Die dauernde Berufung auf das Grundgesetz als eine Art Wertekanon
erscheint mir absurd. Als ob die deutsche Verfassung eine Heilige
Schrift wäre, ein sakrosanktes Offenbarungsdokument. In Wahrheit hat
man das Grundgesetz schon zigmal umgeschrieben, je nach politischem
Bedarf. Stimmt, es gibt Artikel, die ein bestimmter Artikel für
unabänderlich erklärt (dieser Artikel selbst gehört allerdings
nicht dazu …), aber das betrifft lediglich „die Gliederung des
Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der
Gesetzgebung“ und die in den Artikeln 1 bis 20 formulierten
Grundrechte. Dass diese Grundrechte auch eingeschränkt werden
können, sagt der Gesetzestext selbst, ihre Geltung ist also nicht
absolut. Der wunderschöne Artikel 1, der mit der unantastbaren Würde
des Menschen und der Verpflichtung der Staatsgewalt auf deren Achtung
und Schutz, ist bemerkenswerte Literatur, spielt aber in der
politischen Realität bekanntlich keine Rolle. Sonst gäbe es kein
Hartz IV, keine „Flüchtlingspolitik“, keine Waffenexporte, keine
Castingshows, keinen Kapitalismus. Welchen Sinn hat also die Berufung
aufs Grundgesetz? Ebenso gut könnte man sich auf die Europäische
Menschenrechtskonvention oder die Allgemeine Erklärung der
Menschenrechte berufen. Dass man das nicht tut, sondern das durch
Kohl & Co. Gesamtdeutsch konservierte westdeutsche
Verfassungsprovisorium wie eine heilige Kuh durch die Debatten
scheucht, verweist darauf, dass man eben doch an ein deutsches Wesen
glaubt, an dem, wenn schon doch nicht die Welt, so doch Deutschland
genesen solle. Solcher Verfassungspatriotismus ist auch nur ein
Nationalismus light.
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