Mittwoch, 3. Mai 2017

Das geheiligte Grundgesetz

Die dauernde Berufung auf das Grundgesetz als eine Art Wertekanon erscheint mir absurd. Als ob die deutsche Verfassung eine Heilige Schrift wäre, ein sakrosanktes Offenbarungsdokument. In Wahrheit hat man das Grundgesetz schon zigmal umgeschrieben, je nach politischem Bedarf. Stimmt, es gibt Artikel, die ein bestimmter Artikel für unabänderlich erklärt (dieser Artikel selbst gehört allerdings nicht dazu …), aber das betrifft lediglich „die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung“ und die in den Artikeln 1 bis 20 formulierten Grundrechte. Dass diese Grundrechte auch eingeschränkt werden können, sagt der Gesetzestext selbst, ihre Geltung ist also nicht absolut. Der wunderschöne Artikel 1, der mit der unantastbaren Würde des Menschen und der Verpflichtung der Staatsgewalt auf deren Achtung und Schutz, ist bemerkenswerte Literatur, spielt aber in der politischen Realität bekanntlich keine Rolle. Sonst gäbe es kein Hartz IV, keine „Flüchtlingspolitik“, keine Waffenexporte, keine Castingshows, keinen Kapitalismus. Welchen Sinn hat also die Berufung aufs Grundgesetz? Ebenso gut könnte man sich auf die Europäische Menschenrechtskonvention oder die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte berufen. Dass man das nicht tut, sondern das durch Kohl & Co. Gesamtdeutsch konservierte westdeutsche Verfassungsprovisorium wie eine heilige Kuh durch die Debatten scheucht, verweist darauf, dass man eben doch an ein deutsches Wesen glaubt, an dem, wenn schon doch nicht die Welt, so doch Deutschland genesen solle. Solcher Verfassungspatriotismus ist auch nur ein Nationalismus light.

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