Mittwoch, 30. Juni 2010

Brecht hätte Gauck gewählt

Die „Linke“ hat es also geschafft: Christian Wulff ist von der Bundesversammlung im dritten Wahlgang zum Bundespräsidenten gewählt worden. Bei der „Linken“ hält man es schon für einen Erfolg, dass es nicht im ersten geschah. Doch das ist bloß Ätschi-bätschi-Mentalität und nicht gestaltungswillige Politik. Es ist bei der „Linken“ eben wie bei Linken so oft: Wo sie pragmatisch sein sollten, reagieren sie ideologisch, und wo sie überzeugungstreu sein sollten, verhalten sie sich machtpolitisch. Der Verlust an Ansehen und Autorität, den Kommentatoren der Merkel-Westerwelle-Regierung nach der wenig schmeichelhaft ausgefallenen Präsidentenkür zuschreiben, bedeutet nicht im mindesten eine andere Politik. Den politischen Gegner alt aussehen zu lassen, macht einen selbst auch noch nicht jünger und ändert nichts an den realen Verhältnissen.
Selbstverständlich ist nicht gesagt, dass eine Entscheidung der „Linken“ für Joachim Gauck diesem eine Mehrheit gebracht hätte. Doch rechnet man spekulationshalber zu den 499 Stimmen, die dieser im erste Wahlgang erhielt, die 126 dazu, die auf Lucretia Jochimsen entfielen, kommt man auf 625 — genauso viele, wie Wulff im dritten Wahlgang bekam (was übrigens immer noch 19 weniger sind als die 644 Wahlleute von CDU, CSU und FDP). Es wäre eine satte, eine absolute Mehrheit gewesen.
Aber von Seiten der „Linken“ hat man Gauck von vornherein für nicht wählbar erklärt. Damit lief man SPD und Grünen voll ins Messer, wenn man diesen denn das raffinierte Kalkül unterstellen darf, bewusst einen für die „Linke“ unwählbaren, aber weit ins bürgerliche Lager hinein Sympathien und, wie sich gezeigt hat, auch Stimmen findenden Kandidaten ausgesucht zu haben. Wenn Rotgrün das wollte, Abweichler aus Union und FDP anlocken und die „Linke“ abschrecken, ging das Kalkül voll auf. Es hat Wulff nicht verhindert, aber Merkel und Westewelle lädiert. Und, das zeigen schon die gereizte Auftritte führender Funktionäre vor dem dritten Wahlgang, auch die „Linke“ als politikunfähig vorgeführt.
Warum Merkel Gauck nicht wollte, ist recht unklar. Wie durch die viel zu wenig beachtete „SMS-Affäre“ herauskam, hatte ihr Gabriel im Namen von SPD und Grünen Gauck schon vorgeschlagen, als über Ursula von der Leyen noch spekuliert wurde und Wulff noch lange nicht als Merkels Kandidat durchgesetzt war. Merkel hätte also durchaus einen überparteilichen, in der Bundesversammlung theoretisch mit mindestens 1.104 Stimmen (über 88 Prozent) wählbaren Kandidaten haben können. Ein überparteilicher Konsens, ein Signal an die nicht wahlberechtigte Zivilgesellschaft, dass man auch mal über den Tellerrand blicken und ausnahmsweise keinen Partei-Apparatschik oder sonstigen Technokraten ins höchste Amt im Staat hieben wolle. Stattdessen entschied sich Merkel für den ebenso farblosen wie rabenschwarzen Wulff. Außer dass damit nach Koch und Rüttgers der dritte CDU-Landesfürst als innerparteilicher Konkurrent der Kanzlerin ausfällt, hat sie nichts gewonnen.
Gewonnen haben SPD und Grüne. Schwarzgelb wurde gedemütigt, die „Linke“ ausgegrenzt. Symbolische Politik, die weitab jeder Realpolitik stattfindet. wenn’s um diese geht, wird man sich im Zweifelsfall ohnehin wieder mit Konservativen und Liberalen ins Bett legen.
Gewinnen können hätte die „Linke“. Sie hat eine historische Chance verpatzt. Sie hätte von vornherein anders auf den rotgrünen Kandidaten reagieren müssen, ihn zumindest als Möglichkeit akzeptieren können, statt die überflüssige, weil rein symbolische Kandidatur von Frau Jochimsen aus dem Hut zu zaubern. Damit hätte sie der SPD den Wind aus den Segeln genommen und die Kommunistenfresser gerade dadurch das Fürchten gelehrt, dass sie dem Antikommunisten Gauck eine realistische Möglichkeit einräumte, Bundespräsident zu werden. Die Stimmenthaltung im dritten Wahlgang ist Realitätsenthaltung. Man muss Gauck ja nicht mögen, aber als Wahlfrau oder Wahlmann der „Linken“ zu sagen: Ist mir doch egal, ob es Wulff oder Gauck wird, ist selbstgewählte Entpolitisierung. Da hat man es wieder einmal gemacht, wie es Linke so oft machen: Man behält, vor die Wahl gestellt, lieber mit seiner Kritik wirkungslos Recht, als am Kritisierten wirklich etwas zu verändern, um den Preis, an der Kritik abstriche zu machen. Politik ist ein schmutziges Geschäft. Wer rein bleiben will, sollte sich ein anderes Betätigungsfeld suchen.
Wie sagte schon Brecht: „Versinke in Schmutz, umarme den Schlächter, aber ändre die Welt, sie braucht es!“ Ganz so arg muss man es ja nicht treiben, aber zu ein bisschen realitätsbezogener Strategie (statt symbolorientiertem Taktieren) könnte man sich schon herablassen. Brecht hätte den Unterschied verstanden. Ich vermute, er hätte Gauck gewählt.

Dienstag, 29. Juni 2010

Mit IQ-Hintergrund

Der innenpolitische Sprecher der Berliner CDU, Peter Trapp, wird , so erfahre ich andernorts, in Deutschlands führendem Intelligenzblatt mit den Worten zitiert: „Wir müssen bei der Zuwanderung Kriterien festlegen, die unserm Staat wirklich nützen. Maßstab muss außer einer guten Berufsausbildung und fachlichen Qualifikation auch die Intelligenz sein. Ich bin für Intelligenztests bei Einwanderern.“ Nicht nur der Vorschlag, sondern auch die Empörung darüber ist rassistisch. Der Vorschlag, weil er Zuwanderungswillige gegenüber bereits Zugewanderten oder Eingesessenen diskriminiert, da diese sich solch fragwürdiger Testerei anscheinend nicht unterziehen sollen. Die Empörung, weil sie insgeheim impliziert, getestete Zuwanderungswillige schnitten schlechter ab der eingesessene Durchschnitt.
Als Migrant in vierter Generation (Österreich) bzw. Temporärmigrant (Deutschland) kann ich nur sagen: Immer her mit Euren Tests, Ihr Hintergrundslosen! Ihr werdet schon sehen, was Ihr davon habt. Herauskommen wird nämlich — vorausgesetzt, der Test ist fair und berücksichtigt kulturelle Differenzen und wird in der Muttersprache der Testees exekutiert —, dass Migranten und Migrantinnen überdurchschnittlich intelligent sind. Die Dummen bleiben nämlich zu Hause.

Sonntag, 27. Juni 2010

Fleischers Doderer

Heimito von Doderer war eine selbstgefällige Drecksau. Das ist es jedenfalls, was man der Darstellung der Person des Schriftstellers durch dessen Biographen Wolfgang Fleischer entnehmen muss, wenn man denn dieser Darstellung Glauben schenkt. Doch leider ist es mit der Glaubwürdigkeit der Biographie nicht weit her. Zwar ist gar nicht zu leugnen, dass Fleischer umfangreiches Material zusammengetragen und ausgewertet hat, in gewissem Sinne kann „Das verleugnete Leben“ — allerdings vor allem faute de mieux — sogar als Standardwerk gelten. Doch was Fleischer an Kenntnissen aufbietet, droht von der Art und Weise seiner Darbietung entwertet oder wenigstens in bedenkliches Licht gesetzt zu werden, denn der Ton macht bekanntlich die Musik, und Fleischers Grundton ist der der Gehässigkeit.
Fleischers Schreibstil ist dabei zähflüssig und unklar, der Satzbau umständlich, oft verdreht, nicht selten von Parenthesen regelrecht zerhackt. Die Austriazismen halten sich zwar im Rahmen des Ortsüblichen, aber außer sehr vielen sinnstörenden falschen Konjunktiven werden erstaunlicherweise auch oft falsche Präpositionen geboten. Ein Lektorat hätte dem Buch also gut bekommen — und falls es wider Erwarten doch eines gab: dann eben ein besseres. (Ein winziges Beispiel: Dass derselbe Ort einmal als „Norrköping“ und dann zwei Zeilen weiter als „Norköping“ erscheint, darf dem Autor eines so umfangreichen Werkes entgehen. Einem Leser, gar einem professionellen, nicht.)
Erst nach 500 Seiten kommt Fleischer ausdrücklich auf sich und seine Rolle als Doderers „Sekretär“ zu sprechen. Und seltsamerweise wird gerade auf diesen letzten 30 Seiten der Tonfall plötzlich weicher und fast versöhnlich. Der junge Fleischer war von Doderer spontan als „secretarius“ adoptiert worden und wurde zum Gehilfen und vor allem Vertrauten Doderers letzter Jahre. Dass er sich dieser Vertrauensstellung auch nach Doderers Tod würdig erwiesen hätte, wird man angesichts der drei Jahrzehnten später erschienenen Biographie nicht mehr sagen können.
Was dem Biographen am Biographierten missfällt, und das ist Vieles, wird in Fleischers Text, wie bereits erwähnt, im Grundton der Gehässigkeit vorgetragen. Die Infamie steckt dabei schon im Titel: Wer hat Fleischer denn eigentlich zum Richter bestellt, ob Doderer sein Leben verleugnet hat oder einfach nur den bei vielen — und wohl allen großen — Schriftstellern zu findenden Wunsch hegte, als Person hinter seinem Werk zurückzutreten, nach diesem und nicht als jene beurteilt zu werden?
Ob Fleischer seine penetranten moralischen Missfallensäußerungen zustehen, ist eine Frage, eine andere, was gewisse Einblicke in Doderers allerprivateste Vorlieben irgendeinen Leser überhaupt angehen. Der Mensch Doderer hat nach wie vor Anrecht auf unverletzte Intimsphäre, die niemanden etwas angeht; über Doderer, die Figur der Literaturgeschichte — und nur mit der hätte man sich öffentlich zu befassen —, erfährt man durchs Waschen von Schmutzwäsche nichts Relevantes. Wen die Privatperson Doderer wann und wo angebunden und ausgepeitscht hat, trägt zum Verständnis Dodererscher Texte überhaupt nichts bei. Das ist Schlüssellochguckerei aus der Domestikenperspektive, kein Beitrag zur Germanistik.
Mit Fleischers Machwerk ist eine große Chance vertan. Ein Doderer einst so Naher hätte, wenn er denn als Mensch und Autor das Zeug dazu gehabt hätte, eigentlich Besseres hervorbringen sollen. Völlig unklar bleibt, was Doderer Fleischer eigentlich angetan haben muss, damit dieser ihn über den Tod hinaus und nach so, langer Zeit so sehr verabscheut. Vielleicht ist ja auch bei der Arbeit am biographischen Material im einst dem Biographierten womöglich allzu nahen Biographen einiges vorgegangen, was er nicht verarbeiten konnte. Doch wenn Fleischer sich außerstande sah, diese Biographie mit der nötigen inneren Distanz und sachlichen Neutralität zu schreiben, hätte er redlicherweise das Vorhaben abbrechen müssen. Das tat er leider nicht. Herausgekommen ist eine enorme Peinlichkeit. Der Biberfleiß der Materialanhäufung entschädigt nicht für den in vielfacher Hinsicht schlechten Stil. Letztlich bleibt nur zu hoffen, dass das eigentliche Standardwerk zu Doderers Leben und Werken erst noch erscheint. „Die“ Biographie zu „dem“ Doderer liegt jedenfalls, anders als Fleischers Untertitel glauben machen möchte, nicht vor.
Recht anschauenswert ist übrigens der von Fleischer ein Jahr früher als die Biographie herausgegebene Bildband, in dem man die Begleittexte ja einfach überlesen kann ...

 
Wolfgang Fleischer: Das verleugnete Leben. Die Biographie des Heimito von Doderer, Wien 1996 (Kremayr & Scheriau)
 
Wolfgang Fleischer: Heimito von Doderer. Das Leben. Das Umfeld des Werks. In Fotos und Dokumentationen, Wien 1995 (Kremayr & Scheriau)

Sonntag, 20. Juni 2010

Aufgeschnappt (bei Motombo Umbokko)

Wenn der homo sapiens kein Migrant gewesen wäre, wärt ihr alle jetzt im Kongo.

Dave Davis alias Motombo Umbokko (Musiker und Spaßmacher)

Samstag, 19. Juni 2010

2027 oder später

Wenn es im Eingangssatz eines am 18. Juni 2010 veröffentlichten „Telepolis“-Artikels heißt: „Vor über hundert Jahren im Jahr 1926 (…)“, dann bestätigt sich, was schon oft zu ahnen war — manche Beiträger jenes Online-Magazines leben in ihrer eigenen Welt, in der man zumindest das Jahr 2027 schreibt. Oder überhaupt eine andere Zeitrechnung hat. Oder aber einfach keine Zeit, einen Text noch einmal durchzulesen, bevor man ihn ins Netz stellt. Im Zeitalter der Wegwerfkommunikation sind all die sprachlichen Fehlleistungen, mit denen man bei „Telepolis“ die Leser quält, zwar wohl Standard. Eine Beschädigung der aus verschiedenen Gründen oft lesenswerten Texte sind sie trotzdem.

Montag, 7. Juni 2010

Böse Mutti

Kohl wurde zum Kanzler der Einheit stilisiert, Schröder galt als Genosse der Bosse und als der Autokanzler und Merkel scheint Anspruch auf den Titel Kanzlerin der Kinderarmut zu erheben.
Als die sogenannte Finanzkrise ausgerufen wurde und sich abzeichnete, wie die westlichen Regierungen, darunter auch das Merkel-Regime, darauf reagieren würden, muss in den diversen Chefetagen Feierstimmung ausgebrochen sein. Denn eines war klar: Wenn man bereit war, den Banken für ihre selbstverschuldeten Verluste Millarden in den Hintern zu blasen und grundmaroden Volkswirtschafen Abermilliarden hinterherzuwerfen, dann würden nur allzu bald wunderbare Zeiten für weiteren Sozialabbau anbrechen. Wozu hätte der Kapitalismus denn sonst seine Krisen, wenn nicht dazu, sich immer wieder neu zu organisieren und damit menschenunwürdige Lebensverhältnisse zu perpetuieren.
Denn wer hat, dem wird gegeben, und er wird im Überfluss haben; wer aber nicht hat, dem wird auch noch weggenommen, was er hat. Steht so wörtlich im Matthäusevangelium. Ist zwar vermutlich nicht so gemeint, wie es jetzt von den beiden Regierungsparteien mit dem C im Namen im Verein mit den Liberalen praktiziert wird (und im Zweifelsfall auch von Rotgrün praktiziert würde), bringt aber diese menschenverachtende Praxis gut auf den Punkt.
Kindern und Jugendlichen kann man nun eigentlich wirklich nicht vorwerfen, sie würden sich vor Arbeit drücken und lägen der Gesellschaft auf der Tasche. Transferleistungen für sozial benachteiligte Kinder und Jugendliche sollten zu den fraglosen Selbstverständlickeiten gehören.
Doch was tut die Merkel-Regierung, wenn plötzlich" das Geld wieder einmal nicht reicht und, nach den Stützungs- und Bürgschaftsorgien der letzten Monate ganz dringend der Haushalt konsolidiert werden muss? Man streicht Hartz-IV-Empfängern das Elterngeld. Sollen die doch sehen, wie sie ihre Blagen sattkriegen!
In Deutschland leben mehrere Millionen Kinder in Armut. Jeder vierte Jugendliche zwischen 16 und 24 ist arm oder von Armut bedroht. Eine Schande für eines der reichsten Länder der Welt. Merkel hat nichts getan, diese Schande zu bekämpfen. Im Gegenteil. Ihre Politik ist darauf ausgerichtet, Armut im Allgemeinen und Kinderarmut im Besonderen zu fördern. Ich würde dieser Frau nicht die Hand geben, wenn ich ihr begegnen müsste. Und Sie?