erfolg haben die, die den Publikumsgeschmack vorwegnehmen und nur so weit dem Konformismus der Masse widersprechen, dass ein gewisser exotischer Kitzel erreicht wird; erfolgreich sind zudem die, das ist von großer Bedeutung, die sich in den richtigen Institutionen bewegen und beizeiten Allianzen mit den richtigen Leuten bilden.
Wer das nicht kann oder will und nie wollte ― ich bin so einer ―, nämlich marktgerecht schreiben und sich systemkonform platzieren und vernetzen , dem geschieht es recht, dass er unbekannt bleibt und nur für sich und sehr, sehr wenige Leser schreibt. Er wird dann die kritisieren, die sich nach oben organisiert haben, und Recht haben. Aber man wird ihm umgekehrt nicht ganz zu Unrecht vorwerfen, dass er selbst auch gern Erfolg hätte, viele Leser, öffentliche Wahrnehmung, Lob und Tadel, womöglich ein Einkommen, Bekanntheit, ja Ruhm. Nur dass er eben nicht bereit war, den Preis zu bezahlen, das Schneckenhaus, den Elfenbeinturm, den Ponyhof zu verlassen, sich den Realitäten des Lebens zu stellen und seine Haut zu Markte zu tragen. Und man wird ihn heimlich oder ausdrücklich verdächtigen, dass er das nicht nur nicht wollte, sondern dass es auch nichts gebracht hätte, wenn er es versucht hätte.
Der isolierte, nur für die Schublade (oder den USB-Stick) Schreibende ist sozusagen die Reinform des Schriftstellers, unverdorben von jedem Kompromiss mit der Leserschaft und den Regeln des Betriebs. Andererseits ist die Frage, ob der, der nicht gelesen wird, überhaupt ein Schriftsteller ist, ob ohne die Bewährung in der Wahrnehmung der anderen überhaupt von Literatur die Rede sein kann. ― Wem so ergeht, der mag sich damit trösten: Hätte Brod auftragsgemäß Kafkas sämtlichen Nachlass verbrannt, der große Schriftsteller wäre heute völlig unbekannt und bestenfalls eine leicht zu überlesende Fußnote im längst vergriffen Übersichtswerk irgendeines eines auch schon längst vergessenen Spezialisten für pragerdeutsche Literatur des frühen zwanzigsten Jahrhunderts.
Notwendige Einsamkeit des Schreibens, notwendige Verwiesenheit auf andere: Zwei Seiten einer Medaille, die man drehen und wenden kann, wie man will, sie zeigt immer das Entscheidende.
Die eine Seite verführt manche Schreibende zur Wichtigtuerei, zur Aufblähung des Schreib-Egos, das in seiner Abgeschiedenheit zur unvergleichlichen Einzigartigkeit wird. Das übersieht die unabdingbare Notwendigkeit, von anderen zu lernen, vergibt die Chance, sich kritisierbar zu machen  und so dem Schreiben einen Sinn zu geben, der über Selbstbefriedigung hinausgeht.
Die anderer Seite bringt manchen dazu, nicht bloß durch die Qualität von Texten überzeugen zu wollen, sondern sich durch geschicktes Management so zu positionieren, dass, wenn schon nicht erreichbar wird ― welch kühnes Ideal! ―, vom Schreiben einigermaßen zu leben können, so doch es immerhin gelingt ― das ist auch schon viel! ―, allerhand Anerkennung einzuheimsen. Verlegt zu werden, besprochen zu werden, öffentliche Lesungen zu haben, Preise zu bekommen, erfüllt manchen mit tieferer Befriedigung als ein gelungener Text. Auf den es dann vielleicht schon nicht mehr ankommt.
Der Schreibende, zumal wenn er sich als Schriftsteller begreift, entkommt dieser Paradoxie nicht. Er sitzt fest zwischen zwei Stühlen. Schlicht gesagt: Ohne andere hat das Schreiben eigentlich keinen Sinn; aber schreiben muss man schon selber. Grobianisch gesagt: Schreibende sind egomanische Arschlöcher, die sich Lesenden aufnötigen wollen, in der Hoffnung, dass ihre Selbstsüchtigkeit als Grandosität verkannt wird. Romantisch gesagt: Erst wenn es in Herz und Hirn eines Gegenübers dessen Eigenständigkeit weckt, findet das Schreiben wirklich zu sich.

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