Freitag, 1. Januar 2010

Die Liebe zum Großen Bruder

George Orwells „1984” und die Frage nach der Macht

Seit anderthalb Jahrzehnten* ist es eigentümlich still geworden um George Orwells berühmten Roman „Nineteen Eighty-Four“(1). Es ist, als hätte das Verstreichen des Jahres 1984, ohne dass es zur weltweiten Machtergreifung totalitärer Parteien und zur endgültigen Aufteilung der Welt unter drei Superstaaten gekommen wäre, den vermeintlichen Prophezeiungen Orwells jeden Reiz und jede Relevanz genommen. Ein halbes Jahrzehnt später tat dann der Untergang des osteuropäischen Realsozialismus ein Übriges, um jede Warnung vor der Bedrohung von Freiheit und Menschenwürde durch „oligarchischen Kollektivismus” als obsolet erscheinen zu lassen.
Allerdings bekommt es dem Orwellschen Text durchaus, wenn er nicht mehr als die Schreckensvision einer unvermeidlich eintretenden Zukunft gelesen wird, als die er nie gedacht war, sondern als zeitbedingte Auseinandersetzung mit bestimmten Entwicklungen einerseits und als grundsätzliche Analyse dessen, was es heißt, ein Mensch unter den Bedingungen einer Totalisierung des Politisch zu sein, andererseits. Wenn es sich bei „1984“(2), wie sein Autor(3) meinte, um „eine Utopie in Romanform“(4) handelt, dann gewiss nicht im Sinne einer präzisen Prognose oder eines futurologischen Schauermärchens. Vielmehr ging es George Orwell, dessen Anspruch es stets war, „in künstlerischer Form politisch zu schreiben“(5), bei der Niederschrift von „Nineneteen Eighty-Four” nach eigenem Bekunden darum, „die geistigen Implikationen des Totalitarismus mit den Mitteln der Parodie aufzuzeigen“ (nach Crick, S. 738).
Bevor ich mich nun näher mit dem, was Orwell die „geistigen Implikationen” nennt, befasse, scheint es mir ratsam, auf das Reizwort „Totalitarismus“ näher einzugehen, um zu verhindern, dass manche Leser oder Leserinnen dieser marxistischen Zeitschrift* spätestens an dieser Stelle die Lektüre meines Textes abbrechen.
Wer das nicht will, findet den ganzen Text unter:

1 Kommentar:

  1. Lieber Stefan!
    Den Hinweis auf Orwells gespaltenes Verhältnis zum Totalitarismus fand ich sehr wichtig, weil wie du mir sicher zustimmen wirst, "1984" zwar als Reaktion auf Stalinismus und Hilerismus gedeutet wird, das Buch aber im Wesentlichen eine Kritik der bolschewistischen Sowjetunion darstellt. Die Shoah zum Beispiel fehlt als Marker oder auch nur als Anspielung in seinem Werk völlig. Das fällt mir jetzt gerade so ein. Damit konnte oder wollte er sich nicht auseinandersetzen, und vielleicht war das bis zu seinem Tod 1949 auch noch nicht in seiner ganzen Dimension für ihn sichtbar.Wie auch immer, "1984" sollte man und kann man eigentlich nur als Stalinismuskritik verstehen, das die Erfahrungen aus dem spanischen Bürgerkrieg in eine Analyse der Parteigewalten und Staatstheorien der kommunistischen Sowjetunion verwandelte. Das brillante "Animal Farm" ist dabei ein Werk von eigenem Rang, das Orwells scharfsinnigen Blick für die Geschichte Russlands offenbart. Der rurale Charakter der Revolution trägt für mich dazu bei, den Prozess der Ideologie (im althusserschen Sinn jetzt) als große marxistische Vision wahrzunehmen, wie sich der Terror als Arbeitsethos vermittelt und den Wechsel von einer feudalen Agentur in ein organisiertes Chaos der Verfolgung nachvollzieht.
    Dabei erscheint mir Orwells Position im Namen eines abstrakten "Sozialismus" dessen "Missbrauch" anzuprangern als größte Schwäche von "1984". Wenn diese großartige Textzeile "Der Zweck der Macht ist die Macht." ernst gemeint ist, dann kann man dem Stalinismus nicht durch eine Referenz auf den "guten Sozialismus" begegnen, sondern dann ist der Sozialismus der Sowjetunion der einzig mögliche Sozialismus, der in dieser Form an die Macht gelangen konnte. Althusser hat diesen Zusammenhang systematisch durch gedacht, als er die stalinistische Ideologie als Kritik der hegelianischen Dialektik formulierte. Orwell hat ja mit dem Begriff des Zwiedenkens ebenfalls eine interessante Variante davon entwickelt.

    Ich werd mich noch weiter dazu äußern, wenn ich mehr Zeit hab.

    Grüße, Jurek Molnar

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