Lieber Josef, zunächst vielen Dank für Deinen Kommentar zu meiner Glosse zum Ereignis von Abbottabad. Ich wünschte, mehr meiner Leser ließen sich hin und wieder zu Kommentierungen anregen, zumal zu solch argumentativ reich bestückten wie Deinen. Allerdings ist es nun leider so, dass ich Deine Argumente (soweit ich sie überhaupt verstehe, was zum Teil nicht sehr weit ist) für nicht stichhaltig halte. Die „logischen Paradoxien“, die Du bei mir entdecken zu können meinst, kommen, wenn überhaupt, aus meiner Sicht nur dadurch zu Stande, dass Du Prämissen einschmuggelst, die nicht meine sind, und Konklusionen ziehst, die ich ganz und gar nicht nachvollziehen kann.
Eine Reihe von Nebenaspekten werde ich im Folgenden außer Acht lassen. Etwa das Thema „Terrorgefahr“ — von der ich nie behauptet habe, sie sei ausschließlich ein „Propagandamittel“, sondern an der ich ausdrücklich die Unterscheidung von „echter oder vermeintlicher“ vorgenommen habe. So ließe sich noch manch etwas forciert wirkende Fehldeutung zurechtrücken, aber das wäre ermüdend.
Beginnen möchte ich die Auseinandersetzung mit Deiner für mich zuweilen verwirrend unklaren Kritik bei der noch vergleichsweise einfachen These „Wenn die USA (oder Israel) Unrechtsstaaten sind, dann kann man sie auch nicht im Namen einer Ethik, die Rechtsstaatlichkeit fordert, dafür kritisieren, dass sie das nicht sind.“ Warum bitte sollte das nicht möglich sein? Das kann man nicht nur, das muss man sogar, wenn die Kritik sinnvolle Kriterien haben soll. Lassen wir für einen Moment einmal des Aspekt der Staatlichkeit beiseite und betrachten bloß die Frage der Kritik am Unrecht in Namen des Rechts. Wieso kann ich einen Lügner nicht im Namen der Ehrlichkeit kritisieren, wieso einen Dieb nicht in Namen der Achtung des Eigentums, wieso ein Mörder nicht in Namen des Rechtes auf Unverletztheit und Leben? Das erschließt sich mir nicht. Das Gegenteil ist doch offensichtlich wahr: Nur unter Berufung auf die Validität genau der Normen, die er missachtet, kann man jemandes Handeln kritisieren. Worauf sonst soll die Kritik Bezug nehmen?
Du schreibst: „Wenn die USA ein Unrechtsstaat sind und die westlichen Werte, die für dich ohnehin nicht existieren und auch keinerlei ethische Substanz beinhalten, eben diese nicht repräsentieren, dann ist ihre Verletzung der rechtsstaatlichen Ethik keine, sondern Teil ihrer inneren Verfasstheit, von der du behauptest, sie ohnehin durchschaut zu haben. So why bother? Mir ist nicht nachvollziehbar, auf welchem realpolitischen Boden eine solche Debatte geführt werden könnte. Hier bekämpfen sich zwei Verbrecher (mit ungleichen Mitteln, aber das kann niemand von uns beeinflussen) und sie schießen ihre Differenzen aus. Muss uns das kümmern?“
Da kommt einiges zusammen, dass der Reihe nach beantwortet muss, auch wenn Deine Darstellung es verknüpft und verknotet. Zunächst: Ich weiß gar nicht, was „ethische Substanz“ bedeuten soll und auch nicht, was es heißen soll, dass „Werte existieren“ oder nicht existieren. Mir stellt es sich so dar: Es werden „Werte“ behauptet, die in der Praxis kaum eine oder gar keine Rolle spielen, zumindest nicht, wenn sie der „realpolitischen“ Durchsetzung des Machtwillens im Wege stehen. (Nach meinem Sprachgebrauch sind „Werte“ nicht „real“ oder irreal, sondern sie werden behauptet oder nicht behauptet und die aus ihnen abzuleitenden Normen werden eingehalten oder nicht. Etwas kann gleichzeitig ganz „real“ als „Wert“ behauptet werden, obwohl man sich in der „realen“ Praxis nicht darum schert. Was die „Substanz“ von „Werten“ sein soll, ist mir ein Rätsel.)
Kann man das — die Missachtung behaupteter „Werte“ — nun im Ernst leugnen? Willst Du etwa wirklich behaupten, dass staatliche Handeln der USA (oder Israels) sei stets ohne jeden Fehl und Tadel und verletze nie die Prinzipen, auf die es sich beruft? So naiv sollte man sich nicht stellen, meine ich.
Wenn die „innere Verfasstheit“ der USA nicht in dem besteht, was ich Deiner Meinung nach durchschaut zu haben behaupte, worin denn eigentlich dann? Durschaust Du sie denn Deinerseits nicht oder siehst Du lediglich etwas anderes? Vielleicht hindern Dich ja Deine antilinken Scheuklappen an einem ungetrübten Blick. (Nur nebenbei: Ich habe nicht die geringste Ahnung, wer oder was der „gesamte linke Politcluster“ sein soll, glaube aber nicht, das ich damit etwas zu tun habe. Du verhedderst Dich da in Deinen Ressentiments — der übliche abschüssige Weg vom Pro-Kommunismus zum Pro-Imperialismus, den schon so viele vor Dir gegangen sind … Aber das ist ein anders Thema. Ich bin jedenfalls noch nie eine unter „vielen anderen linken Stimmen“ gewesen, sondern habe immer nur in meinem eigenen Namen gesprochen, darum möchte ich bitte auch nur für das kritisiert werden, was ich tatsächlich geäußert habe, und nicht für das, was andere damit vielleicht oder vielleicht auch nicht gemeint hätten, wenn sie es so oder anders geäußert hätten.)
Worauf Deine Frage nach dem „realpolitischen Boden“ eigentlich zielt, ist mir völlig unklar. Soll das ein zynisches Abfinden mit den Verhältnissen ermöglichen? Und wieso überhaupt „Debatte“? Ich debattiere nicht, ich stelle fest. Man wird Mord ja wohl auch dann Mord nennen dürfen und Lüge Lüge, wenn das die Mörder und Lügner nicht beeindruckt. Ich bin nicht die Polizei und kein Tribunal. Ich äußere nur meine begründete Meinung. Und freie Meinungsäußerung soll ja, so hörte ich immer wieder, in demokratischen Systemen dazu beitragen können, Politik zu beeinflussen … (Man muss nicht glauben, in einer perfekten Demokratie zu leben, um Aspekte demokratischer Systeme gutheißen zu können.)
Du schreibst: „Rechtsstaatlichkeit, in der jemand anklagt und jemand verurteilt wird, muss auf einem Konsens basieren.“ Verstehe ich nicht. Wessen Konsens? Des Anklängers und Richters mit dem Angeklagten und Verurteilten? Macht das Sinn? Anklagen und verurteilen kann man immer, rechtsstaatlich ist es dann, wenn es auf Grund von geltendem Recht geschieht. Welches Recht gilt und gelten kann (inwiefern nämlich etwa Gesetze unwirksam, weil Grundrechte verletzend, sein können), ist unter Umständen strittig. Meinst Du das? Dann wäre unstrittige Gültigkeit der „Konsens“? Aber wer konsentiert denn da mit wem? Muss etwa der Angeklagte der Rechtsordnung zustimmen, nach der ihm der Prozess gemacht wird, damit dieser rechtsstaatlichen Prinzipien folgt? Das wäre mir neu. Ich habe noch nie gehört, dass das jemand fordert.
Um es ganz klar zu sagen: Rechtsstaatlichkeit besteht doch wohl vor allem darin, dass ein Staat sich in der Praxis an die Grundsätze hält, deren Gültigkeit er in seiner „Theorie“ (also seinem offiziellen Selbstverständnis) anerkennt. Die USA haben das meiner Meinung nach im Falle Bin Ladens nicht getan. Zwischen den Grundsätzen der Verfassung der Vereinigten Staaten einerseits und Obamas Mordbefehl andererseits besteht ein Widerspruch. Zu dieser Beurteilung kann ich übrigens kommen, ganz egal, welche Meinung Bin Laden zur Rechtsordnung der USA oder zu „westlichen Werten“ hatte.
„Die USA halten Bin Laden und seine Terroristenkumpane nicht für Subjekte auf rechtsstaatlichem (oder völkerrechtlichem) Terrain, sondern gehen davon aus, dass es hier gar kein Recht gibt. Du sagst genau dasselbe: die USA haben keinen Begriff von Rechtsstaatlichkeit, also warum sollen sie sich an etwas halten, was sie ohnehin durch bloße Existenz suspendiert haben.“ Den ersten Satz verstehe ich noch halbwegs, danach nichts mehr. Was soll das heißen, dass es (für wen?) im Verhältnis zum Terrorismus bzw. Terroristen „kein Recht“ gibt? (Nie im Leben habe ich „dasselbe“ behauptet.) Ist hier denn etwa nicht von Straftaten und Straftätern die Rede? Hat also Bin Laden oder wer auch immer hinter all dem (echten oder vermeintlichen) „Terrorismus“ steckt, gar nichts verbrochen? Warum wollte man ihn dann eigentlich, wie behauptet wurde, verhaften?
Was genau meint die Formulierung „Subjekte auf (…) Terrain“? Wenn das heißen soll, dass die USA versucht haben, „ungesetzliche Kombattanten“ aus den durch Grundrechten vor staatlicher Willkür Geschützten herauszudefinieren, so trifft es leider zu. Eine menschenverachtende Vorgangsweise, die Du doch nicht etwa billigst? Das Motto eines Rechtsstaates kann ja wohl nicht sein: „Wir halten uns an die Gesetze, außer wenn wir uns nicht daran halten.“ Oder: „Menschenrechte gelten für jeden außer für unsere Feinde.“
Du stellst im Übrigen, lieber Josef, meine Argumentation auch an diesem Punkt völlig falsch dar. Ich habe nie behauptet, die USA hätten „keinen Begriff von Rechtsstaatlichkeit“ und hätten „durch bloße Existenz“ irgendetwas „suspendiert“. (Was immer das heißt.) Ich meine vielmehr dies: Es werden Ansprüche erhoben, die in der Praxis an entscheidenden Stellen nicht erfüllt werden. Das ist aber kein Betriebsunfall, sondern gehört zum System. Das Erheben von derartigen Ansprüchen — die hin und wieder ja sogar erfüllt werden! — stellt ganz wesentlich auch eine Ablenkung davon dar, dass es in der Hauptsache um das Beanspruchte gar nicht geht. Und wieso, ich frage es nochmals, soll ich jemanden oder etwas nicht dafür kritisieren können, dass er oder es die Ansprüche, die er oder es erhebt, nicht erfüllt? Der Lügner hebt durch seine Lüge ja nicht die Wahrheit auf oder auch nur die Verpflichtung zur Ehrlichkeit, der Dieb beseitigt nicht das Privateigentum oder auch nur das Recht darauf und der Mörder nimmt zwar ein Leben, aber seinem Opfer nicht das Recht auf Leben und Unversehrheit, auch wenn es dieses Recht eklatant miss achtet hat.
Folgte man Deiner Argumentation, so dürfte ich — jetzt müssen mal wieder die Nazis ran — die Millionen von Morden im Rahmen der „Endlösung“ gar nicht als Unrecht betrachten, weil der Unrechtsstaat „Großdeutsches Reich“ ja durch seine „Existenz“ das Recht schon „suspendiert“ hätte. Selbstverständlich habe ich solchen Unsinn nie gesagt oder gedacht. Dass Unrecht von einem Staat systematisch betrieben wird, rechtfertigt es doch nicht! Ob die Nazis einen Begriff von Rechtsstaatlichkeit hatten oder nicht, spielt doch bei der Beurteilung des staatlichen (oder vom Staat bewirkten) Handelns des „Dritten Reiches“ keine Rolle! Mir ist völlig unverständlich, wie Du dazu kommst, mir eine solche absurde Position zuzuschreiben.
Plausibler ist, was nicht überrascht, die Gegenposition: „Würde man also die ethische Dimension eines politischen Mordes tatsächlich ernst nehmen, dann müsste die Schlussfolgerung lauten: die USA (und Israel, ich halte mich hier an die parenthetische Konvention deines Arguments) sind Rechtsstaaten, die diese Regeln verletzt haben. Die Verletzung dieser Regeln ist überhaupt ein Zeichen dafür, dass sie existieren und dass ihre Substanz keineswegs unscharf ist.“ Dem kann ich nun weitgehend zustimmen. (Auch wenn ich nicht weiß, was eine unscharfe Substanz sein soll.) Nichts anderes habe ich gesagt, wenn auch zugegebenermaßen nicht in diesen Worten. Zu Deiner Formulierung möchte ich nämlich unbedingt den entscheidenden Zusatz machen, dass ein Rechtsstaat, der wiederholt und systematisch seine eigenen rechtsstaatlichen Grundsätze missachtet, ja missachten muss, um seine favorisierte Politik durchzusetzen, besser „Unrechtsstaat“ genannt werden sollte.
Falls es Dich jetzt überrascht oder gar verwirrt, dass ich beide Aussagen „Die USA sind ein Rechtsstaat“ und „Die USA sind kein Rechtsstaat“ unter gewissen Bedingungen gleichermaßen akzeptiere, dann verweise ich auf den Unterschied zwischen einer polemischen Glosse und einem politikwissenschaftlichen oder rechtshistorischen Traktat. So oder so scheint mir zu gelten: Rechtsstaatlichkeit und staatliches Unrecht verhalten sich nicht wie A und Nicht-A zueinander. Ein Staat kann sehr wohl beides sein, Rechtsstaat und Unrechtsstaat. Mag sein, dass die Bezeichnung „Unrechtsstaat“ manchem überpointiert, wenn nicht gar verfehlt scheint, wer sich aber auf meinen Gedankengang einlässt, wird feststellen können, dass die provokante Vokabel nicht grundlos gesetzt wurde. (Ein, wie ich finde, erhellendes Beispiel für eine bizarre Konstellation, in der sich Rechtsstaatlichkeit und offenkundiges Unrecht kreuzen und amalgamieren, war die berüchtigte Lex Van der Lubbe. Die Nazis wollten den von ihnen für den Reichstagsbrand verantwortlich gemachten Marinus van der Lubbe einfach „liquidieren“, die Juristen bestanden auf einem geregelten Verfahren. Der Kompromiss: Man hielt sich an den Buchstaben eines schnell erlassenen Gesetzes, das den wichtigen Rechtgsgrundsatz nulla poene sine lege verletzte, und hängte van der Lubbe für eine Straftat, für die zum Zeitpunkt der Tatverübung noch gar nicht die Todesstrafe galt. — Nein, die USA sind nicht identisch mit dem Dritten Reich. Auch der Staat Israel nicht. Falls das jetzt wieder kommt.)
Jeder moderne Staat ist ein bisschen Rechtsstaat und ein bisschen Unrechtsstaat. Was überwiegt, ist von Fall zu Fall zu entscheiden. Es gibt jedoch Staaten, bei denen dauerhaft in entscheidenden Fällen das Unrecht überwiegt, ihren genau gegenteiligen Versicherungen und ihrer massiver Propaganda zum Trotz. Sofern nun solche Staaten sich zu Verteidigern des Rechts oder zur verfolgten Unschuld stilisieren, sollte man ihnen ihre Unrechtspraktiken mindestens so sehr vorhalten wie den üblichen Verdächtigen (Nordkorea, Iran, Sudan usw. usf.)
„Man kann die Liquidierung Bin Ladens nur dann als ein Problem sehen, wenn man akzeptiert, dass westliche Werte wie Demokratie, Meinungsfreiheit und Menschenrechte tatsächlich von genau diesen Staaten verkörpert werden, aber es keinen Souverän gibt, der sie so einfordern kann.“ Ich muss mich leider wiederholen: Ich verstehe das nicht. Vor allem das mit dem Souverän nicht. Für ein ordentliches Gerichtsverfahren bedarf es weder der ominösen „Werte“ noch des mysteriösen „Souveräns“. Es ist auch nichts spezifisch Westliches daran. Geordnete Verfahren in Rechtshändeln gibt es seit Menschengedenken, nämlich seit Menschen einander an Normen messen und zwischen willkürlicher und geregelter Sanktion von Normverletzungen unterscheiden und nur letztere billigen.
Aber nicht nur das ist am Abknallen („Liquidieren“ ist so eine stalinistische Vokabel, kommt mir vor) Bin Ladens problematisch, dass es Recht und Gesetz außer Acht lässt, sondern dass es ausgerechnet von dem Staat vollzogen wird, der immer wieder lauthals beansprucht, wie kein anderer für rule of law, also die Bindung der Ausübung der Staatsgewalt an die Gesetze und den Schutz vor willkürlicher Ausübung der Staatsgewalt zu stehen.
Dieser eben genannte Doppelgrundsatz (eine Art Minimaldefinition von Rechtsstaatlichkeit) ist im Kern weder ein, wie Du es nennst, „abstraktes Prinzip“, noch etwas Westliches. Mir ist nicht bekannt, dass es je irgendeine Kultur gegeben hätte, die völlig willkürliche Gewaltausübung für rechtens und an Normen gebundene für Unrecht gehalten hätte. (Wie diese Normen jeweils aussahen und wie es Machthabern trotz dieser Grundsätze gelang, ihre „Realpolitik“ durchzusetzen, ist ein anderes Thema.)
Aber anscheinend reden wir beim Thema „Rechtsstaat“ aneinander vorbei. Du schreibst: „Der Rechtsstaat ist die politische Sphäre, die abstrakte Prinzipien einklagbar macht, auf der Grundlage eines Konsenses der Gleichen. Der Souverän, der dies ordnen könnte muss unsichtbar bleiben, damit der Konsens überhaupt zustande kommt. Diesen (Welt-)Souverän forderten paradoxerweise Bin Laden und die islamistischen Ideologien“ usw. usf. Ich verstehe kein Wort. Was meinst Du damit? Wer für den Rechtstaat ist, ist für den Islamismus? Wer gegen den Islamismus sein will, muss den Rechtsstaat ablehnen? Ich kann nur vermuten, dass die Vokabeln „Konsens“ und „Souverän“ da auf einen Theorie-Hintergrund anspielen, den ich nicht erkenne und in Bezug auf den ich also auch nicht argumentieren kann. Vielleicht erklärst Du mir noch mal mit anderen Worten, worauf Du da hinauswillst.
Dieser Versuch hier ging jedenfalls schief, denn ich verstehe nur Bahnhof: „Man kann die Ermordung Bin Ladens nur dann ernsthaft als Ermordung betrachten, wenn man zu gesteht, dass die US-Truppen, die ihn beseitigt haben, auf dem Boden einer territorial begrenzten Ethik auf jene Räume zugreifen, die erst von ihr besetzt werden müssen.“ Wie begrenzt man eine Ethik territorial? Soll das heißen: In Pakistan (oder Guantanamo Bay) handeln wir nicht nach den Grundsätzen, auf die wir uns sonst berufen? Ich würde das einfach Doppelmoral oder Scheinheiligkeit nennen. Wieso man diese „zugestehen“ muss, um eine widerrechtliche Tötung eine widerrechtliche Tötung nennen zu können, erschließt sich mir nicht.
„Ob wie du schreibst ‘keine echte Kriegshandlung vorliegt’ (was genau die Anschläge und Massenmordambitionen der islamistischen Verbrecherbanden anderes sind, sollte man mir einmal erklären), dann kann dies nur vor einem Hintergrund debattiert werden, der die Staaten und Bevölkerungen des Westens als legitime Träger eines universalistischen Rechtssystems akzeptiert.“ Hier verunklart wohl auch die Syntax den Gedankengang („ob … dann …“).
Zunächst: Krieg kann selbstverständlich als beliebiges Etikett auf alles gepappt werden, was irgendwie mit Gewalt zu tun hat. Dann herrscht auch schon mal auf Schulhöfen Krieg. Nach internationalem Recht jedoch unterliegen Kriegshandlungen einem gewissen Regelwerk, zu dessen Einhaltung sich meines Wissens auch die USA verpflichtet haben. („Keine echte Kriegshandlung“ bezog sich in meinem Text erkennbar auf den Einsatz der Navy Seals; dass „Terrorismus“ per definitionem keine Kriegshandlung ist, werde ich hier nicht weiter erläutern.) Wie nun also? Befinden sich die USA mit Pakistan im Krieg? Mit al-Quaida? Bei Bedarf mit dem Rest der Welt? Man wird sich schon entscheiden müssen: War die Tötung in Abbottabad nun eine militärische Operation, ein Quasi-Polizeieinsatz oder eine „Liquidation“? Und dann: Wenn Abbottabad eines Nachts plötzlich (und vorübergehend?) zum rechtsfreien Raum wurde, woher nahmen die USA dabei eigentlich das Recht, das Recht dort und dann auszusetzen? Ist souverän, wer darüber verfügt, wo und wann geltendes Recht gilt und wo und wann nicht? Ist, wer souverän ist, immer im Recht? Was ist dann überhaupt noch „Recht“?
Weiters: Welcher Logik folgt der Gedanke, „die Staaten und Bevölkerungen des Westens“ müssten als „legitime Träger eines universalistischen Rechtssystems“ anerkannt werden? Entweder ist etwas westlich oder es ist universell. Beides geht nicht. Es sei denn, Universalismus hieße nichts anderes als Imperialismus, also: Durchsetzung eines Großmachtwillens mit Gewalt. Genaus das hatte ich ja aber geschrieben, dass der Westen in Wahrheit (nämlich in seiner wesentlichen Praxis, nicht in seinen hehren Ansprüchen) für „Gewalt“ und „Willkür“ steht und nicht für „Freiheit“ und „Demokratie“. (Man kann freilich, rhetorisch ist ja fast alles möglich, in orwellesker Manier „Freiheit“ mit „Gewaltherrschaft“ und „Demokratie“ mit „Willkürherrschaft“ gleichsetzen …)
Dass ausgerechnet Hochwürden Lamberti von Dir zum Kronzeugen westlicher Weltherrschaft gemacht wird, scheint mir absurd. Hätte ich ihn so verstanden, hätte ich ihn nicht zitiert. Mir scheint, man kann der Verantwortung vor Gott und den Menschen nur durch entschiedenen Antiimperialismus gerecht werden. Mord ist böse, Unterdrückung ist böse, Ausbeutung ist böse, Verdummung ist böse. Also ist die Politik der USA (und Israels) nicht gut …
Fazit: Die mir unterstellten „Paradoxien“ sind wohl nur Deine eigenen, lieber Josef. Du identifizierst „westliche Werte“ und „Universalität“ und hältst den Rechtsstaat offensichtlich für eine westliche Besonderheit. Ich halte die tatsächliche politische Praxis „des Westens“ im Wesentlichen für brutalen Partikularismus, das Streben nach Recht und Billigkeit (auch und gerade in Gemeinwesen) hingegen für universell — wenn auch für kulturell verschieden ausgeprägt. Während ich darum den Mord von Abbottabad sowohl nach allgemeinen wie auch speziell nach von den USA an anderer Stelle selbst offiziell anerkannten Kriterien als solchen bezeichnen kann und folglich als Unrecht betrachte, scheinst Du die Politik der USA für die ideale Verkörperung rechtsstaatlicher Grundsätze zu halten und billigst — trotzdem? deswegen? — die „territoriale begrenzte Ethik“ gewaltsamer „Realpolitik“. Meine Argumentation scheint mir konsistent und ethisch vertretbar. Deine hingegen …
Vielleicht findest Du ja noch die Zeit, mir das, was mir an Deinen Ausführungen unklar ist, noch einmal zu erklären. Unsere grundsätzlichen Auffassungsunterschiede und unterschiedlichen Beurteilungen werden zwar auch dann vermutlich bleiben, aber wir verstehen dann vielleicht besser, warum wir einander nicht verstehen. Herzlichst, Stefan
Eine Reihe von Nebenaspekten werde ich im Folgenden außer Acht lassen. Etwa das Thema „Terrorgefahr“ — von der ich nie behauptet habe, sie sei ausschließlich ein „Propagandamittel“, sondern an der ich ausdrücklich die Unterscheidung von „echter oder vermeintlicher“ vorgenommen habe. So ließe sich noch manch etwas forciert wirkende Fehldeutung zurechtrücken, aber das wäre ermüdend.
Beginnen möchte ich die Auseinandersetzung mit Deiner für mich zuweilen verwirrend unklaren Kritik bei der noch vergleichsweise einfachen These „Wenn die USA (oder Israel) Unrechtsstaaten sind, dann kann man sie auch nicht im Namen einer Ethik, die Rechtsstaatlichkeit fordert, dafür kritisieren, dass sie das nicht sind.“ Warum bitte sollte das nicht möglich sein? Das kann man nicht nur, das muss man sogar, wenn die Kritik sinnvolle Kriterien haben soll. Lassen wir für einen Moment einmal des Aspekt der Staatlichkeit beiseite und betrachten bloß die Frage der Kritik am Unrecht in Namen des Rechts. Wieso kann ich einen Lügner nicht im Namen der Ehrlichkeit kritisieren, wieso einen Dieb nicht in Namen der Achtung des Eigentums, wieso ein Mörder nicht in Namen des Rechtes auf Unverletztheit und Leben? Das erschließt sich mir nicht. Das Gegenteil ist doch offensichtlich wahr: Nur unter Berufung auf die Validität genau der Normen, die er missachtet, kann man jemandes Handeln kritisieren. Worauf sonst soll die Kritik Bezug nehmen?
Du schreibst: „Wenn die USA ein Unrechtsstaat sind und die westlichen Werte, die für dich ohnehin nicht existieren und auch keinerlei ethische Substanz beinhalten, eben diese nicht repräsentieren, dann ist ihre Verletzung der rechtsstaatlichen Ethik keine, sondern Teil ihrer inneren Verfasstheit, von der du behauptest, sie ohnehin durchschaut zu haben. So why bother? Mir ist nicht nachvollziehbar, auf welchem realpolitischen Boden eine solche Debatte geführt werden könnte. Hier bekämpfen sich zwei Verbrecher (mit ungleichen Mitteln, aber das kann niemand von uns beeinflussen) und sie schießen ihre Differenzen aus. Muss uns das kümmern?“
Da kommt einiges zusammen, dass der Reihe nach beantwortet muss, auch wenn Deine Darstellung es verknüpft und verknotet. Zunächst: Ich weiß gar nicht, was „ethische Substanz“ bedeuten soll und auch nicht, was es heißen soll, dass „Werte existieren“ oder nicht existieren. Mir stellt es sich so dar: Es werden „Werte“ behauptet, die in der Praxis kaum eine oder gar keine Rolle spielen, zumindest nicht, wenn sie der „realpolitischen“ Durchsetzung des Machtwillens im Wege stehen. (Nach meinem Sprachgebrauch sind „Werte“ nicht „real“ oder irreal, sondern sie werden behauptet oder nicht behauptet und die aus ihnen abzuleitenden Normen werden eingehalten oder nicht. Etwas kann gleichzeitig ganz „real“ als „Wert“ behauptet werden, obwohl man sich in der „realen“ Praxis nicht darum schert. Was die „Substanz“ von „Werten“ sein soll, ist mir ein Rätsel.)
Kann man das — die Missachtung behaupteter „Werte“ — nun im Ernst leugnen? Willst Du etwa wirklich behaupten, dass staatliche Handeln der USA (oder Israels) sei stets ohne jeden Fehl und Tadel und verletze nie die Prinzipen, auf die es sich beruft? So naiv sollte man sich nicht stellen, meine ich.
Wenn die „innere Verfasstheit“ der USA nicht in dem besteht, was ich Deiner Meinung nach durchschaut zu haben behaupte, worin denn eigentlich dann? Durschaust Du sie denn Deinerseits nicht oder siehst Du lediglich etwas anderes? Vielleicht hindern Dich ja Deine antilinken Scheuklappen an einem ungetrübten Blick. (Nur nebenbei: Ich habe nicht die geringste Ahnung, wer oder was der „gesamte linke Politcluster“ sein soll, glaube aber nicht, das ich damit etwas zu tun habe. Du verhedderst Dich da in Deinen Ressentiments — der übliche abschüssige Weg vom Pro-Kommunismus zum Pro-Imperialismus, den schon so viele vor Dir gegangen sind … Aber das ist ein anders Thema. Ich bin jedenfalls noch nie eine unter „vielen anderen linken Stimmen“ gewesen, sondern habe immer nur in meinem eigenen Namen gesprochen, darum möchte ich bitte auch nur für das kritisiert werden, was ich tatsächlich geäußert habe, und nicht für das, was andere damit vielleicht oder vielleicht auch nicht gemeint hätten, wenn sie es so oder anders geäußert hätten.)
Worauf Deine Frage nach dem „realpolitischen Boden“ eigentlich zielt, ist mir völlig unklar. Soll das ein zynisches Abfinden mit den Verhältnissen ermöglichen? Und wieso überhaupt „Debatte“? Ich debattiere nicht, ich stelle fest. Man wird Mord ja wohl auch dann Mord nennen dürfen und Lüge Lüge, wenn das die Mörder und Lügner nicht beeindruckt. Ich bin nicht die Polizei und kein Tribunal. Ich äußere nur meine begründete Meinung. Und freie Meinungsäußerung soll ja, so hörte ich immer wieder, in demokratischen Systemen dazu beitragen können, Politik zu beeinflussen … (Man muss nicht glauben, in einer perfekten Demokratie zu leben, um Aspekte demokratischer Systeme gutheißen zu können.)
Du schreibst: „Rechtsstaatlichkeit, in der jemand anklagt und jemand verurteilt wird, muss auf einem Konsens basieren.“ Verstehe ich nicht. Wessen Konsens? Des Anklängers und Richters mit dem Angeklagten und Verurteilten? Macht das Sinn? Anklagen und verurteilen kann man immer, rechtsstaatlich ist es dann, wenn es auf Grund von geltendem Recht geschieht. Welches Recht gilt und gelten kann (inwiefern nämlich etwa Gesetze unwirksam, weil Grundrechte verletzend, sein können), ist unter Umständen strittig. Meinst Du das? Dann wäre unstrittige Gültigkeit der „Konsens“? Aber wer konsentiert denn da mit wem? Muss etwa der Angeklagte der Rechtsordnung zustimmen, nach der ihm der Prozess gemacht wird, damit dieser rechtsstaatlichen Prinzipien folgt? Das wäre mir neu. Ich habe noch nie gehört, dass das jemand fordert.
Um es ganz klar zu sagen: Rechtsstaatlichkeit besteht doch wohl vor allem darin, dass ein Staat sich in der Praxis an die Grundsätze hält, deren Gültigkeit er in seiner „Theorie“ (also seinem offiziellen Selbstverständnis) anerkennt. Die USA haben das meiner Meinung nach im Falle Bin Ladens nicht getan. Zwischen den Grundsätzen der Verfassung der Vereinigten Staaten einerseits und Obamas Mordbefehl andererseits besteht ein Widerspruch. Zu dieser Beurteilung kann ich übrigens kommen, ganz egal, welche Meinung Bin Laden zur Rechtsordnung der USA oder zu „westlichen Werten“ hatte.
„Die USA halten Bin Laden und seine Terroristenkumpane nicht für Subjekte auf rechtsstaatlichem (oder völkerrechtlichem) Terrain, sondern gehen davon aus, dass es hier gar kein Recht gibt. Du sagst genau dasselbe: die USA haben keinen Begriff von Rechtsstaatlichkeit, also warum sollen sie sich an etwas halten, was sie ohnehin durch bloße Existenz suspendiert haben.“ Den ersten Satz verstehe ich noch halbwegs, danach nichts mehr. Was soll das heißen, dass es (für wen?) im Verhältnis zum Terrorismus bzw. Terroristen „kein Recht“ gibt? (Nie im Leben habe ich „dasselbe“ behauptet.) Ist hier denn etwa nicht von Straftaten und Straftätern die Rede? Hat also Bin Laden oder wer auch immer hinter all dem (echten oder vermeintlichen) „Terrorismus“ steckt, gar nichts verbrochen? Warum wollte man ihn dann eigentlich, wie behauptet wurde, verhaften?
Was genau meint die Formulierung „Subjekte auf (…) Terrain“? Wenn das heißen soll, dass die USA versucht haben, „ungesetzliche Kombattanten“ aus den durch Grundrechten vor staatlicher Willkür Geschützten herauszudefinieren, so trifft es leider zu. Eine menschenverachtende Vorgangsweise, die Du doch nicht etwa billigst? Das Motto eines Rechtsstaates kann ja wohl nicht sein: „Wir halten uns an die Gesetze, außer wenn wir uns nicht daran halten.“ Oder: „Menschenrechte gelten für jeden außer für unsere Feinde.“
Du stellst im Übrigen, lieber Josef, meine Argumentation auch an diesem Punkt völlig falsch dar. Ich habe nie behauptet, die USA hätten „keinen Begriff von Rechtsstaatlichkeit“ und hätten „durch bloße Existenz“ irgendetwas „suspendiert“. (Was immer das heißt.) Ich meine vielmehr dies: Es werden Ansprüche erhoben, die in der Praxis an entscheidenden Stellen nicht erfüllt werden. Das ist aber kein Betriebsunfall, sondern gehört zum System. Das Erheben von derartigen Ansprüchen — die hin und wieder ja sogar erfüllt werden! — stellt ganz wesentlich auch eine Ablenkung davon dar, dass es in der Hauptsache um das Beanspruchte gar nicht geht. Und wieso, ich frage es nochmals, soll ich jemanden oder etwas nicht dafür kritisieren können, dass er oder es die Ansprüche, die er oder es erhebt, nicht erfüllt? Der Lügner hebt durch seine Lüge ja nicht die Wahrheit auf oder auch nur die Verpflichtung zur Ehrlichkeit, der Dieb beseitigt nicht das Privateigentum oder auch nur das Recht darauf und der Mörder nimmt zwar ein Leben, aber seinem Opfer nicht das Recht auf Leben und Unversehrheit, auch wenn es dieses Recht eklatant miss achtet hat.
Folgte man Deiner Argumentation, so dürfte ich — jetzt müssen mal wieder die Nazis ran — die Millionen von Morden im Rahmen der „Endlösung“ gar nicht als Unrecht betrachten, weil der Unrechtsstaat „Großdeutsches Reich“ ja durch seine „Existenz“ das Recht schon „suspendiert“ hätte. Selbstverständlich habe ich solchen Unsinn nie gesagt oder gedacht. Dass Unrecht von einem Staat systematisch betrieben wird, rechtfertigt es doch nicht! Ob die Nazis einen Begriff von Rechtsstaatlichkeit hatten oder nicht, spielt doch bei der Beurteilung des staatlichen (oder vom Staat bewirkten) Handelns des „Dritten Reiches“ keine Rolle! Mir ist völlig unverständlich, wie Du dazu kommst, mir eine solche absurde Position zuzuschreiben.
Plausibler ist, was nicht überrascht, die Gegenposition: „Würde man also die ethische Dimension eines politischen Mordes tatsächlich ernst nehmen, dann müsste die Schlussfolgerung lauten: die USA (und Israel, ich halte mich hier an die parenthetische Konvention deines Arguments) sind Rechtsstaaten, die diese Regeln verletzt haben. Die Verletzung dieser Regeln ist überhaupt ein Zeichen dafür, dass sie existieren und dass ihre Substanz keineswegs unscharf ist.“ Dem kann ich nun weitgehend zustimmen. (Auch wenn ich nicht weiß, was eine unscharfe Substanz sein soll.) Nichts anderes habe ich gesagt, wenn auch zugegebenermaßen nicht in diesen Worten. Zu Deiner Formulierung möchte ich nämlich unbedingt den entscheidenden Zusatz machen, dass ein Rechtsstaat, der wiederholt und systematisch seine eigenen rechtsstaatlichen Grundsätze missachtet, ja missachten muss, um seine favorisierte Politik durchzusetzen, besser „Unrechtsstaat“ genannt werden sollte.
Falls es Dich jetzt überrascht oder gar verwirrt, dass ich beide Aussagen „Die USA sind ein Rechtsstaat“ und „Die USA sind kein Rechtsstaat“ unter gewissen Bedingungen gleichermaßen akzeptiere, dann verweise ich auf den Unterschied zwischen einer polemischen Glosse und einem politikwissenschaftlichen oder rechtshistorischen Traktat. So oder so scheint mir zu gelten: Rechtsstaatlichkeit und staatliches Unrecht verhalten sich nicht wie A und Nicht-A zueinander. Ein Staat kann sehr wohl beides sein, Rechtsstaat und Unrechtsstaat. Mag sein, dass die Bezeichnung „Unrechtsstaat“ manchem überpointiert, wenn nicht gar verfehlt scheint, wer sich aber auf meinen Gedankengang einlässt, wird feststellen können, dass die provokante Vokabel nicht grundlos gesetzt wurde. (Ein, wie ich finde, erhellendes Beispiel für eine bizarre Konstellation, in der sich Rechtsstaatlichkeit und offenkundiges Unrecht kreuzen und amalgamieren, war die berüchtigte Lex Van der Lubbe. Die Nazis wollten den von ihnen für den Reichstagsbrand verantwortlich gemachten Marinus van der Lubbe einfach „liquidieren“, die Juristen bestanden auf einem geregelten Verfahren. Der Kompromiss: Man hielt sich an den Buchstaben eines schnell erlassenen Gesetzes, das den wichtigen Rechtgsgrundsatz nulla poene sine lege verletzte, und hängte van der Lubbe für eine Straftat, für die zum Zeitpunkt der Tatverübung noch gar nicht die Todesstrafe galt. — Nein, die USA sind nicht identisch mit dem Dritten Reich. Auch der Staat Israel nicht. Falls das jetzt wieder kommt.)
Jeder moderne Staat ist ein bisschen Rechtsstaat und ein bisschen Unrechtsstaat. Was überwiegt, ist von Fall zu Fall zu entscheiden. Es gibt jedoch Staaten, bei denen dauerhaft in entscheidenden Fällen das Unrecht überwiegt, ihren genau gegenteiligen Versicherungen und ihrer massiver Propaganda zum Trotz. Sofern nun solche Staaten sich zu Verteidigern des Rechts oder zur verfolgten Unschuld stilisieren, sollte man ihnen ihre Unrechtspraktiken mindestens so sehr vorhalten wie den üblichen Verdächtigen (Nordkorea, Iran, Sudan usw. usf.)
„Man kann die Liquidierung Bin Ladens nur dann als ein Problem sehen, wenn man akzeptiert, dass westliche Werte wie Demokratie, Meinungsfreiheit und Menschenrechte tatsächlich von genau diesen Staaten verkörpert werden, aber es keinen Souverän gibt, der sie so einfordern kann.“ Ich muss mich leider wiederholen: Ich verstehe das nicht. Vor allem das mit dem Souverän nicht. Für ein ordentliches Gerichtsverfahren bedarf es weder der ominösen „Werte“ noch des mysteriösen „Souveräns“. Es ist auch nichts spezifisch Westliches daran. Geordnete Verfahren in Rechtshändeln gibt es seit Menschengedenken, nämlich seit Menschen einander an Normen messen und zwischen willkürlicher und geregelter Sanktion von Normverletzungen unterscheiden und nur letztere billigen.
Aber nicht nur das ist am Abknallen („Liquidieren“ ist so eine stalinistische Vokabel, kommt mir vor) Bin Ladens problematisch, dass es Recht und Gesetz außer Acht lässt, sondern dass es ausgerechnet von dem Staat vollzogen wird, der immer wieder lauthals beansprucht, wie kein anderer für rule of law, also die Bindung der Ausübung der Staatsgewalt an die Gesetze und den Schutz vor willkürlicher Ausübung der Staatsgewalt zu stehen.
Dieser eben genannte Doppelgrundsatz (eine Art Minimaldefinition von Rechtsstaatlichkeit) ist im Kern weder ein, wie Du es nennst, „abstraktes Prinzip“, noch etwas Westliches. Mir ist nicht bekannt, dass es je irgendeine Kultur gegeben hätte, die völlig willkürliche Gewaltausübung für rechtens und an Normen gebundene für Unrecht gehalten hätte. (Wie diese Normen jeweils aussahen und wie es Machthabern trotz dieser Grundsätze gelang, ihre „Realpolitik“ durchzusetzen, ist ein anderes Thema.)
Aber anscheinend reden wir beim Thema „Rechtsstaat“ aneinander vorbei. Du schreibst: „Der Rechtsstaat ist die politische Sphäre, die abstrakte Prinzipien einklagbar macht, auf der Grundlage eines Konsenses der Gleichen. Der Souverän, der dies ordnen könnte muss unsichtbar bleiben, damit der Konsens überhaupt zustande kommt. Diesen (Welt-)Souverän forderten paradoxerweise Bin Laden und die islamistischen Ideologien“ usw. usf. Ich verstehe kein Wort. Was meinst Du damit? Wer für den Rechtstaat ist, ist für den Islamismus? Wer gegen den Islamismus sein will, muss den Rechtsstaat ablehnen? Ich kann nur vermuten, dass die Vokabeln „Konsens“ und „Souverän“ da auf einen Theorie-Hintergrund anspielen, den ich nicht erkenne und in Bezug auf den ich also auch nicht argumentieren kann. Vielleicht erklärst Du mir noch mal mit anderen Worten, worauf Du da hinauswillst.
Dieser Versuch hier ging jedenfalls schief, denn ich verstehe nur Bahnhof: „Man kann die Ermordung Bin Ladens nur dann ernsthaft als Ermordung betrachten, wenn man zu gesteht, dass die US-Truppen, die ihn beseitigt haben, auf dem Boden einer territorial begrenzten Ethik auf jene Räume zugreifen, die erst von ihr besetzt werden müssen.“ Wie begrenzt man eine Ethik territorial? Soll das heißen: In Pakistan (oder Guantanamo Bay) handeln wir nicht nach den Grundsätzen, auf die wir uns sonst berufen? Ich würde das einfach Doppelmoral oder Scheinheiligkeit nennen. Wieso man diese „zugestehen“ muss, um eine widerrechtliche Tötung eine widerrechtliche Tötung nennen zu können, erschließt sich mir nicht.
„Ob wie du schreibst ‘keine echte Kriegshandlung vorliegt’ (was genau die Anschläge und Massenmordambitionen der islamistischen Verbrecherbanden anderes sind, sollte man mir einmal erklären), dann kann dies nur vor einem Hintergrund debattiert werden, der die Staaten und Bevölkerungen des Westens als legitime Träger eines universalistischen Rechtssystems akzeptiert.“ Hier verunklart wohl auch die Syntax den Gedankengang („ob … dann …“).
Zunächst: Krieg kann selbstverständlich als beliebiges Etikett auf alles gepappt werden, was irgendwie mit Gewalt zu tun hat. Dann herrscht auch schon mal auf Schulhöfen Krieg. Nach internationalem Recht jedoch unterliegen Kriegshandlungen einem gewissen Regelwerk, zu dessen Einhaltung sich meines Wissens auch die USA verpflichtet haben. („Keine echte Kriegshandlung“ bezog sich in meinem Text erkennbar auf den Einsatz der Navy Seals; dass „Terrorismus“ per definitionem keine Kriegshandlung ist, werde ich hier nicht weiter erläutern.) Wie nun also? Befinden sich die USA mit Pakistan im Krieg? Mit al-Quaida? Bei Bedarf mit dem Rest der Welt? Man wird sich schon entscheiden müssen: War die Tötung in Abbottabad nun eine militärische Operation, ein Quasi-Polizeieinsatz oder eine „Liquidation“? Und dann: Wenn Abbottabad eines Nachts plötzlich (und vorübergehend?) zum rechtsfreien Raum wurde, woher nahmen die USA dabei eigentlich das Recht, das Recht dort und dann auszusetzen? Ist souverän, wer darüber verfügt, wo und wann geltendes Recht gilt und wo und wann nicht? Ist, wer souverän ist, immer im Recht? Was ist dann überhaupt noch „Recht“?
Weiters: Welcher Logik folgt der Gedanke, „die Staaten und Bevölkerungen des Westens“ müssten als „legitime Träger eines universalistischen Rechtssystems“ anerkannt werden? Entweder ist etwas westlich oder es ist universell. Beides geht nicht. Es sei denn, Universalismus hieße nichts anderes als Imperialismus, also: Durchsetzung eines Großmachtwillens mit Gewalt. Genaus das hatte ich ja aber geschrieben, dass der Westen in Wahrheit (nämlich in seiner wesentlichen Praxis, nicht in seinen hehren Ansprüchen) für „Gewalt“ und „Willkür“ steht und nicht für „Freiheit“ und „Demokratie“. (Man kann freilich, rhetorisch ist ja fast alles möglich, in orwellesker Manier „Freiheit“ mit „Gewaltherrschaft“ und „Demokratie“ mit „Willkürherrschaft“ gleichsetzen …)
Dass ausgerechnet Hochwürden Lamberti von Dir zum Kronzeugen westlicher Weltherrschaft gemacht wird, scheint mir absurd. Hätte ich ihn so verstanden, hätte ich ihn nicht zitiert. Mir scheint, man kann der Verantwortung vor Gott und den Menschen nur durch entschiedenen Antiimperialismus gerecht werden. Mord ist böse, Unterdrückung ist böse, Ausbeutung ist böse, Verdummung ist böse. Also ist die Politik der USA (und Israels) nicht gut …
Fazit: Die mir unterstellten „Paradoxien“ sind wohl nur Deine eigenen, lieber Josef. Du identifizierst „westliche Werte“ und „Universalität“ und hältst den Rechtsstaat offensichtlich für eine westliche Besonderheit. Ich halte die tatsächliche politische Praxis „des Westens“ im Wesentlichen für brutalen Partikularismus, das Streben nach Recht und Billigkeit (auch und gerade in Gemeinwesen) hingegen für universell — wenn auch für kulturell verschieden ausgeprägt. Während ich darum den Mord von Abbottabad sowohl nach allgemeinen wie auch speziell nach von den USA an anderer Stelle selbst offiziell anerkannten Kriterien als solchen bezeichnen kann und folglich als Unrecht betrachte, scheinst Du die Politik der USA für die ideale Verkörperung rechtsstaatlicher Grundsätze zu halten und billigst — trotzdem? deswegen? — die „territoriale begrenzte Ethik“ gewaltsamer „Realpolitik“. Meine Argumentation scheint mir konsistent und ethisch vertretbar. Deine hingegen …
Vielleicht findest Du ja noch die Zeit, mir das, was mir an Deinen Ausführungen unklar ist, noch einmal zu erklären. Unsere grundsätzlichen Auffassungsunterschiede und unterschiedlichen Beurteilungen werden zwar auch dann vermutlich bleiben, aber wir verstehen dann vielleicht besser, warum wir einander nicht verstehen. Herzlichst, Stefan
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