Aber ja doch, es stimmt, in der Russländischen Föderation liegt einiges im Argen. Die politischen, ökonomischen, kulturellen und nicht zuletzt ökologischen und sozialen Probleme sind vielfältig und erschreckend. Das herrschende „System Putin“ ist dabei keine Lösung, sondern selbst ein Problem. Demokratie und Justiz sind ein schlechter Witz, Opposition und freie Medien werden drangsaliert und marginalisiert und regierungsunabhängige Vereinigungen werden als ausländische Agenten diffamiert. Von der rücksichtslosen Ausbeutung der natürlichen Ressourcen abgesehen ist die Wirtschaft ineffizient und, wie Staat und Kulturbetrieb, geradezu sprichwörtlich korrupt. Seit dem Zusammenbruch der Sowjetherrschaft beruht das nationale Selbstverständnis nur noch auf der schieren Größe des Landes, auf dem immer noch monströsen, wenn auch miserabel verwalteten militärischen Potenzial und auf einer unappetitlichen Verharmlosung von Stalinismus und Breschnewismus. Die Kluft zwischen Reichen und Superreichen einerseits und schierem Elend wächst ständig. Für die enormen Umweltzerstörungen, die stattgefunden haben und immer noch stattfinden, fehlt das Problembewusstsein, geschweige denn ein Lösungsansatz. Kurzum, Russland ist ein ziemlich kaputtes Land und die Mehrheit seiner Bevölkerung kann einem leid tun.
Und dann auch noch das Gesetz gegen „Homo-Propaganda“, demzufolge es verboten ist, in Anwesenheit von Kindern und Jugendlichen positiv wertend über „nichttraditionelle sexuelle Beziehungen“, de facto also Homosexualität, zu sprechen. Da die Anwesenheit Minderjähriger in der Öffentlichkeit immer als gegeben vorausgesetzt wird, macht das Gesetz jede Artikulation schwulen oder lesbischen Selbstbewusstseins, jede Aufklärungsarbeit und in der Folge jede Organisation zu Beförderung von Aufklärung und Selbstbewusstsein unmöglich.
Dieses Gesetz und die breite Zustimmung, die es in der Öffentlichkeit zu erfahren scheint, sind eine üble, eine sehr üble Sache. Aber ich kann nicht erkennen, warum es eigentlich eine üblere Sache ist als zum Beispiel das hochgefährliche Verrotten des Atomwaffenarsenals oder die Austrocknung und Vergiftung des Aralsees, die alltägliche Polizeibrutalität oder der grassierende Alkoholismus, die Unterfinanzierung des Gesundheitssystems oder das erbärmliche Niveau der Löhne und Renten.
Und doch scheint das „Anti-Homo-Progaganda-Gesetz“ die Gemüter in der westlichen Welt weit mehr zu berühren als irgendein anderer Missstand in Russland.
Das Gesetz war noch nicht beschlossen, da wurden schon Rufe laut, wenn Putins Russland den Homosexuellen so etwas antue, dann müsse eben Putins Russland boykottiert werden. Das symbolische Wegschütten von Wodka, wie es in amerikanischen (und Berliner und Schweizer) Schwulenbars praktiziert wurde, war nur ein erster Schritt — in oft die falsche Richtung, weil eine der im Westen beliebtesten „russischen“ Wodka-Sorten von einer niederländischen Firma in Lettland produziert wird.
Zweiter Schritt war die Idee, die Olympischen Winterspiele, die im Februar 2014 in Sotschi am Schwarzen Meer stattfinden werden, müssten boykottiert werden. Eine großartige Idee, finde ich, wenn man sie richtig begründet. Mit der mörderischen russischen Kaukasuspolitik zum Beispiel oder all dem, was ich oben an russischen Miseren skizziert habe: Demokratische und rechtsstaatliche Defizite, ökologischer Irrsinn, soziale Kluft usw. usf. Es nur und ausschließlich mit Russlands Umgang mit Homosexualität zu begründen, scheint mir hingegen reichlich beschränkt.
„Mich stört dieser entsetzliche Narzissmus der Schwestern“, hat jemand das einmal formuliert (und ich habe es hier zitiert). In anderem Zusammenhang, aber aus meiner Sicht auch hier anwendbar. Es ist ja durchaus erfreulich, dass sich unter den westlichen Schwulen (und …) ein vielstimmiger und vielgestaltiger Protest gegen Wladimir Wladimorowitsch Putins Politik abzeichnet, aber warum erst und nur bei diesem einen Thema? So lange es die anderen sind, die man nicht zur eigenen „community“ rechnet, die kritischen Journalisten, die Rentner, die rechten und linken Oppositionspolitiker, die Umwelt- und Menschenrechtsgruppen, so lange es nicht ausdrücklich um Homosexuelles geht, sondern lediglich um allgemeine Probleme, so lange interessiert man sich nicht für Putins Politik. Oder tut man es in anderen Zusammenhängen, wo dann wiederum Homosexualität kein Thema ist? Als „LGBTIQ“ hingegen politisiert man sich anscheinend erst, wenn das eigene Selbstverständnis betroffen ist.
Auch das ist im Grunde Homonationalismus. So lange nämlich ein Staat, eine Gesellschaft sich „homofreundlich“ gibt, also die Existenz einer von den Heterosexuellen zu unterscheidenden Gruppe von Homosexuellen nicht leugnet oder bekämpft, so lange einschlägiger Kommerz und Konsum, Regenbogen- und Paradefolklore ungestört funktionieren, so lange erhebt man seitens der Lesbenundschwulen keinen grundlegenden Einwand gegen das System. Im Gegenteil, wo man geduldet und wo gefeiert wird, dort sieht man gern über sozusagen „sachfremde“ Missstände hinweg und gliedert sich willig in die große bunte Spaß- und Profitmaschine ein, deren Beruhen auf Ausbeutung und Unterdrückung man geflissentlich ignoriert. Sind Antidiskriminierungsvorschriften und bitte, bitte auch die „Homo-Ehe“ erst einmal in Aussicht gestellt oder gar verwirklicht, sind gesellschaftskritische Ansätze von offiziell organisierten Lesbenundschwulen nicht mehr zu erwarten.
Kurz gesagt, was eine brave LBGTIQ-Community ist, das will in die bestehenden Verhältnisse integriert, also Teil des jeweiligen nationalen Projektes sein, das heißt aber eben: Teil der herrschenden, also schlechten Verhältnisse. Einziges Kriterium ist die dabei anscheinend eigene Konsumfreiheit. Ist die gegeben, sieht man großzügig über jeden sonstigen Missstand, jedes sonstige Unrecht hinweg. Mehr noch, indem man die „Freiheit“ und „Toleranz“ der eigenen Nation feiert, unterstützt man in Wahrheit deren Verbrechen.
So scheinen z.B. in den USA diejenigen queers, die eine ausdrücklich kritische Haltung zum kapitalistisch-imperialistischen System einnehmen, eine verschwindende Minderheit zu sein; aber nicht zufällig sind diese in der Regel dann auch gegen die Homo-Ehe, gegen den Dienst in den Streitkräften, das Gefängnisunwesen usw. usf.
Ein (übrigens durchaus denkbarer) russischer Homonationalismus spielt derzeit hingegen keine Rolle. Vielmehr projizieren die westlichen Homonationalismen ihre konformistischen Konzepte auf Russland als deren Gegenbild. Als ob in den USA, Deutschland, Großbritannien, Frankreich usw. alles so zum Besten stünde, dass in diesen Horten der Freiheit Winter- oder Sommerspiele jederzeit stattfinden dürften, während man den zurückgebliebenen Russen erst einmal einbläuen muss, wo Gott wohnt.
So hat etwa der britische Schauspieler und Schriftsteller Stephen Fry an Premierminister David Cameron (und das Internationale Olympische Komitee) einen Offenen Brief geschrieben, in dem er die Olympischen Spiele von 1936 erinnert und ausdrücklich die nationalsozialistische Judenverfolgung mit dem Umgang des Putin-Staates mit Homosexuellen parallelisiert. Nun, nichts ist zu dumm und lächerlich, um nicht von irgendeinem Wichtigtuer als Argument vorgebracht zu werden. Fry dekretiert: „An absolute ban on the Russian Winter Olympics of 2014 on Sochi is simply essential.“ Es wäre ihm ausdrücklich lieber, die Spiele fänden z.B. in den USA statt. Anscheind sind Obamas Drohnenkriege im Unterschied zu Putins Antihomopolitik nicht disqualifizierend. „(Putin) is making scapegoats of gay people, just as Hitler did Jews.“ Und um sein Expertentum zu belegen, hält Fry fest, dass er schon mal in Russland war, schwul und und Jude ist. Wer kann ihm da noch widersprechen? Vielleicht jemand, der weder den britischen Regierungschef — „a man for whom I have the utmost respect“ [sic!] — noch das IOC für moralische Instanzen hält.
Um es ganz klar zu sagen: Die Olympischen Spiele sind ein rein kommerzielles Spektakel, das unter der Fassade von Buntheit und Völkerfreundschaft von den wirklichen Problemen dieser Welt ablenken soll. Als wäre es nicht völlig egal, ob irgendein chemisch präparierter Bioroboter („Athlet“) höher, schneller, weiter rennt, hüpft oder rodelt, während Millionen Mitmenschen im Elend vegetieren, verhungern, an heilbaren Krankheiten krepieren oder als Opfer von Kriegen. Und kein einziger der westlichen Regierungschefs, die doch allesamt Exekutoren dieser himmelschreiend ungerechten Weltordnung sind, kann als moralisches Gegengewicht zu Putin angesehen werden. Der Kriegstreiber Cameron schon mal gar nicht. (Dass und wofür Fry ihn lobt — „you showed a determined, passionate and clearly honest commitment to LGBT rights and helped push gay marriage through both houses of our parliament in the teeth of vehement opposition from so many of your own side. For that I will always admire you“ — ist ein Musterbeispiel narzissistischer Realitätsausblendung und eine gute Grundlage für Homonationalismus.)
Dass ich westlichen Politikern (und ihren devoten Bewunderern à la Fry) das Recht abspreche, Putin, mit dem sie ansonsten prima Geschäfte machen, wegen seiner schwulenfeindlichen Politik zu kritisieren, heißt selbstverständlich nicht, dass keine Kritik erlaubt und möglich ist. Aber man sollte sich an das halten, was wirklich stattfindet.
Die derzeitige Politik der Russländischen Föderation ist das Gegenstück zur derzeitigen Politik im Staat Israel. Gleichsam „Pinksmearing“ statt „Pinkwashing“. Während man nämlich für Israel damit wirbt, dass Tel Aviv ein ganz tolles schwules Nachtleben hat, und damit von Besatzung und Siedlungsbau, Alltagsrassismus und sozialem Verfall, Staatsterror und Völkerrechtsbruch abzulenken versucht, macht man in Russland einen auf dicke Hose, indem man westlichen Standards trotzt und der neumodischer Liberalität im Umgang mit Homosexuellen die gute alte Autorität repressiver Moral entgegensetzt. In beiden Fällen sind die Schwulen und Lesben dem Staat eigentlich völlig wurscht. Eine winzige Minderheit ohne reale Macht, aber mit hohem symbolischen Potenzial. Das kann man für sich verwenden. Während man in Israel jedoch die eigene Homofreundlichkeit vor allem fürs Ausland herausstreicht (und Umfragen zufolge etwa 46 Prozent der israelischen Bevölkerung Homosexuelle für pervers halten), brüskiert man in Russland hemmungslos das Ausland und punktet lieber im Inland (wo Umfragen zufolge 38 Prozent Homosexualität für moralisch verwerflich und weitere 36 Prozent für eine psychische Krankheit halten; 39 Prozent sollen dafür sein, Homosexuelle auch ohne gegen der Willen zu „therapieren“ oder von der Gesellschaft zu isolieren und vier Prozent möchten sie gerne „liquidieren“). Keineswegs geht es in Russland also primär um „staatlich verordnete Homophobie“, vielmehr wird eine gesellschaftlich bereits vorhandene Homosexualitätsfeindschaft vom Regime populistisch genutzt.
Das ist übel. Dagegen kann und soll man etwas tun. Aber man sollte die Homosexualitätsfeindschaft nicht zum isolierten Thema machen. Es gilt, intersektionell zu denken. „Homophobie“ ist nur eine weitverbreitete kritikwürdige Einstellung, eine andere ist zum Beispiel Rassismus. Tagtäglich wird Jagd auf „Schwarzärsche“ (Menschen aus dem Kaukasus) gemacht, und mit asiatischer oder afrikanischer Herkunft muss man in Russland jederzeit sehr auf der Hut sein. Sollen Lesbenundschwule sich sagen: Was geht uns das an? Das ist schließlich kein LGBTIQ-spezifisches Problem. Wer so denkt, zeigt, dass die herrschende Homopolitik eine der weißen, bürgerlichen Konformisten ist. Und das ist sie ja wohl tatsächlich …
Wer sich über Putins Gesetz gegen „Homopropaganda“ empört und einen Boykott von Sotschi 2014 fordert, muss sich fragen lassen: Wärst Du auch noch für den Boykott, wenn das Gesetz aufgehoben würde? Wäre dann aus Deiner Sicht alles in Ordnung? Der Rest interessiert Dich nicht?
Ich meinerseits bin für einen Boykott: Aber aus den richtigen Gründen! Weil Olympische Spiele, wo immer sie stattfinden, widerlich sind. Weil Russland ein autoritär geführter, seine schwerwiegenden sozialen, ökologischen Probleme nicht einmal eingestehender, geschweige denn angehender Staat ist. Ich bin aber nicht für einen Boykott wegen des Gesetzes gegen „Homopropaganda“; das sind übrigens die organisierten russischen Schwulen (und …) auch nicht: Weil sie wohl zu Recht vermuten, dass Boykottaufrufe des Auslands ihre Situation in Russland verschlimmern. (Siehe hier.)
Darum schließe ich mich dem unter Schwulen (und …) grassierenden Protest nicht an. Und schon gar nicht, wenn ausgerechnet Sportler und Sportfunktionäre dabei zu (potenziellen) moralischen Vorbildern stilisiert werden. Dieses Getue anlässlich der Leichtathletikweltmeisterschaften in Moskau um lackierte Fingernägel und einen „lesbischen“ Kuss, der dann doch keiner war, sollte allen eine Lehre sein. Menschen, deren Lebensinhalt darin besteht, völlig sinnlose körperliche Höchstleistungen zu vollbringen, sind schwerlich geeignete Ansprechpartner für ethische und politische Themen. Ich bedaure sie, die nichts Besseres zu tun haben, und ich verabscheue die, die ihnen zujubeln und sie für „Helden“ halten. Wie hirnlos muss man sein, um jemanden dafür zu feiern, dass er seinen Körper ruiniert hat, um irgendeine belanglose Tätigkeit ein paar Hundertstelsekunden schneller als ein anderer auszuüben?
Ich boykottiere seit 47 Jahren jede Form von Sport. Ich werde also auch Sotschi 2014 boykottieren, das versteht sich von selbst. Ich werde es ausdrücklich auch deshalb tun, weil jener Ort, dessen ursprüngliche Bewohner (Sadsen, Ubychen, Schapsugen) im 19. Jahrhundert von Russen massakriert, vertrieben oder assimiliert wurden, durch die Zurüstung für die Winterspiele massiver Umweltzerstörung ausgesetzt ist. Aber ich werde nicht in das selbstgerechte Geheul jener einstimmen, die die Russländische Föderation wegen ihrer Homofeindlichkeit anklagen, aber in Ländern, die außerhalb der Touristengebiete nicht weniger schwulenfeindlich sind als Russland, gerne Urlaub machen. Oder jener, die Putin (zu Recht!) für einen autoritären Pseudodemokraten halten, aber den Machthabern des Westens dankbar zu Füßen liegen, wenn sie bloß ein paar warme Worte für ihre lieben, braven Schwuchteln finden.
Keinen Fußbreit dem Homonationalismus! Keinen Homo-Boykott gegen Sotschi! Nieder mit dem Leistungssport!
Aber auf mich wird ja wieder keiner hören …
Und dann auch noch das Gesetz gegen „Homo-Propaganda“, demzufolge es verboten ist, in Anwesenheit von Kindern und Jugendlichen positiv wertend über „nichttraditionelle sexuelle Beziehungen“, de facto also Homosexualität, zu sprechen. Da die Anwesenheit Minderjähriger in der Öffentlichkeit immer als gegeben vorausgesetzt wird, macht das Gesetz jede Artikulation schwulen oder lesbischen Selbstbewusstseins, jede Aufklärungsarbeit und in der Folge jede Organisation zu Beförderung von Aufklärung und Selbstbewusstsein unmöglich.
Dieses Gesetz und die breite Zustimmung, die es in der Öffentlichkeit zu erfahren scheint, sind eine üble, eine sehr üble Sache. Aber ich kann nicht erkennen, warum es eigentlich eine üblere Sache ist als zum Beispiel das hochgefährliche Verrotten des Atomwaffenarsenals oder die Austrocknung und Vergiftung des Aralsees, die alltägliche Polizeibrutalität oder der grassierende Alkoholismus, die Unterfinanzierung des Gesundheitssystems oder das erbärmliche Niveau der Löhne und Renten.
Und doch scheint das „Anti-Homo-Progaganda-Gesetz“ die Gemüter in der westlichen Welt weit mehr zu berühren als irgendein anderer Missstand in Russland.
Das Gesetz war noch nicht beschlossen, da wurden schon Rufe laut, wenn Putins Russland den Homosexuellen so etwas antue, dann müsse eben Putins Russland boykottiert werden. Das symbolische Wegschütten von Wodka, wie es in amerikanischen (und Berliner und Schweizer) Schwulenbars praktiziert wurde, war nur ein erster Schritt — in oft die falsche Richtung, weil eine der im Westen beliebtesten „russischen“ Wodka-Sorten von einer niederländischen Firma in Lettland produziert wird.
Zweiter Schritt war die Idee, die Olympischen Winterspiele, die im Februar 2014 in Sotschi am Schwarzen Meer stattfinden werden, müssten boykottiert werden. Eine großartige Idee, finde ich, wenn man sie richtig begründet. Mit der mörderischen russischen Kaukasuspolitik zum Beispiel oder all dem, was ich oben an russischen Miseren skizziert habe: Demokratische und rechtsstaatliche Defizite, ökologischer Irrsinn, soziale Kluft usw. usf. Es nur und ausschließlich mit Russlands Umgang mit Homosexualität zu begründen, scheint mir hingegen reichlich beschränkt.
„Mich stört dieser entsetzliche Narzissmus der Schwestern“, hat jemand das einmal formuliert (und ich habe es hier zitiert). In anderem Zusammenhang, aber aus meiner Sicht auch hier anwendbar. Es ist ja durchaus erfreulich, dass sich unter den westlichen Schwulen (und …) ein vielstimmiger und vielgestaltiger Protest gegen Wladimir Wladimorowitsch Putins Politik abzeichnet, aber warum erst und nur bei diesem einen Thema? So lange es die anderen sind, die man nicht zur eigenen „community“ rechnet, die kritischen Journalisten, die Rentner, die rechten und linken Oppositionspolitiker, die Umwelt- und Menschenrechtsgruppen, so lange es nicht ausdrücklich um Homosexuelles geht, sondern lediglich um allgemeine Probleme, so lange interessiert man sich nicht für Putins Politik. Oder tut man es in anderen Zusammenhängen, wo dann wiederum Homosexualität kein Thema ist? Als „LGBTIQ“ hingegen politisiert man sich anscheinend erst, wenn das eigene Selbstverständnis betroffen ist.
Auch das ist im Grunde Homonationalismus. So lange nämlich ein Staat, eine Gesellschaft sich „homofreundlich“ gibt, also die Existenz einer von den Heterosexuellen zu unterscheidenden Gruppe von Homosexuellen nicht leugnet oder bekämpft, so lange einschlägiger Kommerz und Konsum, Regenbogen- und Paradefolklore ungestört funktionieren, so lange erhebt man seitens der Lesbenundschwulen keinen grundlegenden Einwand gegen das System. Im Gegenteil, wo man geduldet und wo gefeiert wird, dort sieht man gern über sozusagen „sachfremde“ Missstände hinweg und gliedert sich willig in die große bunte Spaß- und Profitmaschine ein, deren Beruhen auf Ausbeutung und Unterdrückung man geflissentlich ignoriert. Sind Antidiskriminierungsvorschriften und bitte, bitte auch die „Homo-Ehe“ erst einmal in Aussicht gestellt oder gar verwirklicht, sind gesellschaftskritische Ansätze von offiziell organisierten Lesbenundschwulen nicht mehr zu erwarten.
Kurz gesagt, was eine brave LBGTIQ-Community ist, das will in die bestehenden Verhältnisse integriert, also Teil des jeweiligen nationalen Projektes sein, das heißt aber eben: Teil der herrschenden, also schlechten Verhältnisse. Einziges Kriterium ist die dabei anscheinend eigene Konsumfreiheit. Ist die gegeben, sieht man großzügig über jeden sonstigen Missstand, jedes sonstige Unrecht hinweg. Mehr noch, indem man die „Freiheit“ und „Toleranz“ der eigenen Nation feiert, unterstützt man in Wahrheit deren Verbrechen.
So scheinen z.B. in den USA diejenigen queers, die eine ausdrücklich kritische Haltung zum kapitalistisch-imperialistischen System einnehmen, eine verschwindende Minderheit zu sein; aber nicht zufällig sind diese in der Regel dann auch gegen die Homo-Ehe, gegen den Dienst in den Streitkräften, das Gefängnisunwesen usw. usf.
Ein (übrigens durchaus denkbarer) russischer Homonationalismus spielt derzeit hingegen keine Rolle. Vielmehr projizieren die westlichen Homonationalismen ihre konformistischen Konzepte auf Russland als deren Gegenbild. Als ob in den USA, Deutschland, Großbritannien, Frankreich usw. alles so zum Besten stünde, dass in diesen Horten der Freiheit Winter- oder Sommerspiele jederzeit stattfinden dürften, während man den zurückgebliebenen Russen erst einmal einbläuen muss, wo Gott wohnt.
So hat etwa der britische Schauspieler und Schriftsteller Stephen Fry an Premierminister David Cameron (und das Internationale Olympische Komitee) einen Offenen Brief geschrieben, in dem er die Olympischen Spiele von 1936 erinnert und ausdrücklich die nationalsozialistische Judenverfolgung mit dem Umgang des Putin-Staates mit Homosexuellen parallelisiert. Nun, nichts ist zu dumm und lächerlich, um nicht von irgendeinem Wichtigtuer als Argument vorgebracht zu werden. Fry dekretiert: „An absolute ban on the Russian Winter Olympics of 2014 on Sochi is simply essential.“ Es wäre ihm ausdrücklich lieber, die Spiele fänden z.B. in den USA statt. Anscheind sind Obamas Drohnenkriege im Unterschied zu Putins Antihomopolitik nicht disqualifizierend. „(Putin) is making scapegoats of gay people, just as Hitler did Jews.“ Und um sein Expertentum zu belegen, hält Fry fest, dass er schon mal in Russland war, schwul und und Jude ist. Wer kann ihm da noch widersprechen? Vielleicht jemand, der weder den britischen Regierungschef — „a man for whom I have the utmost respect“ [sic!] — noch das IOC für moralische Instanzen hält.
Um es ganz klar zu sagen: Die Olympischen Spiele sind ein rein kommerzielles Spektakel, das unter der Fassade von Buntheit und Völkerfreundschaft von den wirklichen Problemen dieser Welt ablenken soll. Als wäre es nicht völlig egal, ob irgendein chemisch präparierter Bioroboter („Athlet“) höher, schneller, weiter rennt, hüpft oder rodelt, während Millionen Mitmenschen im Elend vegetieren, verhungern, an heilbaren Krankheiten krepieren oder als Opfer von Kriegen. Und kein einziger der westlichen Regierungschefs, die doch allesamt Exekutoren dieser himmelschreiend ungerechten Weltordnung sind, kann als moralisches Gegengewicht zu Putin angesehen werden. Der Kriegstreiber Cameron schon mal gar nicht. (Dass und wofür Fry ihn lobt — „you showed a determined, passionate and clearly honest commitment to LGBT rights and helped push gay marriage through both houses of our parliament in the teeth of vehement opposition from so many of your own side. For that I will always admire you“ — ist ein Musterbeispiel narzissistischer Realitätsausblendung und eine gute Grundlage für Homonationalismus.)
Dass ich westlichen Politikern (und ihren devoten Bewunderern à la Fry) das Recht abspreche, Putin, mit dem sie ansonsten prima Geschäfte machen, wegen seiner schwulenfeindlichen Politik zu kritisieren, heißt selbstverständlich nicht, dass keine Kritik erlaubt und möglich ist. Aber man sollte sich an das halten, was wirklich stattfindet.
Die derzeitige Politik der Russländischen Föderation ist das Gegenstück zur derzeitigen Politik im Staat Israel. Gleichsam „Pinksmearing“ statt „Pinkwashing“. Während man nämlich für Israel damit wirbt, dass Tel Aviv ein ganz tolles schwules Nachtleben hat, und damit von Besatzung und Siedlungsbau, Alltagsrassismus und sozialem Verfall, Staatsterror und Völkerrechtsbruch abzulenken versucht, macht man in Russland einen auf dicke Hose, indem man westlichen Standards trotzt und der neumodischer Liberalität im Umgang mit Homosexuellen die gute alte Autorität repressiver Moral entgegensetzt. In beiden Fällen sind die Schwulen und Lesben dem Staat eigentlich völlig wurscht. Eine winzige Minderheit ohne reale Macht, aber mit hohem symbolischen Potenzial. Das kann man für sich verwenden. Während man in Israel jedoch die eigene Homofreundlichkeit vor allem fürs Ausland herausstreicht (und Umfragen zufolge etwa 46 Prozent der israelischen Bevölkerung Homosexuelle für pervers halten), brüskiert man in Russland hemmungslos das Ausland und punktet lieber im Inland (wo Umfragen zufolge 38 Prozent Homosexualität für moralisch verwerflich und weitere 36 Prozent für eine psychische Krankheit halten; 39 Prozent sollen dafür sein, Homosexuelle auch ohne gegen der Willen zu „therapieren“ oder von der Gesellschaft zu isolieren und vier Prozent möchten sie gerne „liquidieren“). Keineswegs geht es in Russland also primär um „staatlich verordnete Homophobie“, vielmehr wird eine gesellschaftlich bereits vorhandene Homosexualitätsfeindschaft vom Regime populistisch genutzt.
Das ist übel. Dagegen kann und soll man etwas tun. Aber man sollte die Homosexualitätsfeindschaft nicht zum isolierten Thema machen. Es gilt, intersektionell zu denken. „Homophobie“ ist nur eine weitverbreitete kritikwürdige Einstellung, eine andere ist zum Beispiel Rassismus. Tagtäglich wird Jagd auf „Schwarzärsche“ (Menschen aus dem Kaukasus) gemacht, und mit asiatischer oder afrikanischer Herkunft muss man in Russland jederzeit sehr auf der Hut sein. Sollen Lesbenundschwule sich sagen: Was geht uns das an? Das ist schließlich kein LGBTIQ-spezifisches Problem. Wer so denkt, zeigt, dass die herrschende Homopolitik eine der weißen, bürgerlichen Konformisten ist. Und das ist sie ja wohl tatsächlich …
Wer sich über Putins Gesetz gegen „Homopropaganda“ empört und einen Boykott von Sotschi 2014 fordert, muss sich fragen lassen: Wärst Du auch noch für den Boykott, wenn das Gesetz aufgehoben würde? Wäre dann aus Deiner Sicht alles in Ordnung? Der Rest interessiert Dich nicht?
Ich meinerseits bin für einen Boykott: Aber aus den richtigen Gründen! Weil Olympische Spiele, wo immer sie stattfinden, widerlich sind. Weil Russland ein autoritär geführter, seine schwerwiegenden sozialen, ökologischen Probleme nicht einmal eingestehender, geschweige denn angehender Staat ist. Ich bin aber nicht für einen Boykott wegen des Gesetzes gegen „Homopropaganda“; das sind übrigens die organisierten russischen Schwulen (und …) auch nicht: Weil sie wohl zu Recht vermuten, dass Boykottaufrufe des Auslands ihre Situation in Russland verschlimmern. (Siehe hier.)
Darum schließe ich mich dem unter Schwulen (und …) grassierenden Protest nicht an. Und schon gar nicht, wenn ausgerechnet Sportler und Sportfunktionäre dabei zu (potenziellen) moralischen Vorbildern stilisiert werden. Dieses Getue anlässlich der Leichtathletikweltmeisterschaften in Moskau um lackierte Fingernägel und einen „lesbischen“ Kuss, der dann doch keiner war, sollte allen eine Lehre sein. Menschen, deren Lebensinhalt darin besteht, völlig sinnlose körperliche Höchstleistungen zu vollbringen, sind schwerlich geeignete Ansprechpartner für ethische und politische Themen. Ich bedaure sie, die nichts Besseres zu tun haben, und ich verabscheue die, die ihnen zujubeln und sie für „Helden“ halten. Wie hirnlos muss man sein, um jemanden dafür zu feiern, dass er seinen Körper ruiniert hat, um irgendeine belanglose Tätigkeit ein paar Hundertstelsekunden schneller als ein anderer auszuüben?
Ich boykottiere seit 47 Jahren jede Form von Sport. Ich werde also auch Sotschi 2014 boykottieren, das versteht sich von selbst. Ich werde es ausdrücklich auch deshalb tun, weil jener Ort, dessen ursprüngliche Bewohner (Sadsen, Ubychen, Schapsugen) im 19. Jahrhundert von Russen massakriert, vertrieben oder assimiliert wurden, durch die Zurüstung für die Winterspiele massiver Umweltzerstörung ausgesetzt ist. Aber ich werde nicht in das selbstgerechte Geheul jener einstimmen, die die Russländische Föderation wegen ihrer Homofeindlichkeit anklagen, aber in Ländern, die außerhalb der Touristengebiete nicht weniger schwulenfeindlich sind als Russland, gerne Urlaub machen. Oder jener, die Putin (zu Recht!) für einen autoritären Pseudodemokraten halten, aber den Machthabern des Westens dankbar zu Füßen liegen, wenn sie bloß ein paar warme Worte für ihre lieben, braven Schwuchteln finden.
Keinen Fußbreit dem Homonationalismus! Keinen Homo-Boykott gegen Sotschi! Nieder mit dem Leistungssport!
Aber auf mich wird ja wieder keiner hören …